"Vergessen kann ich nicht, aber ich bin jetzt frei!"


Gottfried Eicher wurde vor vielen Jahren von einem Kaplan missbraucht. Nun erhielt er eine finanzielle Entschädigung. Und schließlich, für ihn immens wichtig, auch eine Entschuldigung.

Es ist eine schier unglaubliche Lebensgeschichte. Gottfried Eicher (70) hat sich sein Leid von der Seele geredet und geschriebenFoto © Sabine Hoffmann
Es ist eine schier unglaubliche Lebensgeschichte. Gottfried Eicher (70) hat sich sein Leid von der Seele geredet und geschrieben
Es war ein bitterer Brief, der vor wenigen Wochen die Kleine Zeitung erreichte. Er dokumentierte die innere Zerrissenheit einer zerstörten Kinderseele, auch heute noch, nach sechzig Jahren. "Meine Welt ist klein geworden, klein und trostlos", schrieb Gottfried Eicher. Und: "Ich bin inzwischen wohl zu schwer geworden mit dem Sack trostloser Erinnerungen."
Der freundliche Mann mit dem rundlichen Gesicht, der drei Wochen später auf der Eckbank am Esstisch seines Hauses in Ludersdorf bei Gleisdorf sitzt, spricht viel, er verliert sich oft in Details. Es ist seine Art, mit dem - vor dem Gesetz längst verjährten - sexuellen und gewalttätigen Missbrauch durch einen Kaplan umzugehen. "Ich versuche seit Jahrzehnten, mir das Unrecht von der Seele zu reden und zu schreiben", sagt er. "Ich denke jeden Tag daran."
Seine Kindheitsgeschichte ist verworren und traurig. Sein Blick wird starr, wenn er davon erzählt. Der Bub, elternlos, hatte viel Ablehnung erfahren, Schläge von jenen, die ihn hätten schützen sollen, und den schweren sexuellen Missbrauch. Die Behörden interessierten sich damals, in den 40er- und 50er-Jahren, nicht für das Schicksal des Kindes.
Nachdem im Vorjahr mehr und mehr Missbrauchsfälle in Österreich bekannt wurden, sah Eicher auch für sich Licht. Er hoffte auf "Gerechtigkeit für das schwarze Gedankenmeer in meinem Kopf", wie er es ausdrückt. Er wandte sich an die Opferschutzanwaltschaft und wurde von deren Leiterin Waltraud Klasnic zum Gespräch eingeladen. Auch einen Termin mit einer Psychologin gab es, im Bericht attestiert sie ihm eine "posttraumatische Belastungsreaktion" und eine "massive zusätzliche Traumatisierung" aufgrund der "erlebten sexuellen Gewalt durch eine Vertrauensperson in einer Zeit, wo er als Kind im familiären Bereich stark vernachlässigt worden ist".
Es stand nun schwarz auf weiß da, dass er ein Opfer ist. Eicher bekam eine Entschädigungszahlung und eine Psychotherapie zugesprochen. Er war zunächst erleichtert und gleichzeitig enttäuscht. Die Bitterkeit blieb. Etwas fehlte.

Prügel und Demütigungen

Eicher war ein Kind aus Verhältnissen, wie man sie sich heute nicht mehr vorstellen kann. Seine Mutter hatte das Baby nach der Geburt 1941 in der Not in ein Armenhaus gegeben. Dort erfuhr er so etwas wie Geborgenheit. Doch dann, er war acht Jahre alt, nahm ihn ein gewalttätiger Landwirt zu sich und nutzte ihn als Arbeitskraft aus. Gottfried musste in der Tenne hausen, Prügel und Demütigungen waren normal.
Der Missbrauch dieses verwahrlosten Kindes durch den Kaplan begann, als er neun war, und endete zwei Jahre später. "Alle zwei bis drei Wochen hat er mich nach der Religionsstunde zu sich gerufen", sagt Eicher. Nach dessen Schlägen, der sexuellen Gewalt und den Drohungen mit der Hölle schmiss der Bub mit zwölf die Schule.
"Ich habe oft daran gedacht, mich umzubringen", erzählt er. Ein Polizist redete ihm gut zu. "Er hat mich gerettet", sagt Eicher heute. Mit 17 kam er zum Bundesheer, erlebte später abenteuerliche Geschichten in der Fremdenlegion. Als er, nach Österreich zurückgekehrt, heiraten wollte, saß er mit seiner Verlobten plötzlich dem Kaplan seines damaligen Wohnorts gegenüber. Eicher weigerte sich, sich von ihm trauen zu lassen. Dem Ersatzpfarrer nannte er den Grund. Konsequenzen gab es keine. Ins Eheregister wurde die Verbindung nie eingetragen, das erfuhr Eicher erst vor Kurzem und fiel aus allen Wolken.

Entschuldigung

Der Mann hatte sich das Leid seit vielen Jahren von der Seele zu reden und zu schreiben versucht: Drei Bücher sind entstanden und mehrere Briefe an Verantwortliche. Er hatte nicht geschwiegen und doch brauchte es lange, bis sein Schicksal anerkannt wurde. Sein Peiniger ist längst gestorben. Aus der Kirche ist Eicher vor langer Zeit ausgetreten, tiefgläubig ist er weiterhin. Er ist Wünschelrutengänger, seine Anhänger schwören auf seine heilenden Kräfte.
Nachdem er Anfang 2011 die Entschädigungszahlung erhalten hatte, schrieb Eicher seinen bitteren Brief, an alle relevanten kirchlichen Personen und an die Opferschutzanwaltschaft. Er hatte gemerkt, dass das Geld allein nicht die Schwere in ihm lindern konnte. Er forderte systemische Veränderungen in der Kirche, zum Beispiel das Ende des Zölibats.
Die Briefe, die er nun als Antwort erhielt, von Kardinal Christoph Schönborn etwa, von Bischof Egon Kapellari und von Waltraud Klasnic, waren persönlich und offen. Von "sündhaften Taten" ist die Rede, von "Leid, das man nicht wiedergutmachen kann" und von "Entschuldigung".
Heute sitzt Eicher da und sagt: "Ich habe abgeschlossen damit. Helfen kann man nicht." Er sagt aber auch: "Vergessen kann ich es nicht, aber ich bin jetzt frei." Zum ersten Mal in seinem Leben.Er hat das bekommen, was ihm viele Jahre verwehrt geblieben war: die Anerkennung seines Leids - und eine Entschuldigung.
SONJA HASEWEND
Quelle: Kleine Zeitung Steiermark 23.04.2011

Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt

  

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