Mit seinem Urteil vom 12.09.2012 (Az.: 2 BvR 1390/12, 2 BvR 1421/12, 2 BvR 1438/12, 2 BvR 1439/12, 2 BvR 1440/12 und 2 BvE 6/12) hat das Bundesverfassungsgericht zunächst Eilanträge im Wesentlichen abgewiesen, die sich im Kern gegen drei Entscheidungen des Bundestages richteten.
Rein formal wurde damit zwar noch keine endgültige Entscheidung getroffen. Sobald sichergestellt ist, dass einige klarstellende Vorbehalte zur Vertragsauslegung völkerrechtlich wirksam von den Vertragspartnern akzeptiert werden, darf aber der Bundespräsident den Vertrag nun unterschreiben. Damit wird Deutschland ihn ratifiziert haben und aus diesem Grunde sind mit der aktuellen Gerichtsentscheidung die Würfel schon jetzt gefallen.
- In der öffentlichen Diskussion und im allgemeinen Bewusstsein der Bürger/innen geht es hauptsächlich um Deutschlands Beitritt zum Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) [Wikipedia-Stichwort]. (Juristisch präzise formuliert richten sich die Klagen insoweit gegen "das Gesetz zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus - Bundestagsdrucksachen 17/9045, 17/10126".) Diese Fokussierung der breiten Debatte ist verständlich, weil uns dieser Mechanismus einen Haufen Geld kosten wird. Auch mir geht es in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht um eine Ablehnung des ESM-Vertrages bzw. Deutschlands Beitritt zu diesem Vertrag. ABER: Rein rechtlich liegt des Pudels Kern nicht beim ESM, sondern in der Aufhebung des Bailoutverbots (vgl. Ziff. 3).
- Schon kaum noch wahrgenommen wird, dass die Kläger auch gegen Deutschlands Beitritt zum sog. Europäischen Fiskalpakt(auch Europäische Fiskalunion) geklagt haben. (Präzise geht es um "das Gesetz zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion - Bundestagsdrucksachen 17/9046, 17/10125"; Link dazu z. B. hier.) Dieser Sachverhalt interessiert mich nicht und er wird nachfolgend nicht behandelt.
- So gut wie niemand hat 'auf dem Radar', dass die Kläger noch etwas anderes anfechten, nämlich die Aufhebung des Bailoutverbots in der Eurozone. (Präzise: "Das Gesetz zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union AEUV* hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist - Bundestagsdrucksachen 17/9047, 17/10159)". Dieser neu eingeführte Abs. 3 des Art. 136 AEUV ist aber die notwendige rechtliche Voraussetzung, um überhaupt den ESM-Vertrag einführen zu können. Anders gesagt: Wenn diese Aufhebung des Bailoutverbots verfassungswidrig wäre, dürfte Deutschland auch nicht dem ESM-Vertrag beitreten. *(bisheriger und zukünftiger neuer Text Art. 136 AEUV z. B. hier bei juraexamen.info; dort auch der Text des Bailoutverbots in Art. 125 Abs. 1 AEUV und eine rechtstechnische Erläuterung der Änderungsgründe)
* "putschartig" insofern, als man das Bailoutverbot, also den Art. 125 AEUV, auf dem Papier hat stehen lassen. Um die Bürger auszutricksen (und der Rechtsprechung zu ermöglichen, der Politik dabei zu helfen, ohne ihr Gesicht zu verlieren) wird dreist vorgetäuscht, der neue Art. 136 Abs. 3 AEUV sei lediglich eine Ausnahmeregelung. So z. B. die in Abs. (= Randnummer) 169 des Urteils wiedergegebene Position der Bundesregierung: "Art. 136 Abs. 3 AEUV bewirke keine Neuausrichtung der Währungsunion und beseitige auch das in Art. 125 AEUV enthaltene Verbot des Eintretens für Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten nicht, sondern enthalte nur eine Klarstellung." In Wahrheit schafft er nicht nur das Bailoutverbot ab: de facto begründet er sogar eine politische Bailoutpflicht innerhalb der Eurozone!
Zu einem zentralen Thema in meinem Blogs hatte ich diese Neuregelung dann mit meinem "Amicus Curiae Brief an Karlsruhe: Feste Burg der Demokratie oder größte Heißluftfabrik der Welt?" vom 01.09.2012 gemacht. Dieser Eintrag enthält eine sehr ausführliche Analyse des BVerfg-Urteils vom 07.09.2011 zum EFSF (dem zeitlich befristeten Vorgängerfonds des ESM) und zur Griechenlandhilfe. In zwei Folgepostings hatte ich meine Einsichten aus dem 'Amicus Curiae Brief' verkürzt zusammengefasst: "Die Verfassungswidrigkeit des ESM folgt zwingend aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts" (2.9.12) und "Minister Schäuble fordert Verfassungsgericht zur Rechtsbeugung auf" (5.9.12).
Worum es bei diesem "Bailoutverbot" bzw. bei dessen Aufhebung geht, hatte ich in meinem "Lutherbibel"-Posting erläutert und wiederhole das hier:
1. Art. 125 des „Vertrages über die Arbeitsweise der EU“ AEUV (Dies ist das sog. „Bailoutverbot“, d. h. das Verbot für die anderen Mitglieder, denjenigen Staaten zu helfen, die aus eigenem Verschulden in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. In Wahrheit war dieses „Verbot“ natürlich als Schutz für die anderen Mitglieder - die soliden oder solideren Länder - gegen Hilfeerpressungen der weniger solide wirtschaftenden Mitgliedsländer gedacht):(1) Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.(2) Der Rat kann erforderlichenfalls auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die Definitionen für die Anwendung der in den Artikeln 123 und 124sowie in diesem Artikel vorgesehenen Verbote näher bestimmen.2. Art. 136 AEUV Abs. 3, der jetzt neu eingefügt werden soll, lautet:„Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“
Über diese Regelungen hatte ich in meinem "Amicus Curiae Brief" geschrieben:
"An erster Stelle ist hier natürlich noch einmal darauf zu verweisen, dass die Einrichtung des ESM rechtlich überhaupt nur dadurch (scheinbar) möglich wird, dass die Politik das Bailout-Verbot des Art. 125 AEUV durch das Bailout-GEBOTdes ebenfalls in den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Art. 136,3 AEUV im Ergebnis schlicht und einfach ausradiert hat. Wenn man das für unzulässig hält, fehlt dem ESM schon formalrechtlich jegliche Grundlage. Das Gericht hat sich in seiner EFSF-Entscheidung vom 07.11.2011 insoweit eindeutig festgelegt (RdNr. 129). Ich sehe nicht, mit welcher Begründung es nach diesen Ausführungen eine deutsche Zustimmung zur Einführung des Art. 136 Abs.3 AEUV noch rechtfertigen könnte: Die Norm führt ein Bailoutgebot ein, und hebt damit das nach dem Demokratieprinzip unverzichtbare Bailoutverbot auf. Und da ja offensichtlich auch die Länder der Eurozone selber davon ausgehen, dass der ESM ohne die Fundierung in Art. 136,3 AEUV unzulässig wäre, bedarf es für mich keiner weiteren Erörterung, dass mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer deutschen Zustimmung zum neuen Art. 136,3 AEUV gleichzeitig auch einer deutschen Ratifikation des ESM-Vertrages der rechtliche Boden entzogen wäre."
Auf welche (unsaubere) Weise das Gericht sich aus dieser (von ihm selbst aufgestellten!) "Falle" herausgewunden hat, zeige ich im Einzelnen unten.Bevor ich aber zu dieser Detailanalyse komme, möchte ich hier drei sehr hellsichtige Medienartikel (sämtlich vom 12.09.12) anführen und daraus zitieren, die in etwa den gleichen Sachverhalt ansprechen wie ich. In diesen Artikeln geschieht das freilich in einer allgemeinen Form, die sich nicht unmittelbar am Wortlaut der Gerichtsentscheidung orientiert; daher machen sie meine eigene Urteilskritik keineswegs überflüssig. (Hervorhebungen in den nachfolgenden Textauszügen jeweils von mir.)
"Karlsruhe weiß, wo Europas Hammer der Macht hängt" schreibt Thomas Schmid in der WELT. Seine Schlussbemerkungen treffen m. E. das Geschehene sehr genau:
"Das Bundesverfassungsgericht ist der Rolle gerecht geworden, die es seit seinem Maastricht-Urteil von 1993 spielt. Getrieben von einem Unbehagen gegenüber dem europäischen Integrationsprozess, der auch zu Zentralismus und Aushöhlung nationaler Souveränität führen könnte, hat es die Bürger quasi ermuntert, den Weg nach Karlsruhe zu gehen. Wenn diese dort aber ankommen, werden sie zwar nicht ganz, aber in der Hauptsache enttäuscht. Das Bundesverfassungsgericht, das uns fast so heilig ist wie die Deutsche Bundesbank, ist auch nur ein Spieler im europäischen Spiel, und nicht der mächtigste."
