Das liegt nicht daran, dass sie haltlos wäre. Die Nazis setzten alles andere, diese Geschichte wahr zu machen. Massenorganisationen sollten die Kinder bereits im Alter von zehn Jahren dem Einfluss des Elternhauses weitgehend entziehen. Das find an mit den Pimpfen und Jungmädeln, ging über die Hitlerjugend und den Bund Deutscher Mädel, denen sich der Reichsarbeitsdienst und, bei Männern, die Wehrmacht anschlossen. Mit 22 Jahren wurden dann, so war zumindest die Zielvorstellung, im Geist des Nationalsozialismus erzogene und durch körperliche Arbeit gestählte Erwachsene ins Land entlassen, die genügsam ihrer Arbeit nachgehen und Kinder zeugen würden, die den gleichen Zyklus durchlaufen. Auf der Arbeit und im Haushalt würden Pflichtversanstaltungen der deutschen Arbeitsfront und der "Kraft durch Freude"-Programme dafür sorgen, dass das Erreichte abgesichert war.
Und in vielen Fällen lief das sicherlich auch so ab. Aber wir müssen uns klar machen, dass der oben beschriebene Ablauf die Idealvorstellung führender Nazis war und die Wirklichkeit sich nicht so leicht von oben planen lässt, wie die Faschisten sich das vorgestellt haben (ähnlich sah es übrigens auch in Spanien und Italien aus, die ähnliche Jugendorganisationen, etwa die italienischen "Jungen Faschisten", unterhielten, wenngleich nie mit dem Organisationsgrad der deutschen Pendants). Die Herausforderung für Reichsjugendführer Baldur von Schirach war hoch.
Zum Zeitpunkt der Machtergreifung hatte die Hitlerjugend rund 100.000 Mitglieder. Das war eine beachtliche Zahl, aber ein Vogelschiss im Vergleich zu den Mitgliederzahlen, die etwa die kirchliche Jugendarbeit aufweisen konnte. Die Nazis nutzten deswegen noch 1933 den groben Klotz der Gleichschaltung und besetzten sämtliche Jugendorganisationen mit dem Ziel, sei in die HJ einzugliedern. Das ging daneben: statt sich unterzuordnen, lösten sich die meisten Organisationen selbst auf, so dass die Mitgliederzahlen in der HJ bis 1935 eher bescheiden blieben, bedenkt man den gigantischen Propagandaufwand, den der totalitäre Staat dahinter warf.
1936 wurde die HJ deswegen für alle deutschen Jugendlichen verbindlich gemacht. Die Mitgliederzahl stieg dadurch bis 1939 auf rund sieben Millionen Jugendliche an. Trotzdem war es einer nicht unbedeutenden Menge von Jugendlichen möglich, sich der Organisation zu entziehen. Auch für die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen, die sich der Organisation mal mehr, mal weniger freiwillig anschlossen, muss bedacht werden, dass die Motive sehr unterschiedlich waren. Die Nazis waren, bei aller Meisterschaft über die Propaganda, überraschend pragmatisch und rational bei ihrer Einschätzung ihrer Wirkkraft. Goebbels etwa war immer klar, die eigentlichen Propagandastreifen wie "Jud Süß", den seine gleichgeschalteten Filmwerke produzierten, kein großes Publikum fanden, weswegen 9 von 10 in der NS-Zeit produzierte Filme auch irgendwelche leichte Kost waren - Komödien und Liebesfilme, überwiegend, bildeten den Kern des Programms der Lichtspielhäuser und besaßen wesentlich größere Anziehungskraft.
Ähnlich sah es auch in der HJ aus. Aus reiner ideologischer Überzeugung waren die wenigsten dort, und wirklich bekehrt wurden die meisten dort auch nicht, schon allein, weil die NS-Ideologie ein so inkohärentes Gemisch war (aber das ist ein Thema für ein ander mal). Stattdessen erkannten die führenden Nazis andere Mechanismen als wesentlich zugkräftiger. Die HJ setzte neben ihrem ideologischen Anspruch auf drei Säulen, von denen keine etwas mit dem Nationalsozialismus per se zu tun hatte und die alle von ähnlichen Organisationen wie etwa der Freien Deutschen Jugend in der DDR ebenfalls genutzt wurden.
