Verführerisch oder verstörend? Reiseziel Tunesien

Von Frauaufreisen

Ostern 1991 war es wohl, als mich eine kurze Flucht vom Schreibtisch, in den Endzügen des Studiums, eine Woche lang nach Djerba entführte. Die erste kleine Afrika-Reise habe ich   einigermaßen unerfahren, wenig informiert und völlig offen angetreten. Eine wirklich günstige Pauschalreise in ein kleines Hotel mit zwei Sternchen, auf der wir wenige andere pauschal Verreiste trafen. Dass wir fast 1:1 vom Hotelpersonal betreut werden konnten (und dabei interessante und entspannte Gespräche führten), schob ich auf den ersten Irak-Krieg, der die Touristen abhielt. Aber es war natürlich auch Vorsaison und außerdem Ramadan zu dieser Zeit.

Eine Reise, in der ich mich schlagartig in das kleine Land Tunesien verliebte.

Ein Jahr später versuchten wir es dann mit Hammamet, immer noch ahnungslos, und landeten dort, wo sich Touristenansammlungen an Büffets voller geschmacksfreiem Essen daneben benehmen und einheimische Händler einen auch schon mal energisch am Ärmel ziehen, wenn man zu den Tageseinnahmen immer noch nichts beitragen will. Mindestens zwei, ganz unterschiedliche Seiten von Tunesien… Wer das Land vor 2010 besuchte, fand sich meist in einem recht günstigen Flug+Hotel-Arrangement wieder, Individualtourismus war ganz selten. Und je nach Ort, Budget, Reisezeit und Konstellation waren die Eindrücke und Bewertungen eher so oder so oder irgendwo zwischen meinen beiden so gegensätzlichen Erfahrungen.

Meine Sehnsucht nach Tunesien blieb, doch ich war bisher nicht mehr dort.

Seit der friedlichen Revolution von 2010/2011 hat sich das Land verändert und der Tourismus auch.
In jenen Frühlingstagen war ich berührt und auch stolz auf „mein Tunesien“, beseelt von einer Hoffnung, die mich nichts kostete, dem hohen Lied auf Freiheit und Gerechtigkeit – einer Hoffnung, der ich mich vielleicht nicht schämen muss, hatte sie doch auch Tahar Ben Jelloun ergriffen, der im kleinen Bändchen Arabischer Frühling gleich 2011 sprachgewaltige Skizzen Vom Wiedererlangen der arabischen Würde vorlegte.
Die erkämpfte Freiheit könnte auch den Tourismus verändern, so schien es, ihn so vielfältig werden lassen, wie er es in Marokko längst ist. Der Tourismus könnte sich verändern – und müsste, denn er ist eine der Haupteinnahmequellen in einem Land (gewesen), das kaum Bodenschätze hat und kaum Industrie. Frei durchs Land zu reisen, privat zu übernachten, anstatt ausschließlich zwischen Strand und Pool zu pendeln, schien eine einladende Perspektive, in einem Land, das neu beginnt.

In einem Land, das neu beginnt – genau so lautet  der Titel einer Sammlung von Reportagen aus dem Innenleben Tunesiens nach der Revolution. Der Autor Gerald Drissner, der in den Vorjahren auch schon in Ägypten und der Türkei lebte, reiste von seinem aktuellen Wohnsitz in Tunis aus kreuz und quer durch das Land. Was er sah, erfuhr und beschreibt, taugt wenig für Romantizismus und ist weit entfern von Postkartenidyllen und Mittelmeerentspannung. So zeigt sich der Dumont-Verlag, bekannt für einladende, ausführliche Reiseführer auch als Verlag, der die Sicht nicht scheut, die unbeschwerte Reiseträume eher durchkreuzt.

Ja, man kann Gerald Drissners Buch durchaus schonungslos nennen. Ich wollte mich in einen vielleicht schwierigen, aber immer noch irgendwie leuchtenden orientalischen Traum versenken, doch Drissner zeigt ein Land, dem das Leuchten weitgehend abhanden gekommen ist. Dessen Alltagsszenen durch Müll, Alkoholismus, auswegslose Armut, Warten und Verfall geprägt werden. Gewiss, er bereist Gebiete, in die Tourist*innen ohnehin selten ihren Fuß setz(t)en, im Innern des Landes oder an der algerischen Grenze gelegen. Die wirtschaftliche Situation sorgt dafür, dass sich das Ausbleiben internationaler Gäste derzeit ganz und gar nicht ändert, höchstens zum Schlechteren.
Mich berührt ein Bericht aus Siliana, einer Kleinstadt, die von einer Natur umgeben ist, die das Beste aus Mitteleuropa und Nordafrika vereint: Saftig grüne Wiesen, dazu Palmen und Kakteen. Die einzige Übernachtungsmöglichkeit findet sich in einem Geisterhotel, das, dem Verfall preisgegeben, weder Essen noch warmes Wasser bieten kann, dem einzigen Gast aber ein ordentliches Sümmchen abknöpft – wer weiß, wie lange es reichen muss.