Die Süddeutsche Zeitung lese ich nicht sehr häufig. Nach allem, was ich davon mitbekomme, erscheint sie mir als eine Hochburg der Bailoutisten.
Umso anerkennenswerter ist es, dass deren Mitarbeiter Heribert Prantl, Jurist, Leiter des Ressorts für Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung und Mitglied der Chefredaktion, immer wieder auf eine Beteiligung der Bürger pocht. So z. B. schon in seinem Kommentar "Verfassungsklagen gegen ESM und Fiskalpakt. Alle Staatsgewalt dem Volke, und zwar sofort" vom 29.06.2012.
Und aktuell spart sein Gemeinschaftsartikel (mit Wolfgang Janisch und Ronen Steinke) "ESM-Entscheidung. Was das Urteil für Deutschland und den Euro bedeutet" in einer Reihe von Punkten nicht mit Kritik an der Entscheidung des BVerfG. Schon im zusammenfassenden Vorspann heißt es (meine Hervorhebungen):
"Die Verfassungsrichter benennen in ihrem Urteil die Risiken der Euro-Rettung sehr klar, ziehen daraus jedoch kaum Konsequenzen. Ihre Vorbehalte ändern nichts daran, dass Europa nun zusammenrückt - unter großen finanziellen und politischen Risiken".
Im Artikeltext selber lesen wir:
"Es ist ein Urteil mit vielen kleinen Kautelen und ohne groß angelegte Entwürfe. ..... Auch nach dem Urteil bleibt Raum für eine noch höhere Haftung - und zwar dann, wenn der Bundestag zustimmt. Denn entscheidend ist aus Sicht des Gerichts, dass das gewählte Parlament die Kontrolle über Ausgaben und Einnahmen behält, das ist ein Gebot der Demokratie. An dieser Stelle wird die scheinbar so klare Obergrenze doch wieder löchrig. Zwar hat das Gericht schon im vergangenen Jahr angedeutet, dass sich nicht einmal die Abgeordneten durch gigantische Haftungszusagen auf Jahre hinaus handlungsunfähig machen dürfen. Doch eine Zahl nennt der Senat auch diesmal nicht, sondern verweist auf den - genau - "weiten Einschätzungsspielraum" des Gesetzgebers. Klar ist damit nur: Bei 190 Milliarden Euro liegt die Grenze nicht. Wahrscheinlich nicht einmal bei 300 Milliarden. Denn das Gericht hat auch die sonstigen Verpflichtungen Deutschlands mitgezählt, ohne ein Verfassungsproblem zu sehen - etwa aus dem vorläufigen Rettungsschirm EFSF, aus der Griechenlandhilfe und aus der Beteiligung an der Europäischen Zentralbank. ..... Wird der Kern des Grundgesetzes verletzt? Nein, sagt das Gericht. Ansonsten hätte es darauf hinweisen müssen, dass man eine neue Verfassung oder/und eine Volksabstimmung braucht. Das Verfassungsgericht gliedert sein beschwichtigendes Votum in zwei Teile - in einen sehr konkreten allgemeinen Teil und in einen sehr allgemeinen konkreten Teil. Das Gericht macht zunächst wunderbare allgemeine Ausführungen dazu, was das Grundgesetz im Bereich der Haushalts- und Finanzpolitik gebietet und was es untersagt. ..... Seitenlang geht das so das hin. Man wartet beim Lesen wie elektrisiert darauf, was daraus nun folgt. Aber die Nutzanwendung dieser Lehrsätze gerät weich und weicher. Die Sätze werden zu Wachs."
Und die folgende im SZ-Artikel kritisch beleuchteten Passagen des Urteils stehen im Zentrum meiner unten folgenden Untersuchung:
"Das Gericht liest im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und zitiert mit Wohlwollen die dortigen Formulierungen - Verbot der Haftungsübernahme (bail-out-Klausel), die Stabilitätskriterien und das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung durch die EZB. Dann benimmt sich das Gericht wie ein Esser, der so tut, als würde er schon vom Lesen des Rezeptes satt. Was die EZB tatsächlich kocht, findet keine Beachtung. Die Umgestaltung der bisherigen Wirtschafts- und Währungsunion im neuen Artikel 136 Absatz 3 AEUV sei zwar eine "grundlegende"- sie führe aber "nicht zu einem Verlust der nationalen Haushaltsautonomie". An Begründung kommt aber dann auf den Seiten 54 ff des Urteils nicht viel."
Das Beste habe ich mir auch deshalb für den Schluss aufgehoben, weil ich damit elegant zu meiner eigenen Kritik überleiten kann. Es handelt sich um den wunderbar klarsichtigen Kommentar von Thomas Darnstädt bei SpiegelOnline (SPON): "ESM-Urteil aus Karlsruhe. Das überforderte Gericht". Auszüge: "Deutlicher als an diesem Mittwoch ist nie geworden, dass Karlsruhe sich an Europa übernommen hat. ..... War es Leichtsinn oder Größenwahn, dass die Verfassungsrichter einst etwas anderes versprochen haben? Die Weichen haben die Richter bereits 1993 gestellt, als sie im Urteil zum Maastricht-Vertrag ankündigten, die Stabilität des Euro und seine demokratische Absicherung in Deutschland streng im Auge zu behalten. Die Europäische Währungsunion unter dem Vorbehalt Karlsruher Rechtsprofessoren? Schon damals ist einigen flau geworden. ..... Die verfassungsrechtlichen Konstruktionen, die jedermann eine Klagemöglichkeit gegen europäische Einigungsschritte eröffnen, waren kühn: Wenn Entscheidungsbefugnisse von einigem Gewicht, besonders das Etatrecht des Parlaments, aus der deutschen Hauptstadt nach Europa abwandern, ist dadurch nicht nur der vom Grundgesetz als ewig statuierte Kern der nationalen Demokratie betroffen, sondern - jetzt kommt's - auch das Recht jedes Bürgers, per Wahlrecht an dieser Demokratie teilzunehmen. Das Wahlrecht ist in Artikel 38 des Grundgesetzes als "grundrechtsgleiches Recht" garantiert. Jeder Wähler, so das Ergebnis dieser Rechtslehre, kann also eine Verfassungsbeschwerde an 76131 Karlsruhe, Schlossbezirk 3 schicken, wenn ihm eine europäische Entscheidung nicht passt. ..... Am Parlament vorbei ist eine Art direkter Demokratie entstanden. Bürger, die mit den Entscheidungen der von ihnen gewählten Abgeordneten nicht einverstanden sind, können versuchen, ihr Wahlrecht in Karlsruhe noch mal auszuüben. ..... Karlsruhe kommt nun von seiner fürsorglichen Verfassungskonstruktion nicht mehr herunter. ..... Ratlose Bürger aber auch Spinner, Populisten, Querulanten klagen nun lautstark ein, was das Bundesverfassungsgericht einst versprochen hat. Das Gericht kann sich gegen die Anträge nicht wehren. Aber helfen kann es auch nicht. Irgendwann werden die Leute das merken. Dann ist es auch nicht mehr so voll im Staatstheater."
Der Autor weist also zutreffend darauf hin, dass es überhaupt erst das Gericht selber war, das mit seiner ganz speziellen Rechtsauslegung des Grundgesetzes die hochgespannten Erwartungen der Bürgerüberhaupt erst erzeugt hat, die es jetzt so brutal enttäuscht. Und genau darum geht es auch bei mir: Um das Missverhältnis zwischen den Versprechungen, die uns die Rechtsprechung des BVerfG gemacht hat, und dem daran gemessen grottenschlechten Urteil, in welchem Karlsruhe vor der Politik und den Finanzmärkten den Schwanz eingezogen und sich kläglich davor gedrückt hat, seine großen Worte nun mit einer entsprechenden Entscheidung in die Rechtswirklichkeit umzusetzen.
Damit niemand den Hintergrund meiner Analyse missversteht, stelle hier vorab eindeutig klar:
- Ich kritisiere die Entscheidung nicht deshalb, weil sie mir vom Ergebnis her nicht gefällt.
- Meine Urteilskritik behauptet auch nicht, dass der ESM-Vertrag usw. an sich verfassungswidrig wäre. Ich werde insoweit lediglich aufzeigen, dass die aktuelle Entscheidung im Vergleich zur bisherigen Rechtsprechung des BVerfG anders hätte ausfallen müssen, bzw. dass nach der früheren Rechtsauffassung des Gerichts die Aufhebung des Bailout-Verbots und der Fiskalvertrag verfassungswidrig sind.
- Mir geht es also einzig und allein um die Frage, ob das Gericht sauber gearbeitet, oder ob es "Schmu" gemacht hat, ob es die Sache "zurechtgebogen" hat, bis man das politisch passende Ergebnis hatte.