Säule 1 war der Gruppendruck - wenn alle deine Freunde in der HJ sind und an den vorgeschriebenen Aktivitäten teilnehmen, musst du das auch, wenn du nicht ausgeschlossen sein willst. Säule 2 war der Aspekt des Sports und des Abenteuers: mit Zeltlagern, Sportevents und Ähnlichem bot die HJ klassische Jugendaktivitäten in einem epischen Rahmen, was für die Mehrheit der Jugendlichen eine natürliche Attraktivität aufwies. Und Säule 3 war die Rebellion gegen das eigene Elternhaus. Die HJ hatte den expliziten Auftrag, die Jugendlichen ihrem Elternhaus zu entfremden und bot sich dann als verbliebener Anker an. Man sollte diesen Effekt nicht unterschätzen. Viele Eltern, besonders solche aus kirchlichen oder sozialdemokratischen Milieus, verabscheuten die HJ und wofür sie stand. Die in Jugendlichen typische Rebellion gegen das Elternhaus wurde so von der HJ kanalisiert und genutzt. Daraus erwuchs aber keine große ideologische Überzeugung, weswegen sich 1945 auch keine Generation von jungen Fanatikern fand, die eine "Operation Werwolf" mit Partisanenkampf gegen die alliierten Besatzer durchführen wollte, sondern eine Generation, die reumütig oder still durch die Trümmer ins Elternhaus zurückschlich.
Warum erkläre ich das alles in epischer Breite? Ich möchte zeigen, dass es keinerlei Automatismus gab, der Menschen in den 1930er Jahren dazu gezwungen hätte, sich der NS-Linie zu unterwerfen. Die Verführungskraft des Nationalsozialismus war unbestritten vorhanden, aber deutlich geringer, als es in der Rückschau manchmal den Anschein hat. Viel größeren Einfluss hatten Faktoren wie der Gruppendruck. Wenn HJ benutzt wurde, um auf offener Straße Juden verächtlich zu machen und Steine auf sie zu werfen, wie das immer wieder inszeniert wurde, so nehmen viele Jugendliche daran aus dem gleichen Grund teil, aus dem sie heute passiv oder aktiv an Mobbing teilnehmen: weil sie das Risiko scheuen, sich gegen die Mehrheit zu positionieren und selbst zu Ausgestoßenen zu werden. Das ist menschlich verständlich, aber es ist nicht die natürliche Reaktion auf die magische Verführungskraft der NS-Propaganda.
Aus dieser Erkenntnis erwächst die Feststellung, dass es durchaus Individuen gab, die sich widersetzten. Die nicht Mitglied in der HJ wurden, die sich nicht an solchen Exzessen beteiligten, sie sich vielleicht sogar akiv gegen das Regime stellten und es von Anfang an oder mit wachsendem Erleben als das erkannten, was es war. Sie waren keine Mehrheit, und sie waren nicht einmal eine bedeutende Minderheit. Das ist bedauerlich, aber wir sollten uns sie als Beispiel nehmen anstatt die Mehrheit der Mitläufer zu entschuldigen. Denn all die beschriebenen Mechanismen ließen sich offensichtlich erkennen und widersetzen, wenn man die notwendige Charakterstärke aufbrachte.
Wenn wir Menschen wie Sebastian Haffner, der von Anfang an das Wesen des Nationalsozialismus erkannte und das Land dann später verließ, Willy Brandt, der die Nazis aktiv bekämpfte und 1933 ins Exil floh, die Geschwister Scholl, die auch in jungen Jahren nie der Verführung unterlagen, Georg Elser, der als einfacher Schreiner die Natur von Hitlers Kriegsgerede erkannte und ihn zu beseitigen trachtete oder Dietrich Bonhoeffer, der bis zu seinem Tod ungeachtet des Risikos mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen das Regime kämpfte, nicht den Rang geben, der ihnen zusteht, sondern stattdessen pauschal alle anderen wegen "Verführtheit" von persönlicher Verantwortung freisprechen, begeben wir uns in gefährliches Fahrwasser.
Die Rede von der großen Verführung war 1945 eine willkommene, mit der sich die Deutschen von der Verantwortung reinwaschen konnten. Durch die misslungene Entnazifizierung der Westalliierten häufig amtlich als "Mitläufer" oder gar "unbelastet" eingestuft, konnten die konservativen Politiker der Nachkriegszeit erfolgreich die Deutschen von den Nazis trennen. Es dauerte bis in die 1980er Jahre, bevor sich die Erkenntnis, dass sich die Deutschen insgesamt schuldig gemacht hatten, langsam durchsetzen würde, und bis heute ist es ein ständiger Kampf, der immer wieder aufs Neue ausgefochten werden muss. So verständlich es in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle war, dass die Menschen mit dem Strom schwammen und nicht gegen das Regime Stellung bezogen, so war es doch nichts, was ihnen von außen aufoktroyiert worden wäre. Es war eine Entscheidung gegen den Widerstand, und an Entscheidungen werden Menschen gemessen.