Houmt Souk ohne Müll

Ich blättere vor, zum Kapitel über Houmt Souk, der Inselhauptstadt von Djerba, deren Altstadtgassen ich einst entlang schlenderte. Das Kapitel heißt Müll. Wie vielerorts in Tunesien ist die kommunale Müllabfuhr nicht mehr existent. Die neue Regierung hat das aus irgendwelchen Gründen nicht im Griff, so jedenfalls der Stand 2014/2015, als Drissners Buch entsteht. Im April 2014 gab ein Staatssekretär bekannt, dass in den tunesischen Straßen geschätzte dreihunderttausend Tonnen Müll liegen. Und: Ausgerechnet Djerba, das Aushängeschild der Ferienindustrie, versinkt im Müll.

Zu diesem Zeitpunkt scheinen Tourist*innen eher von der riesigen Verschmutzung als von der Sicherheitslage im Land abgeschreckt. Und auch das ändert sich dann, nachdem 2015 beim Anschlag auf ein Hotel in Port El Kantaoui in der Nähe von Sousse zahlreiche Menschen ums Leben kamen und 2016 der Berliner Weihnachtsmarkt von einem tunesischen Attentäter heimgesucht wurde.
Beide jungen Männer stammten aus der Gegend rund um Kairouan, aus der Drissner nicht allzu lange zuvor berichtete. Seit 1988 zählt die Altstadt zum Unesco-Weltkulturerbe. Es gibt vermutlich in keiner Stadt der Welt so viele Moscheen auf engstem Raum. Eine religiös geprägte Stadt mit zugleich zahlreichen nach Zünften geordneten Märkten, eine Hochburg der Teppichknüpfer, ein Museum der islamischen Gelehrsamkeit – unter anderen Umständen touristisch sehr interessant.

Bab Tunis Kairouan

Doch nun… Fünf Tore führen in die historische Altstadt, wo auch das Touristenbüro liegt. Auf der hohen Stadtmauer erkenne ich zwei aufgemalte, schwarze Flaggen. Darauf ist mit weißer Farbe das islamische Glaubensbekenntnis geschrieben. Es ist das Markenzeichen von islamistischen Terrororganisationen. Es treiben sich also ungemütliche Leute herum.

Die Wüste (rund um Touzeur und die Oase Nefta) war Filmkulisse der Star Wars-Produktionen erfahre ich. Gar nicht mein Hauptinteressengebiet, die Wüste hingegen, eher erahnt als mir bekannt, schon.
Der größte Teil der Sahara, die ziemlich genau die Fläche der USA hat, gleicht faden Mondlandschaften. Nur wenige Striche haben meterhohe Dünen, wie man sie aus Abenteuerfilmen kennt. Tunesien kann sich deshalb glücklich schätzen, denn das Land mag zwar nur einen winzigen Teil der Wüste abbekommen haben, dafür aber einen der besten.

Salzwüste Tunesien

Doch auch hier scheinen die glanzvollen Zeiten, in denen erst die Filmleute und dann die Filmfans das Geld brachten, vorbei. Kinder versuchen mühsam, Touristen Krimskrams aus mutmaßlich chinesischer Produktion anzudrehen, die Szenerie versinkt laut Gerald Drissner im Elend.  Der Eindruck bestätigt sich, wenn Philipp Laage eine Reisedepesche aus Touzeur schickt. Touzeur 2016, im Jahre 1 nach dem Anschlag von Sousse. Danach brachen die Gästezahlen endgültig zusammen. Und Philipp Laage fragt sich ebenfalls bang: Was passiert nun mit Städten wie Nefta und Touzeur, die auf halbem Weg ins Nichts liegen? Die Idee von der Diversifizierung, von einem besseren Tourismus im Süden des Landes, von smarten Travellern, die ihre tajine auf der Terrasse eines Boutique-Hotels mit Blick über die endlosen Dünen der Sahara genießen – sie flimmert nur noch schwach wie die Fata Morgana einer Oase auf dem toten Salzsee Chott el Djerid.

Und nun: Gibt es Hoffnung? Wie und wo lässt sich Tunesien entdecken, wieder, neu, noch, trotzdem? Mein Interesse befriedigen, meine langjährige Sehnsucht stillen. Und ganz gewiss braucht Tunesien den Tourismus, am besten einen bewussten, unagressiven, vielfältigen. Und Menschen, die bereit sind, hinter die Kulissen zu schauen…

In einem Land, das neu beginnt von Gerald Drissner ist ein Buch voller Informationen über unbekannte Regionen und Situationen, wichtige Informationen. Ein einladender Reiseführer ist es nicht unbedingt.

So suche ich bei Kolleg*innen aus der Blogger*innen-Zunft. Wer war dort in letzter Zeit? Wie war´s?

Buchtipp:

Gerald Drissner: In einem Land, das neu beginnt.
Eine Reise durch Tunesien nach der Revolution.
Dumont Reiseverlag Ostfildern) 2015.

Bildnachweise:

Bild 1: Chris Frenzel, skyliner2•com, „The last ride.“, CC-Lizenz (BY 2.0) via www.piqs.de
Bild 2: Dumont Verlag (Buchcover)
Bild 3: Houmt Souk by Bellyglad from Tunisia  via Wikimedia Commons
Bild 4: Kairouan by Orientalist (Own work)  via Wikimedia Commons
Bild 5: medeamegara, „Zimmer mit Aussicht“, CC-Lizenz (BY 2.0) via www.piqs.de