Vergesslichkeit ist nicht, dessen man sich schämen müsste, es gibt Wichtigeres!

Von Wernerbremen

Eine Witwe war seit den frühen Morgenstunden schon auf den Beinen, um auf dem Wochenmarkt ein zu kaufen, was sie und ihr Kind zum Leben brauchen würden.
Gegen Mittag, als die Sonne hoch am Himmel stand, hatte sie alle Einkäufe und Erledigungen gemacht und war bereits auf dem Rückweg in das abgelegene Dorf.
Je näher sie aber ihrem Ziel, dem vertrauten Zuhause, kam, um so besorgter schaute sie drein.
In ihren Gedanken kamen Fragen nicht zur Ruhe:
Hatte sie etwas vergessen, was sie hätte für das Geburtstagsmahl ihres Sohnes besorgen müssen? Aus Liebe wollte sie es doch besonders ordentlich gestalten.
Mit aufgeregten Fingern suchte sie erst nach dem Mehl für den Kuchen... bald später nach dem Obst...
In ihrer Hand wurde der Korb immer schwerer. So blieb sie bald darauf stehen und stellte ihn ab.
Im Schatten des Baumes vor der Brücke, die hinein ins Dorf führte, wühlte sie lange in ihrem Korb und durchdachte alle Einkäufe noch einmal genau. ...
So würde sie sich zwar nicht den erneut langen Rückweg auf den Markt oder den beschwerlichen Marsch nach Hause sparen... aber vielleicht den Spott der Dorfbewohner und deren Gelächter über ihre Vergesslichkeit im Alter.
Schließlich, als sie sich dessen gewiss war, dass alle Dinge im Korb waren, die auf der Liste geschrieben standen, hob sie den Korb an und machte sich mit
Mut und Zuversicht bereit, die Brücke zu überqueren hinein ins Dorf.
Etwa auf halber Strecke aber stockte sie.
Plötzlich verließ sie der Mut. Und wenn sie doch etwas vergessen hatte?... Die Gedanken marterten ihre Seele.
Also kehrte die Witwe verunsichert über sich selbst wieder um und suchte Schutz im Schatten des Baumes.
Wieder begann sie, die geschriebene Liste vor sich aus zu breiten... als ein Wanderer an ihr vorüber ging.
„Was tut ihr da, liebe Frau?“ fragte er nach einiger Beobachtung.
Die Witwe schämte sich ihrer Unsicherheit und Fehlerhaftigkeit wegen, doch schließlich fasste sie Vertrauen zu jenem freundlichen Fremden, der in etwa ihrem Alter war.
„Ich muss sicher sein, dass ich nichts vergessen habe, bevor ich ins Dorf hinüber gehe.“
Verwundert über diese Antwort, setzte sich der Fremde neben die Witwe auf die Bank.
„Liebe Frau, ich möchte Dir helfen, damit Du zur Ruhe und hinüber in Dein Dorf kommst, ganz ohne Angst und Scham.“
Die Witwe hielt in ihrer Geschäftigkeit inne und schaute fragend auf den seltsam ruhigen Wegbegleiter.

„Ich werde mit Dir all diese Dinge durchzählen und die Liste an mich nehmen. Du musst sie mir nur einen Moment geben ...“
Erschöpft willigte die Frau bald auf dieses Angebot der Hilfe ein, denn inzwischen war fast schon Sonnenuntergang.

Der fremde Mann zählte, rechnete, zeichnete ab und nickte am Ende schon nach kurzer Zeit:
„Ja, liebe Frau, Du hast wahrlich alles im Korb, was Du brauchst.“
Voller
Freude und Erleichterung lächelte die Frau zum ersten Mal an diesem so anstrengenden Tag. Ihre Augen glänzten und ihre Hände drückten dankbar die Hand des fremden Helfers, während sie voller Mut und Zuversicht endlich wieder auf die Brücke ins Dorf zuging.
Festen Schrittes betrat sie die hölzernen Stufen und ging mit einer Hand um den Korb und der anderen abgestützt am Brückengeländer in Richtung des Dorfes.

Auf der Hälfte aber kamen ihr erneut Zweifel.
Sie warf einen Blick auf den vom Wanderer kontrollierten Zettel.
Konnte man dem Fremden aber vertrauen?
Woher sollte sie denn wissen, ob er es richtig kontrolliert hatte? Und wenn er ein Mensch wäre, der sich einen Spaß mit der Vergesslichkeit und Fehlerhaftigkeit anderer Menschen machte...?
Sie blieb erneut stehen.
Blickte sich unsicher um und wollte gerade wieder ihren Fuß zur Flucht unter den Baum setzen...

als hinter ihr die warme Stimme des Mannes vom anderen Ende der Brücke rief:
„Ich habe alles kontrolliert. Kehre nicht zurück, sondern gehe nach vorn.“
Wieder Vertrauen gefasst, ging die Witwe weitere Schritte in Richtung des Dorfes.
Kurz vor dem Tor aber, als sie noch einmal hinüber an das andere Ufer des Flusses schaute, konnte sie den Begleiter nicht mehr sehen. Er war weggegangen, bevor sie das Dorf erreicht hatte?
Das konnte nur bedeuten, dass er aus schlechtem Gewissen geflohen war, bevor sie bemerken könne, dass doch etwas im Korb fehlte... Ihre Gedanken überschlugen sich und so beschloss sie, den ganzen Weg hinüber noch einmal
zurückzugehen, um an jenem Platz unter dem Baum...
„Nein, vertraue- ich bin hier! Du, liebe Frau, wenn Du Dir selbst schon nicht vertrautest, als wir uns am Mittag begegneten... und auch dem Geschriebenen auf Deinem Zettel nicht vertraust...auf dem ich alle Dinge nachzählte und wog... so vertraue meinen Worten jetzt, denn es ist spät und Dein Sohn wartet längst zu Hause. Geh nach vorn und nicht zurück,“ flüsterte er ihr vertraut und nah ins Ohr...
Als die Witwe wenig später endlich das Dorf erreicht hatte, lief ihr besorgter Sohn ihr entgegen:

„Wo warst Du nur so lange, Mutter? Ich habe mir solche Sorgen um Dich gemacht.“
Noch bevor die Frau dem Sohn erklären konnte, wie unsicher sie sich auf dem Weg vom Markt gewesen war... und wie sehr sie sich doch für ihre vermeintliche Schwäche der Vergesslichkeit schämte... sah er sie an und weinte Tränen:

„Mutter, und wenn wir nichts zu essen gehabt hätten, so wäre es ja doch ein schöner Geburtstag! Denn wichtiger als alle Dinge ist, dass Du da bist, meine Mutter!“

Wie oft gehen wir verunsichert falsche Wege oder richtige Wege wieder zurück oder gar überhaupt nicht?

Wie viele Menschen wohl lieber zum „Baum“ zurückkehren statt in das vertraute „Dorf“ nach Hause?
Dabei aber könnten wir doch wissen, dass es wichtigere Dinge gibt, als Nahrung, Kleidung oder tägliche Sorgen... und dass es „im Dorf“ Menschen gibt, die über unsere Fehler und Schwächen längst hinwegschauen und sich freuen, UNS zu sehen.
„Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe- diese drei; die Größte aber von ihnen ist die Liebe.“

Quelle: Corinna Adam