… König wachte mit dem nebulösen Kopfschmerz, einen Schleier aus Dornenkronen durchbrochen zu haben, auf, fasste sich an die klatschnass geschwitzte Stirn, setzte sich im Bett auf und gebar mit langsam nach oben wandernden Lidern das Zimmer: ein Kirchenraum mit einem Altar aus Sperrholz, darauf die alte und vor sich hin rostende Schreibmaschine, ein geflügeltes Vieh aus einem Burroughs-Roman, daneben einträchtig ruhend ein Ohrensessel, der auf einen österreichischen Schriftsteller, einen Berserker, Schimpftiraden absondernden Großkampfautor, zu warten schien, aber es täuschte, es täuschte auch König, der mit halb geöffneten Augen in den Raum starrte und nicht gewahr wurde, wo er war und wer er war, der sich mit beiden Händen im Laken verkrallte, als gälte es hier einen Geburtsakt zu vereiteln …
Mit diesem Satz beginnt der Roman „Libelleninferno“ von Lars Kropp. Die Hauptperson König erwacht und vom Moment des Erwachens begleiten wir ihn durch seinen Tag, der durch die literarische Kraft Kropps zugleich auch ein Gang durch die Weltgeschichte und die Weltliteratur wird. König will Autor werden. Er hat gerade sein Abitur bestanden, weiß aber noch nicht recht, was er studieren will oder könnte. Und umso mehr er sich mit seiner Zukunft auseinander setzt, umso heftiger werden seine Traumfluchten, die sich mit dem gelebten Leben nicht zufrieden geben wollen. König steigert sich in eine Existenz als Dichter hinein, bis er schließlich am Schlusspunkt des Romans im Elfenbeinturm seines erträumten Landes einschläft. Es wird ein ewiger Schlaf. Ein Dornröschenschlaf. Ein Todesschlaf.
König ist Kropp. Und Kropp ist König. Man liest es jeder Stelle des Romans ab. Das Ende erschreckt, weiß man um das Ende des Autors, der sich 1976 vor einen Zug warf.
… König tauchte ab, hinab, versenkte sich mit Myriaden Bildern, die ihm bleischwer am Kopf und in den Gliedern hingen, Bilder aus Kindheit und Jugend, Bilder aus Schmerz und Liebe, Bilder, die ihm den Urmenschen zeigten, verhakt mit seinen schiefen Klauen im Weib des Nächsten, Bilder, die ihm Weltraumreisende zeigten, die sich mit ihren Kunstzähnen im Weib nebenan verkeilten, Zähne hier und Zähne dort und schon bald schien ihm die Geschichte der Welt eine Geschichte der Zahnmedizin zu sein, weil die Zähne das wahre Gesicht des Menschen sind und waren und sein werden. Zähne zeigen. Darauf lief es hinaus. Und dann sah er noch einmal hin und er sah verbrannte und zermalmte Gebisse. Er sah Züge. War der Mann, der den Zügen nach sah. Und die Züge fuhren immer nach Auschwitz …
Lars Kropp
Lars Kropp fand für das „Libelleninferno“, dieses Literaturmammut, keinen Verlag. Erst nach seinem Tod und weiteren Versuchen seiner Mutter, dem Werk doch noch Geltung und Öffentlichkeit zu verschaffen, erbarmte sich ein kleiner Frankfurter Verlag, die 1700 Seiten zu veröffentlichen. Es war von Anfang an ein gewagtes Unternehmen, das schlussendlich scheiterte. Zwar erschien das Buch, aber es versank augenblicklich in einem Raum des Schweigens. In jenem Raum, der inzwischen mit so vielen hervorragenden Büchern angefüllt ist.
… König starrte auf den Fernseher, starrte hinab in die platonische Höhle und sah gefesselte Wesen, die sich am Anblick anderer gefesselter Wesen weideten, die sich wiederum andere gefesselte Wesen ansahen und mit den Köpfen schüttelten, und diese anderen Gefesselten sahen wieder zu anderen Gefesselten und so ging es weiter und so ging es fort. König schüttelte den Kopf. Er stand auf und ging raus. Es war ganz einfach. Platon hatte es geraten. König tat es …
Anmerkung: Das Cover des Romans wurde von Lars Kropp entworfen, in der Hoffnung bald einen Verlag zu finden. Leider erlebte er die Veröffentlichung nicht mehr.
Lars Kropp
Libelleninferno
Roman
1700 Seiten
Vergriffen