Was verstehe ich in diesem Zusammenhang "Schmu" und "zurechtbiegen"? Es bedeutet z. B.:
- Ein zentrales und gewichtiges Argument der klägerischen Argumentation einfach zu unterschlagen, und das, obwohl es nahe liegende Überlegungen enthält, welche die Richter selbst ohne Klägervortrag schon von sich aus hätten anstellen müssen (weil es der von vornherein geplanten Klageabweisung massiv im Wege gestanden hätte?)
- Logisch falsch zu argumentieren
- Mit Begriffen Schindluder zu treiben, indem man ihnen in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedliche Bedeutungen gibt, aber darauf vertraut, dass die Leser 'immer nur das eine' denken werden ("Stabilität")
- An unterschiedlichen Stellen Argumente vorzutragen, die sich im Zusammenhang betrachtet widersprechen ("inkonsistent" argumentieren)
- Scheinbegründungen zu formulieren (eine Rechtsmeinung mit Worten und Sätzen begründen, die bei genauem Hinsehen diese Meinung logisch nicht tragen, also gar keine echte Begründung hergeben)
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Ich habe nicht das gesamte (50-seitige) Urteil gelesen, sondern meine Aufmerksamkeit auf diejenigen Passagen konzentriert, wo das Gericht begründet, warum es die Abschaffung des Bailoutverbotes und Deutschlands Beitritt zum ESM-Vertrag nicht für verfassungswidrig hält.
Technische Vorbemerkung:
Zur erleichterten Lektüre habe ich in den folgenden Textauszügen die Hinweise des Verfassungsgerichts auf seine einschlägigen Vorentscheidungen entfernt, ohne das zu kennzeichnen. Ansonsten ist das Weglassen von Textteilen innerhalb einer von mir herauskopierten Passage durch Auslassungspunkte markiert. Hervorhebungen jeweils von mir.
Vom Aufbau der Urteilsbegründung ist zu unterscheiden zwischen einer abstrakten und einer konkreten Ebene:
- Im vorliegenden Urteil erläutern die Richter unter Abs. (= Randnummer) 208 - 222, welche allgemeinen Rechtsüberlegungen für ihre Entscheidung maßgeblich waren; sie schaffen also quasi die abstrakte Begründung für das Urteil.
- In den Abs. 230 - 238 legt das Gericht dar, auf welche Weise es die konkrete Entscheidung aus diesen allgemeinen Erwägungen abgeleitet hat.
Abs. 208 begründet, warum die Bürger überhaupt gegen diese Bundestagsbeschlüsse klagen dürfen. Das steht nämlich so nicht unmittelbar im GG und ist also keineswegs selbstverständlich; vielmehr ergibt es sich aus der Rechtsauslegung des BVerfG in früheren Urteilen (vgl. dazu auch oben die Auszüge aus dem SPON-Artikel von Thomas Darnstädt!).
Mit Einzelheiten müssen wir uns hier nicht herumschlagen; jedenfalls waren die Klagen zulässig. Von der Zulässigkeit einer Klage (ob man überhaupt klagen darf oder nicht) ist der (Miss-)Erfolg zu unterscheiden: ob eine Klage begründet ist oder nicht.
Vorliegend waren die Klagen "überwiegend unbegründet" (Abs. 230), d. h. inhaltlich hat das Gericht sie weitestgehend abgewiesen. Allerdings wurde ihnen insoweit teilweise stattgegeben, als der Bundesregierung aufgegeben wurde, bestimmte Sachverhalte, über die es zu Auslegungsstreitigkeiten kommen könnte, in geeigneter Weise völkerrechtlich festzuklopfen, bevor der Bundespräsident den Vertrag durch seine Unterschrift ratifiziert.
(In diesem Zusammenhang kam es zu einigen Irritationen in den Internet-Diskussion als man las bzw. zu lesen glaubte, Bundespräsident Hans-Joachim Gauck habe 'den ESM unterschrieben'. Tatsächlich hat der Präsident nach dem Urteil aber zunächst nur die deutschen Begleitgesetze zum ESM unterschrieben, welche die Kläger ebenfalls angegriffen hatten, nicht den Vertrag selbst. Diesen wird er erst unterzeichnen, wenn die Bundesregierung die entsprechenden Klarstellungen bzw. informellen Vereinbarungen erwirkt hat.)
Mit dem Abs. 209 steigt das Gericht in die abstrakte Erörterung ein.
209: "Das Grundgesetz untersagt nicht nur die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz auf die Europäische Union oder im Zusammenhang mit ihr geschaffene Einrichtungen. Auch Blankettermächtigungen zur Ausübung öffentlicher Gewalt dürfen die deutschen Verfassungsorgane nicht erteilen. Es ist deshalb von Verfassungs wegen gefordert, entweder dynamische Vertragsvorschriften mit Blankettcharakter nicht zu vereinbaren oder, wenn sie noch in einer Weise ausgelegt werden können, die die Integrationsverantwortung wahrt, jedenfalls geeignete Sicherungen zur effektiven Wahrnehmung dieser Verantwortung zu treffen."
Überträgt Deutschland bzw. der Bundestag mit dem ESM-Vertrag (oder mit der Abschaffung des Bailoutverbotes) "Kompetenzkompetenz" [zur Definition dieses mir bislang unbekannten Begriffs vgl. Wikipedia-Eintrag] auf die EU oder auf Einrichtungen, die im Zusammenhang mit der EU geschaffen wurden? Erteilt es derartigen Organisationen auf diese Weise "Blankettermächtigungen"?
Da ich oben gesagt hatte, dass die Klagen als "überwiegend unbegründet" abgewiesen wurden (was wir alle ohnehin aus den Medien wissen), ist klar, dass das Gericht diese Fragen verneint hat. Die spannende Frage ist, mit welcher Begründung.
Das werden wir im Einzelnen später sehen. Aber schon hier möchte ich diesen Teil der verfassungsgerichtlichen Begründungsstrategie in seiner allgemeinen Dimension entschleiern.
Bereits in meinem "Amicus Curiae Brief an Karlsruhe ..." hatte ich ausführlich erörtert, dass man die vom Verfassungsgericht damals (wie auch jetzt noch) geforderte Budgethoheit im Sinne einer freien Entscheidung des Bundestages auf -2- unterschiedlichen Ebenen sehen kann:
- Auf der mehr formalen Ebene der Entscheidungskompetenz: Muss bzw. darf der Bundestag über anstehende einschlägige Maßnahmen - also z. B. ein neues Rettungspaket für Griechenland - abstimmen?
- Auf der realpolitischen Ebene: Könnte sich der Bundestag tatsächlich weigern, z. B. Italien ggf. Hilfen zu den gleichen Konditionen zu gewähren wie etwa Spanien? Bzw. überhaupt im einen Fall zustimmen, im anderen ablehnen?
"eine Entleerung der von der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung gewährleisteten politischen Gestaltungsmöglichkeiten des Parlaments zu befürchten ist",
"Substanzverlust demokratischer Gestaltungsmacht",
"Der Wahlakt wäre entwertet, wenn der Deutsche Bundestag nicht länger über diejenigen Gestaltungsmittel zur Erfüllung ausgabenwirksamer Staatsaufgaben und zum Gebrauch seiner Befugnisse verfügte, für deren Inanspruchnahme seine Handlungsmacht durch die Wähler legitimiert wird."
"Eine notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Freiräume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung ….. besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmungseitens der Organe und anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union trifft und dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse“ bleibt."
Ja, das Gericht hatte sich sogar hart an die Grenze zu einer Ablehnung schon der damaligen Hilfsmaßnahmen - EFSF-Fonds und Griechenlandhilfe - vorgewagt, indem es sich zu Formulierungen wie diesen aufschwang:
"Zu diesem Grundsatz [der verfassungsmäßig notwendigen "Sicherung politischer Freiräume"] stehen Gewährleistungsermächtigungen, mit denen die Zahlungsfähigkeit anderer Mitgliedstaaten abgesichert werden soll, in einem erheblichen Spannungsverhältnis."
„… dürfen keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen".
Und an mindestens einer Stelle hatte das Gericht ausdrücklich die formelle von der faktischen Dimension unterschieden und auch insoweit Entscheidungsfreiheit verlangt:
„Die abwehrrechtliche Dimension des Art. 38 Abs. 1 GG kommt daher in Konstellationen zum Tragen, in denen offensichtlich die Gefahr besteht, dass die Kompetenzen des gegenwärtigen oder künftigen Bundestages auf eine Art und Weise ausgehöhlt werden, die eine parlamentarische Repräsentation des Volkswillens, gerichtet auf die Verwirklichung des politischen Willens der Bürger, rechtlich oder praktischunmöglich macht.“
Zusammengenommen machen solche Formulierungen natürlich nur dann Sinn, wenn man die Budgethoheit des Bundestages als eine auch inhaltliche Entscheidungsfreiheit versteht, bei der die Abgeordneten nicht gezwungen sind, unter dem Druck der Verhältnisse (oder, hier besonders wichtig, von Präzedenzfällen!) Maßnahmen zuzustimmen, die sie eigentlich für unvertretbar und unverantwortlich halten.
Aber mir war schon damals klar, dass hier jenes Schlupfloch wäre, welches das BVerfG ggf. benutzen würde, wenn es die Klagen abweisen wollte. Dazu hatte ich geschrieben:
"Welche Alternativen hat das Gericht bei seiner ESM-Entscheidung?1) Es kann - ggf. mit einigen Auflagen - Deutschlands Zustimmung zur Bailout-Vorschrift in Art. 136,3 AEUV und den Beitritt zum ESM billigen mit der Behauptung, dass beides mit der Entscheidung vom 07.09.2011 vereinbar sei. Die dafür vorhersehbar notwendigen argumentativen Verrenkungen würden allerdings jedem Winkeladvokaten zur Ehre gereichen. Das Gericht müsste nämlich auf die rein formal weiterbestehende Zustimmungspflicht des Bundestages zu wesentlichen Beschlüssen des ESM abstellen und mit diesem Hinweis einen Fortbestand der Haushaltshoheit im Sinne politischer Gestaltungsfreiheit postulieren. Man muss kein Jurist sein um zu erkennen, dass das eine reine Fiktion wäre, und dass eine solche Konstruktion keine Rechtsauslegung mehr wäre, sondern das Resultat eines grenzenlosen politischen Opportunismus."
Ohne dass es die Frage formelle/reale Gestaltungsfreiheit des Bundestages als solche überhaupt aufgeworfen hätte, hat sich das Gericht im Ergebnis damit begnügt, dass die Bundestagsabgeordneten auch in der aktuellen Konstellation für jede größere Maßnahme das Händchen heben müssen. Seine hehren Sprüche über "Entscheidungsfreiheit" haben sich damit als heiße Luft erwiesen: Denn eine wirkliche Freiheit, Maßnahmen abzulehnen, welche die Regierungen im Rahmen des ESM oder, außerhalb dieser Institution, für den ESM ausgekungelt haben, haben die Parlamentarier des Bundestages nicht mehr.
Insbesondere sind sie durch die de facto-Abschaffung des Bailoutverbots und die ausdrückliche "Zulassung" von Bailouts realpolitisch gezwungen, solchen Hilfen zuzustimmen, also bei entsprechendem Bedarf deutsche Steuergelder in irrsinnigen Höhen für andere Länder 'ins Feuer zu stellen' bzw. zukünftig (wenn sie dem ESM die Befugnis zur Direktrekapitalisierung von Banken erteilen) -zig und evtl. sogar hunderte von Milliarden Euro regelrecht zu Gunsten fremder Länder zu verschenken*.
Indem das Verfassungsgericht die Formalkarte gezogen hat, lässt es uns Bürger mit der A'karte zurück.
*(Vielleicht ruft, wenn der Bundestag einer solchen Direktrekapitalisierung zustimmt, ja wieder jemand das BVerfG an. Aber nach der vorliegenden Entscheidung habe ich in Sachen "Euhaftungspolitik" jegliches Vertrauen in dieses Gericht verloren und glaube nicht, dass es sich einem Verschenken unserer Steuergelder entgegenstellen wird.)
Abs. 210: "Art. 38 Abs. 1 GG wird namentlich verletzt, wenn sich der Deutsche Bundestag seiner parlamentarischen Haushaltsverantwortung dadurch entäußert, dass er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können. ..... Der Deutsche Bundestag muss deshalb dem Volk gegenüber verantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden. Insofern stellt das Budgetrecht ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar."
Aber eben nur ein formal verstandenes Budgetrecht, denn faktisch wird es durch das Bailoutgebot und den ESM bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt sein. Also auch hier nur: Heiße Luft!
Abs. 211: "Mit der Öffnung für die internationale Zusammenarbeit, Systeme kollektiver Sicherheit und die europäische Integration bindet sich die Bundesrepublik Deutschland nicht nur rechtlich, sondern auch finanzpolitisch. Selbst dann, wenn solche Bindungen einen erheblichen Umfang annehmen, wird das Budgetrecht nicht ohne weiteres in einer mit Art. 38 Abs. 1 GG rügefähigen Weise verletzt. Für die Einhaltung der Grundsätze der Demokratie kommt es vielmehr entscheidend darauf an, dass der Deutsche Bundestag der Ort bleibt, an dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird, auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten. Würde über wesentliche haushaltspolitische Fragen ohne konstitutive Zustimmung des Bundestages entschieden oder würden überstaatliche Rechtspflichten ohne entsprechende Willensentscheidung des Bundestages begründet, so geriete das Parlament in die Rolle des bloßen Nachvollzuges und könnte die haushaltspolitische Gesamtverantwortung im Rahmen seines Budgetrechts nicht mehr wahrnehmen".
Hört sich toll an, bis man begreift, was mit dem Satzteil "ohne konstitutive Zustimmung des Bundestages" gemeint ist: Solange der Bundestag Händchen heben muss bzw. darf, ist das BVerfG zufrieden. Die gleiche Heißluft in
Abs. 212: "Insbesondere darf dieser [der Bundestag] sich keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die - sei es aufgrund ihrer Gesamtkonzeption, sei es aufgrund einer Gesamtwürdigung der Einzelmaßnahmen - zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können, seien es Ausgaben oder Einnahmeausfälle."
Schlüsselbegriff ist auch hier wieder: "ohne vorherige konstitutive Zustimmung", und das ist auch hier zu lesen als: Händchenheben muss sein; ob das unter einem politisch-faktischen Zwang erfolgt, interessiert das Gericht nicht (mehr; im Urteil vor einem Jahr hat das schon eine Rolle gespielt).
Abs. 213: "Eine notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Freiräume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG) besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens der Organe und anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union trifft und dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse“ bleibt."
Das ist eine wörtliche Übernahme aus Abs. 127 des Urteils vom 7.9.11. Wenn das Gericht diese angebliche Verpflichtung zur "Sicherung politischer Freiräume" ernst genommen, und nicht nur sein erbauliches 'Geschwätz von gestern' wieder aufgewärmt hätte (oder sich selbst an diesem erwärmt), hätte es sich die nahe liegende Frage stellen müssen, ob das Bailout-Gebot und der ESM-Haftungsmechanismus nicht schon aufgrund ihrer faktischen Zwangswirkung auf das Parlament die Haushaltshoheit des Bundestages in verfassungswidriger Weise einschränken.
Diese Rechtsauffassung wurde sogar von der Klägerseite ausdrücklich geltend gemacht, auf jeden Fall in dem von mir "übersetzten" Schriftsatz von Prof. Dr. Dietrich Murswiek (für MdB Dr. Peter Gauweiler) vom 01.08.2012. Auf S. 3 heißt es dort (meine Hervorhebungen):
"Ob Deutschland sich in eine Währungsunion begibt, in der es zwar nicht rechtlich, aber
doch faktisch gezwungen ist, für andere Mitgliedstaaten hohe Milliardentransfers zu leisten, ohne für die Gründe dieser Transfers verantwortlich zu sein, macht für die Haushaltsautonomie keinen Unterschied. Die Haushaltsautonomie Deutschlands und seines Parlaments ist auch dann nicht mehr gegeben, wenn eine autonome Entscheidung über Haushaltsmittel in Höhe hoher Milliardenbeträge aufgrund faktischer politischer Zwänge nicht mehr möglich ist. Die demokratiesichernde Funktion des Bail-out-Verbots besteht darin, solche faktischen Zwänge auszuschließen."
Es ist in meinen Augen erschreckend, mit welcher Methode das Gericht einer Auseinandersetzung mit dieser Rechtsmeinung ausgewichen ist: In der Wiedergabe der von den verschiedenen Klägern vorgetragenen Argumente (Abs. 146 - 166) hat es diesen Sachverhalt, der für die Rechtsfindung doch zentral ist, schlicht und einfach unterschlagen!
Ich bin (zwar kein Jurist, aber:) dieser Klägervortrag hätte berücksichtigt werden müssen. Konkret wäre er im Abs. 151 der Urteilsbegründung zu referieren gewesen. Das Gericht gibt das Vorbringen der Kläger an dieser Stelle wie folgt wieder:
"Die Zustimmung zum Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus bewirke eine mit den Strukturprinzipien des Grundgesetzes, insbesondere mit dem Demokratieprinzip, nicht vereinbare Übertragung wesentlicher Aufgaben und Befugnisse auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus. Damit entäußere sich der Deutsche Bundestag in verfassungswidriger Weise seiner Haushaltsautonomie. Er beschneide auch die Haushaltsautonomie künftiger Bundestage, indem er einen Haftungs- und Leistungsautomatismus in Gang setze, dem sich diese nicht mehr entziehen könnten."
Eine sauber arbeitende Rechtsfindung hätte an diese Sätze Ausführungen etwa wie folgt anschließen müssen:
"Insoweit komme es nicht darauf an, ob das Parlament zwar nicht rechtlich, aber doch politisch-faktisch gezwungen sein werde, für andere Mitgliedstaaten hohe Milliardentransfers zu leisten, ohne für die Gründe dieser Transfers verantwortlich zu sein.
Und selbst wenn es diesen Klägervortrag nicht referiert hätte, hätte es sich in seiner Urteilsbegründung dazu äußern und ggf. begründen müssen, warum es eine rein faktische Fesselung des Bundestages entweder nicht für gegeben, oder aber für rechtlich unerheblich hält.
Dass das Gericht eben dies unterlassen hat, kann ich nicht für ein Versehen halten; hier unterstelle ich Vorsatz und halte das für einen Justizskandal erster Güte.
Abs. 214: "Es dürfen zudem keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind."
Das hört sich viel versprechend an, um so mehr, wenn man später (Abs. 236) liest, dass das Gericht selber den ESM als einen "Mechanismus" bezeichnet ("Art. 136 Abs. 3 AEUV setzt selbst keinen Stabilitätsmechanismus ins Werk, sondern eröffnet den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit, entsprechende Mechanismen auf völkervertraglicher Grundlage zu installieren"). Außerdem lässt auch das Wort "hinauslaufen" Hoffnung aufkeimen. Denn das bedeutet ja im allgemeinen Sprachgebrauch, dass eine Entwicklung nicht in dieser Weise geplant ist, sich aber faktisch ergibt. Eben wie bei der Eurettungspolitik Deutschland faktisch immer tiefer in den Schuldensumpf hineingezogen werden wird. Aber nein, Satz mit X:
"Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden."
Auch hier fährt das Gericht wieder voll auf die formale Schiene ab: Einen "Mechanismus" im Sinne der vorliegenden Textstelle würde es nur dann annehmen, wenn der Bundestag nicht einmal pro forma vorher über anstehende Hilfsmaßnahmen abstimmen dürfte.
Abs. 216 + 217 beschäftigen sich mit der Frage, ob es Höchstgrenzen gibt, bis zu denen sich das Parlament, selbst wenn es frei entscheiden kann, verpflichten darf. Jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang sieht das Gericht eventuelle absolute Grenzen noch nicht überschritten; insoweit billigt es dem Gesetzgeber einen weiten Entscheidungsspielraum zu.
In meinem "Amicus Curiae"-Blott hatte ich zu diesem Punkt über das frühere Urteil geschrieben: 130 - 132: Diese Passagen sind für eine mögliche Übertragung auf den ESM nur bedingt ergiebig. Hier geht es darum, ob Risikoübernahmen ihrer Höhe nach die Haushaltssouveränität des Parlaments gefährden. Generell gilt insoweit (130): „Das Bundesverfassungsgericht hat sich bei der Feststellung einer verbotenen Entäußerung der Haushaltsautonomie im Hinblick auf den Umfang der Gewährleistungsübernahme auf evidente Verletzungen zu beschränken und namentlich mit Blick auf das Eintrittsrisiko von Gewährleistungen einen Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers zu respektieren.“ Dieser Einschätzungsspielraum wird bei dem ESM nicht mehr bestehen, weil er den Bundestag Zwängen aussetzt, denen dieser sich nicht entziehen kann. Hier ist nicht nur der enorme politische Druck zu erwähnen; vielmehr wird es zu einem „Präzedenzrecht“ kommen, bei dem Abweichungen (bei den Konditionalitäten usw.) faktisch immer nur zu Gunsten der Hilfeempfänger möglich sein werden. Bzw. bei den Betragshöhen nach oben. Ich war also von vornherein nicht davon ausgegangen, dass das Gericht den ESM etwa wegen der Höhe des potentiellen Schadens stoppen würde. Nur hatte ich damals in meiner Argumentation ein Abstellen auf faktische Zwänge statt rein formaler Befugnisse eingefordert. Nachdem das Gericht aber die faktische Dimension völlig ausgeblendet hat, konnte sie diese naturgemäß auch im vorliegenden Zusammenhang nicht berücksichtigen.
Abs. 218 spreizt die Pfauenfedern großer Worte, die sich am Ende doch wieder als Luftballons entpuppen:
"Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages wird seit dem Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion nicht zuletzt durch die Bestimmungen des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union abgesichert."
Hier kann, was speziell den AEUV angeht, der Vertrag nur in seiner bisherigen Form, ohne die neue Klausel des Art. 136 Abs. 3 (der mangels Ratifikation durch Deutschland jedenfalls im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung ja noch nicht Bestandteil des Vertrages war) gemeint sein. Allerdings lässt das Gericht an einer späteren Stelle die Einfügung dieser neuen Vorschrift ausdrücklich zu. Die Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages ist mithin selbst dann noch gewahrt, wenn die absichernden Bestimmungen der Unionsverträge praktisch in ihrem innersten Kern auf den Kopf gestellt werden. Welchen Wert hat ein Urteil, das quasi sagt: Diese Verträge sind verfassungsmäßig notwendig, aber wenn das Gegenteil drin steht, ist's auch gut?
Man kann diese Frage auch anders stellen: Kann ich einem Gericht Vertrauen entgegenbringen, dessen scheinbar klare Worte sich bei genauerem Hinsehen als Kaugummi erweisen?
Die verbleibenden Absätze (Nr. 219 - 222) der Erwägungen, die das Urteil tragen sollen, gründen sich im Kern darauf, dass das Bundesverfassungsgericht Schindluder mit dem Begriff "Stabilität" treibt.
1) Der normale Leser stellt sich darunter die Kaufkraftstabilität der Währung vor, dass also der Geldwert nicht weginflationiert wird.
2) Allenfalls könnte man noch an "Stabilität der Währungszone" in dem Sinne denken, dass sämtliche Mitglieder in dieser Währungsunion gehalten werden sollen. Eben das ist ja der eigentliche Sinn der ganzen Eurettungsveranstaltung. Das sind keine Maßnahmen zur Rettung des Euro (wie man dem verängstigten Bürger immer wieder weismachen will, wie es aber leider auch die sprachliche Bequemlichkeit anbietet: "Euro-Rettung" ist halt deutlich kürzer als "Kompletterhaltung des Mitgliederbestandes der Eurozone"). Aber diesen politischen und wirtschaftlichen Stabilitätsbegriff, der hinter den ganzen Maßnahmen steht, verwendet das Gericht überhaupt nicht. Es sieht also die Kompletterhaltung der Eurozone keineswegs als ein Ziel an, das für Deutschland nach dem Grundgesetz verpflichtend anzustreben wäre.
Nicht ohne Grund vermeidet das Verfassungsgericht, die Stabilität des Mitgliederbestandes der Eurozone in seinen Stabilitätsbegriff aufzunehmen. Es wäre dann nämlich gezwungen, die Möglichkeit von Zielkonflikten zu erörtern und sich darüber auszulassen, ob z. B. die Mitgliederstabilität eine Verletzung der Kaufkraftstabilität oder eine Verletzung der Haushaltsstabilität rechtfertigt. (Beides liegt ja nahe, wird aktuell diskutiert und war Gegenstand der Kritik an der Aufhebung des Bailoutverbotes, der Einführung des ESM-Vertrages und des aktuell von der EZB geplanten konkludenten Zusammenwirkens mit diesen Maßnahmen durch parallel zu anderen Rettungsmaßnahmen erfolgende Staatsanleihenkäufe - wenn auch "nur" am Sekundärmarkt).
3) Das Gericht verwendet allerdings einen weiteren Stabilitätsbegriff, die fiskalische Stabilität.
Abs. 219: "Das geltende Integrationsprogramm gestaltet die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft aus. Dies ist, wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt hervorgehoben hat, wesentliche Grundlage für die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der Währungsunion. Die Verträge laufen dabei nicht nur hinsichtlich der Währungsstabilität mit den Anforderungen des Art. 88 Satz 2 GG, gegebenenfalls auch des Art. 14 Abs. 1 GG, parallel, der die Beachtung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und das vorrangige Ziel der Preisstabilität zu dauerhaft geltenden Verfassungsanforderungen der deutschen Beteiligung an der Währungsunion macht (vgl. Art. 127 Abs. 1, Art. 130 AEUV); auch weitere zentrale Vorschriften zur Ausgestaltung der Währungsunion sichern die verfassungsrechtlichen Anforderungen unionsrechtlich ab. Das gilt insbesondere für das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank, das Verbot der Haftungsübernahme (Bail-out-Klausel) und die Stabilitätskriterien für eine tragfähige Haushaltswirtschaft (Art. 123 bis Art. 126, Art. 136 AEUV)."
In diesem Absatz verwendet das Gericht den Begriff "Stabilitätsgemeinschaft" in der Art eines Oberbegriffs. Dass damit keineswegs nur die
- Kaufkraftstabilität ("Währungsstabilität")
gemeint sein kann, ergibt sich bereits aus der grammatikalischen Konstruktion "[verfassungskonform] nicht nur hinsichtlich der Währungsstabilität" ... "sondern auch weitere ... Vorschriften sichern die verfassunsgrechtlichen Anforderungen ... ab". Es muss sich also um andere Stabilitäten handeln als die Kaufkraftstabilität. Das Gericht definiert sein diesbezügliches Stabilitätsverständnis nicht näher, sondern verweist auf Art. 123 - 126 und 136 AEUV (natürlich alter Fassung, also ohne den neuen 3. Absatz).
Was ist in diesen Vorschriften geregelt, und welcher Form von Stabilität dienen diese Regelungen?
Art. 123 Abs. 1 enthält das Verbot monetärer Staatsfinanzierung. Das dient ausschließlich der Kaufkraftstabilität. Ausdrücklich ist dies zwar als vorrangiges Ziel für die Geldpolitik der EZB im Art. 127 Abs. 1 normiert, und die Unabhängigkeit der Notenbank von Regierungen im Art. 130. Diese beiden Rechtsnormen hat der vorliegende Absatz bereits im 1. Teil im Zusammenhang mit der Währungsstabilität behandelt. Einigermaßen rätselhaft ist, wieso das Gericht dort nicht auch den Art. 123 aufgeführt hat. Als Verbot des Gelddruckens für die Staatsschuldenfinanzierung dient er einzig und allein der Kaufkraftsicherung. Den Art. 124 können wir hier vernachlässigen.
Die Artikel 125 und 126 AEUV haben indes eine völlig andere Funktion: Sie dienen beide der Fiskalischen Stabilität. Das Gericht spricht zwar nur im Zusammenhang mit dem Art. 126 (Verbot übermäßiger Defizite) von "Stabilitätskriterien für eine tragfähige Haushaltswirtschaft". (Die einzelnen Teilsätze im letzten Satz beziehen sich jeweils auf einen bzw. zwei Artikel des AEUV.)
Indes enthält der Art. 125 keine Rechtsnorm, die von der Notenbank beachtet werden müsste; Normadressaten sind hier ausschließlich die EU selbst und deren Mitgliedstaaten. Schon deshalb kann es hier logischer Weise nicht um Kaufkraftstabilität gehen, sondern ausschließlich um die Stabilität der Staatshaushalte.
Und das ergibt sich ja auch inhaltlich eindeutig aus der Vorschrift: Sie will die Mitgliedstaaten davor bewahren, ihre eigenen Staatshaushalte zu ruinieren, indem sie anderen Staaten aus der Patsche helfen müssen. Und nach ausdrücklicher Feststellung des Gerichts, das insoweit nicht umsonst von BailoutVERBOT spricht, entbindet diese Norm die Staaten nicht nur von einer Hilfspflicht (die sie trotzdem freiwillig erfüllen dürften): Er VERBIETET ihnen, andere Staaten 'rauszuhauen'.
In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der Stabilitätsbegriff als Oberbegriff untauglich ist. Stabil sein können Brücken, Ehen oder die Wetterlage, und natürlich auch der Staatshaushalt oder die Kaufkraft. Diese unterschiedlichen Sachverhalte lassen sich aber nicht und einen Stabilitätsbegriff subsumieren. Es handelt sich um einen Eigenschaftsbegriff. Daher ist es sinnlos, von "Stabilität" zu sprechen, wenn man nicht genau bezeichnet (oder aus dem Zusammenhang eindeutig klar ist) wovon man redet. Dass die Verfassungsrichter genau diese Klarstellung an vielen Stellen unterlassen, ist kein versehentlich unterlaufener Fehler. Es ist der bewusste Versuch einem verängstigten Volk, das um die Währungsstabilität (Kaufkraftstabilität) fürchtet, vorzuspiegeln, dass die aktuellen Eurettungsmaßnahmen eben diese Form von Stabilität sichern sollen. Das ist jedoch weder der Zweck dieser Maßnahmen, noch werden sie zu einer so verstandenen Stabilität führen. Im Gegenteil ist die EZB bekanntlich gerade dabei, die Schleusen für die Staatsfinanzierung zu öffnen - und damit die Kaufkraftstabilität zu gefährden.
(Fairer Weise muss man allerdings einräumen, dass das Gericht dem ESM stabilitätsfördernde Einschränkungen auferlegt - 'keine Banklizenz' und sogar versucht, der sich abzeichnenden Staatsschuldenfinanzierung durch die EZB in den Arm zu fallen: vgl. dazu näher den Artikel "Gericht hat Kauf von Staatsanleihen durch EZB verboten" von Prof. Dr. Hans-Werner Sinn in der Wirtschaftswoche vom 17.09.2012. Was allerdings die EZB angeht, über die das deutsche Verfassungsgericht keine Jurisdiktion hat, dürfte die sich kaum beeindrucken lassen. Und zwar umso weniger, als das Gericht lediglich einen Anleihekauf zum Zwecke der Staatsschuldenfinanzierung untersagt hat, während die EZB - wie jedermann weiß, wahrheitswidrig, aber dennoch unverdrossen - behauptet, dass derartige Käufe nur der Durchsetzung ihrer Geldpolitik dienen.)
Abs. 220: "Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages wird in Ansehung der Übertragung der Währungshoheit auf das Europäische System der Zentralbanken namentlich durch die Unterwerfung der Europäischen Zentralbank unter die strengen Kriterien des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union und der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Zentralbank und der Priorität der Geldwertstabilität gesichert . Ein wesentliches Element zur unionsrechtlichen Absicherung der verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG ist insoweit das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank."
Welche Logik hinter diesen Ausführungen stecken soll, ist für mich schlicht nicht nachvollziehbar; das Gericht wirft Äpfel und Birnen in einen Topf und sagt dem Leser "Wohl bekomm's":
- Nach dem ersten Satz geht es in diesem Absatz insgesamt um die "haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages". Die kann sich naturgemäß nur auf den Bundeshaushalt erstrecken, nicht auf die Kaufkraftstabilität, die früher von der Bundesbank zu sichern war, und heute von der EZB. Das "Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank" hat nichts mit der Stabilität des Staatshaushaltes zu tun, sondern betrifft die Kaufkrafterhaltung: Die EZB soll die Staaten nicht mit der Notenpresse finanzieren, wie die Notenbank Anfang der 20er Jahre in Deutschland, oder zuletzt etwa in Zimbabwe.
Die unmittelbare Funktion dieser inhaltlich sinnfreien Ausführungen ist wohl die, auf den Folgeabsatz vorzubereiten und eine Scheinrechtfertigung für die dramatische Kehrtwende des Gerichts im Abs. 221 zu liefern. Außerdem kehrt der Begriff der "haushaltspolitischen Gesamtverantwortung" des Parlaments in Abs. 222 wieder. Die gedachte (Schein-)Logik der Argumentation ist also offenbar wie folgt:
'Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Parlaments wird wesentlich dadurch gesichert, dass die EZB Staatsschulden nicht über die Notenpresse finanzieren darf.'
Das ist ein hanebüchener Unsinn, denn die von der EZB zu sichernde Kaufkraftstabilität und die Budgethoheit des Bundestages sind zwei völlig verschiedene Dinge.
Abs. 221: "Die bisherige vertragliche Ausgestaltung der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft bedeutet indes nicht, dass eine demokratisch legitimierte Änderung in der konkreten Ausgestaltung der unionsrechtlichen Stabilitätsvorgaben von vornherein mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar wäre. Nicht jede einzelne Ausprägung dieser Stabilitätsgemeinschaft ist durch die hier allein maßgeblichen Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG garantiert."
An dieser Stelle (und im folgenden Abs. 222) bereitet das Gericht seine spätere Entscheidung vor, wonach das Bailoutverbot nicht durch das Grundgesetz garantiert ist.
Das BVerfG hat im Abs. 219 einen perfiden Mix aus Kaufkraftstabilität und Haushaltsstabilität offenbar bewusst zum Cocktail "Stabilitätsgemeinschaft" verrührt, um die ehrfürchtig zu ihm empor starrenden Bürger darüber hinwegzutäuschen, dass es den Bundestag nunmehr ermächtigt, Verpflichtungen einzugehen, welche den Ruin der fiskalischen Stabilität (Haushaltsstabilität) zur Folge haben können. 'Die Stabilitätsgemeinschaft bleibt trotz Wegfall des Bailoutverbots erhalten, weil die Staatsfinanzierung durch die EZB weiterhin verboten bleibt' kann man die "Logik" des Gerichts übersetzen.
Damit manscht es jedoch zwei völlig verschiedene Stabilitätssachverhalte zusammen, die nichts miteinander zu tun haben:
- Haushaltsstabilität: Deutschland kann pleite gehen, ohne dass es zur Inflation kommt und
- Kaufkraftstabilität: Eine Inflation kann kommen, ohne dass Deutschland in die Insolvenz geht. (Tatsächlich würde der Fiskus sogar gewaltig profitieren: Die Steuerzahler kämen schneller in die Progression, und Kredite, die der Staat einst in gutem Geld aufgenommen hat, zahlt er dann mit "schlechtem" Geld problemlos zurück.)
"Art. 79 Abs. 3 GG gewährleistet nicht den unveränderten Bestand des geltenden Rechts, sondern Strukturen und Verfahren, die den demokratischen Prozess offen halten und dabei auch die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Parlaments sichern. Schon in seinem Maastricht-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, dass eine kontinuierliche Fortentwicklung der Währungsunion zur Erfüllung des Stabilitätsauftrags erforderlich werden kann, wenn andernfalls die Konzeption der als Stabilitätsgemeinschaft angelegten Währungsunion verlassen werden würde (vgl. BVerfGE 89, 155 <205>). [Absatz von mir eingefügt!]
Wenn sich die Währungsunion mit dem geltenden Integrationsprogramm in ihrer ursprünglichen Struktur nicht verwirklichen lässt, bedarf es erneuter politischer Entscheidungen, wie weiter vorgegangen werden soll (vgl. BVerfGE 89, 155 <207>; 97, 350 <369>). Es ist Sache des Gesetzgebers, darüber zu befinden, wie etwaigen Schwächen der Währungsunion durch eine Änderung des Unionsrechts entgegen gewirkt werden soll."
Hier macht das Gericht in den von mir aufgeteilten beiden Absätzen total unterschiedliche Ausführungen zum gleichen Sachverhalt:
Im 1. Absatz spricht es von "haushaltspolitischer Gesamtverantwortung des Parlaments", "Erfüllung des Stabilitätsauftrags" und der Sicherung der "Konzeption der als Stabilitätsgemeinschaft angelegten Währungsunion". Es knüpft dort also Änderungen in den Rechtsgrundlagen der Währungsunion (wobei es ausgesprochen dreist die von ihm selbst die später im Abs. 232 eingeräumte "grundlegende Umgestaltung" der Währungsunion als "kontinuierliche Fortentwicklung" tarnt) daran, dass es um diese Ziele geht. Hier kann nur die Stabilität der Kaufkraft gemeint sein; anderenfalls hätte das Gericht von "Stabilität der Währungsunion" sprechen müssen. Allenfalls käme noch die Haushaltsstabilität in Betracht. Nachdem es oben den Stabilitätsbegriff auch für diese verwendet hat, empfinde ich es als ausgesprochen hinterhältig, dass das Gericht nicht klarstellt, was es hier unter "Stabilität" versteht. Denn beides, Kaufkraft- und Haushaltsstabilität sind, wie schon dargelegt, völlig unterschiedliche Sachverhalte. Die lassen sich auch nicht unter einen gemeinsamen Stabilitätsbegriff subsumieren, weil Stabilität kein Oberbegriff ist, sondern lediglich eine Eigenschaftsbezeichnung, die je nach Zusammenhang völlig unterschiedliche Bedeutungen hat.
Wie auch immer: Keinesfalls geht es um eine Mitgliederstabilität der Währungsunion; eine solche Deutung wäre selbst bei weitherziger Textauslegung unvertretbar. Denn "Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft" ist nun einmal etwas völlig anderes als 'mitgliederstabile Währungsunion'. (Und steht darüber hinaus potentiell sogar in einem Gegensatzverhältnis, sofern sich Mitgliederstabilität nur um den Preis von Inflation sichern lässt.)
Im 2. Absatz haben sich die Richter von den (zumindest verbalen) Einschränkungen des 1. Absatzes dann total gelöst: "Wenn sich die Währungsunion mit dem geltenden Integrationsprogramm in ihrer ursprünglichen Struktur nicht verwirklichen lässt, bedarf es erneuter politischer Entscheidungen, wie weiter vorgegangen werden soll."
Isoliert man diese Formulierung, könnte der Gesetzgeber an den rechtlichen Grundlagen der Währungsunion ändern was er will (bzw. technisch betrachtet: entsprechenden Vertragsänderungen zustimmen); Hauptsache, der Erhalt der Währungsunion in ihrem kompletten Mitgliederbestand wird gesichert, oder, wie das Gericht sagt: "eventuellen Schwächen [wird] entgegengewirkt".
Mit dem Inhalt des 2. Absatzes wäre 'Polen offen'; sogar die Kaufkraftstabilität wäre zur Disposition gestellt. Wenn sich die Währungsunion nicht ohne Inflation zusammenhalten lässt, dürfte man sogar diese riskieren. (Dass es faktisch genau so kommen wird, sagt uns in aller Ehrlichkeit sogar Jürgen Fitschen von der Deutschen Bank - während die Politik uns nach Kräften belügt und Wolfgang Schäuble sogar dem Mahner Jens Weidmann den Mund verbieten will, was dieser sich allerdings nicht bieten lässt. Aber darum geht es bei der vorliegenden Textanalyse nicht.) Wenn das Gericht auch bei zukünftigen Entscheidungen nach jenem modus operandi vorgeht, den es aktuell verwendet hat, würde mich eine entsprechende Begründung, d. h. ein Wegfall der ganzen Stabilitätsrhetorik, nicht einmal erstaunen.
Allerdings muss man bis dahin zu Gunsten des Gerichts von der Annahme ausgehen, dass der Abs. 222 zusammenhängend zu lesen ist, d. h. dass Änderungen an den Rechtsgrundlagen der Währungsunion nur unter den in (meinem) 1. Abs. vom Gericht formulierten Bedingungen zulässig sein sollen. Dann fragt es sich allerdings, auf welche Weise die Abschaffung des Bailoutverbots, die faktische Einführung eines Bailoutgebots und das Eingehen von gigantischen Hilfsverpflichtungen, noch dazu für ewige Zeiten, geeignet sein sollen, "die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Parlaments [zu] sichern". Dazu hätte man um so mehr ein Wort des Gerichts erwartet, als es vor einem Jahr eben diese Rechtsnormen noch als notwendige Sicherungen der "haushaltspolitischen Gesamtverantwortung" des Bundestages bezeichnet hatte. Oder wie diese Maßnahmen "zur Erfüllung des Stabilitätsauftrags notwendig" sein sollen, wenn man unter Stabilitätsunion eben nicht die Stabilität der Mitgliederzahl versteht (was das Gericht selber an keiner Stelle tut!), sondern a) Kaufkraftstabilität und b) Stabilität des deutschen Bundeshaushaltes.
Man kann es nicht oft genug wiederholen, dass das Gericht selbst das Bailoutgebot noch am 7.09.11 als verfassungsnotwendigen Bestandteil für die deutsche Mitgliedschaft in der Währungsunion deklariert hatte. Insoweit geht es auch nicht um Kaufkraftstabilität: Die wird nicht durch das an die Staaten gerichtete Bailoutverbot gesichert, sondern durch das an die EZB gerichtete Verbot der monetären Staatsfinanzierung. Vielmehr geht es bei dem Bailoutverbot ausschließlich um die Haushaltsstabilität. Wenn das Gericht jetzt von Maßnahmen zur Sicherung einer "als Stabilitätsgemeinschaft angelegten Währungsunion" spricht dann verschleiert es diese Dimension und täuscht vor, dass es in seiner früheren Rechtsprechung lediglich um Kaufkraftstabilität gegangen sei. Das ist eindeutig falsch; was die Eurettungspolitik angeht, ging es ausschließlich um Haushaltsstabilität, und die wird, auch wenn das Gericht Gegenteiliges zu suggerieren versucht, durch eine Aufhebung des Bailoutverbots nicht nur nicht gerettet: sie wird damit sogar aufs Spiel gesetzt.
Stabilitätsfördernd ist ein Bailoutmechanismus einzig und allein für den Mitgliederbestand. Aber diese Art von "Stabilität" hat das Gericht nirgends zum prioritären Ziel erklärt.
Welche Stabilitätskriterien bei der Kaufkraft und dem deutschen Bundeshaushalt würden bitte verletzt, wenn das Gericht die o. a. Maßnahmen nicht hätte passieren lassen? Keine natürlich; im Gegenteil wird jedwede Stabilität, wenn man den Begriff mit dem Gericht auf die Kaufkraft einerseits und den deutschen Bundeshaushalt andererseits bezieht, gerade durch die Einführung dieser Maßnahmen gefährdet. Das Gericht versucht also hier, uns Bürgern ein X für ein U vorzumachen; es verkauft uns regelrecht für doof.
Das ist eine juristische Katastrophe, wie sie der ehemalige Verfassungsrichter Prof. Dr. Paul Kirchhof schon in seinem FAZ-Beitrag "Verfassungsnot!" vom 12.07.2012 vorausgeahnt oder zumindest für möglich gehalten hatte: "Die EU steckt in der Krise, weil Recht missachtet wurde. Und wir spielen weiter mit dem Feuer: Eine Instabilität des Rechts wiegt schwerer als eine Instabilität der Finanzen. Wer das nicht begreift, dem hilft auch keine Zentralgewalt mehr" lautet die Einleitung.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Art und Weise, wie es sein aktuelles Urteil zusammengeschustert hat, das Haus des Rechts vorsätzlich in Brand gesteckt!
(Im Gegensatz zum BVerfG sieht Kirchhof in einem aktuellen FAZ-Artikel vom 16.09.12 u. d. T. "Schuldenkrise. Der steinige Weg zurück" auch jene Tatsache realistisch, vor der das Verfassungsgericht beide Augen und zusätzlich noch die Hühneraugen verschließt: "Zudem drängen die Gläubiger auf eine gemeinsame Haftung aller Mitgliedstaaten des Euroverbundes, gefährden damit das Budgetrecht der staatlichen Parlamente und die Grundprinzipien der Demokratie". Er gibt dem Gericht zwar - unverdient - Zucker, indem er von "klarer Aussage" spricht. Aber dann stellt er noch klarer heraus, dass das Gericht nur einen "Schritt" in die richtige Richtung gegangen ist, also das Recht nicht wiedergewonnen hat. Vielmehr leben wir auch nach dem Urteil noch immer in einer "gegenwärtigen Rechtsvergessenheit". Deswegen soll der EuGH leisten, wovor das Verfassungsgericht zurückgeschreckt ist: Dem Recht zum Siege verhelfen: "Dieser Schritt zur Rückgewinnung des Rechts könnte vom EuGH erweitert und bestärkt werden, wenn dieses Gericht ... Gültigkeit und Reichweite der geplanten Ermächtigung zu einem dauerhaften Hilfsmechanismus beurteilt. Die gegenwärtige Rechtsvergessenheit ..... sollte durch eine entschlossene Rückkehr zur Stabilität von Recht und Geld abgelöst werden." Bei verständiger Würdigung seines jüngsten Artikels muss man feststellen, dass Paul Kirchhof in höflichen Behauptungen - "klare Aussage" - eine geradezu vernichtende Kritik am BVerfG verpackt: 'Gegenwärtig leben wir noch immer in Rechtsvergessenheit; nur wenn der EuGH den ESM kippt, wird das Recht wiederhergestellt'. DAS ist der Kern seiner Aussage! Und damit hat er natürlich völlig Recht.)
Mit dem Abs. 222 endet derjenige Teil der allgemeinen Erwägungen, der sich um die Aufhebung des Bailoutverbots und den ESM-Vertrag dreht. Die anschließenden Absätze 223 - 228 betreffen den Fiskalpakt inhaltlich, und 229 eine formale Frage zur Klageberechtigung (der Fraktion der Linken).
Warum das Verfassungsgericht Deutschlands Zustimmung zur Abschaffung des Bailoutverbots und Deutschlands Beitritt zum ESM-Vertrag nicht für verfassungswidrig hält, also zulässt, wird in den Abs. 230 - 238 begründet. Hier erklärt (bzw. "erklärt") das Gericht mithin, wie es die oben allgemein entwickelten Grundsätze auf den konkreten Fall übertragen hat.
Abs. 230 enthält die Entscheidung (die bereits in Abs. 207 angekündigt worden war):
"Nach diesen Maßstäben erweisen sich die Anträge als überwiegend unbegründet."
Die Klagen werden also im Kern abgewiesen.
Abs. 231 leitet den ersten Abschnitt der Begründung ein, nämlich jenen Teil, in welchem es um die Aufhebung des Bailoutverbots geht:
"Das Gesetz zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus ... verstößt bei summarischer Prüfung nicht gegen Art. 38 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG."
Um diesen Abschnitt, der sich bis einschl. Abs. 238 erstreckt, geht es mir. Schauen wir uns die einzelnen Absätze im Detail an:
Abs. 232: "Die Einführung von Art. 136 Abs. 3 AEUV bedeutet zwar eine grundlegende Umgestaltung der bisherigen Wirtschafts- und Währungsunion. ... Die Einrichtung eines dauerhaften Mechanismus zur gegenseitigen Hilfeleistung der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes außerhalb des Rahmens der Europäischen Union löst sich, wenn auch noch nicht vollständig, von dem die Währungsunion bislang charakterisierenden Prinzip der Eigenständigkeit der nationalen Haushalte."
Hier räumt das Gericht immerhin ein, dass mit der Aufhebung des Bailoutverbots a) die rechtliche Struktur der Währungsunion erheblich verändert wird und dass b) dadurch das Prinzip der Eigenständigkeit der Staatshaushalte der Mitgliedsländer eingeschränkt wird.
Die nachfolgende Definition von "Eigenständigkeit der nationalen Haushalte" ist freilich eine höchstrichterliche Verhöhnung der Realität:
"Denn sie relativiert die mit diesem Prinzip verbundene Marktabhängigkeit in Bezug auf die staatlichen Refinanzierungsmöglichkeiten, indem Hilfeleistungen auch zwischen den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes zugelassen werden, wenn dies zur Stabilisierung des Euro-Währungsgebietes insgesamt unabdingbar ist."
Diesen Satz können wir bedeutungsäquivalent umformulieren in:
"Krisenländer können (unter einer bestimmten allgemeinen Voraussetzung, die nicht unmittelbar mit ihnen selbst zu tun haben) Hilfen von den anderen Mitgliedsländern bekommen. Dann sind in ihrer Finanzierung nicht mehr auf die Finanzmärkte angewiesen. Dadurch sind ihre Staatshaushalte nicht mehr völlig eigenständig."
Niemand würde auf die Idee kommen, den Budgets von Entwicklungsländern oder dem von den USA hoch subventionierten israelischen Staatshaushalt eine eingeschränkte Eigenständigkeit zuzusprechen, weil sie teilweise von anderen Ländern finanziert werden.
Tatsächlich eingeschränkt sind denn auch nicht die Haushalte der Krisenländer, sondern jene der Geberländer. Durch die Einführung einer Vorschrift in den AEUV, mit der faktisch nicht nur das Haftungsverbot abgeschafft, sondern eine Haftungspflicht (Präzedenzfälle!) eingeführt wird, wird deren Haushaltshoheit eingeschränkt. Beispiel: Wenn der ESM 100 Mrd. € an Spanien verliehen hat, und Italien nun (in einer vergleichbaren Problemlage) 200 Mrd. € "benötigt", dann ist das so lange kein Problem für den deutschen Bundeshaushalt, wie der ESM genügend Mittel hat. Sind die aber erschöpft, müsste das Kapital erhöht werden. Geht man davon aus, dass auch zukünftig das Eigenkapital des Fonds ca. 27% des Gesamtkapitals ausmachen soll (190 Mrd. : 700 Mrd.), müssten die Gesellschafter, d. h. die Staaten, ca. 54 Mrd. € neu einschießen. Davon hat Deutschland wiederum ca. 27% Anteil, also rund 15 Mrd. €. Der Bundestag stände damit politisch-faktisch in der Pflicht, 15 Mrd. € zu bewilligen. Zum Vergleich: Etat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in 2010 ca. 11 Mrd. € (Wikipedia: "Bundeshaushaltsplan")! Nun kann man sich (und genau das tun die Verfassungsrichter im Ergebnis) auf den Standpunkt stellen: "Interessiert mich nicht, solange die Abgeordneten die Erhöhung zumindest rechtlich ablehnen können". Das funktioniert aber nicht mehr bei folgendem Szenario:
Italien hat 200 Mrd. € aus dem Fonds erhalten, und zahlt sie nicht zurück. Dann müssten (unterstellt, dass die jeweiligen Beteiligungs-Höchstgrenzen damit nicht überschritten werden) alle Länder zusammen diese 200 Mrd. € in den Fonds einschießen. Deutschland davon wiederum 27% (wobei ich hier der Einfachheit halber ausblende, dass der Anteil in Wirklichkeit höher wäre, weil die noch zahlungsfähigen Länder einschl. D. ja auch den italienischen Gesellschaftsanteil schultern müssten) = 54 Mrd. €. Das sind über ein Sechstel des deutschen Bundeshaushalts von ca. 300 Mrd. €, bzw. beinahe das Doppelte des deutschen Verteidigungshaushalts (ca. 31 Mrd. €), oder über ein Viertel mehr als die gesamten jährlichen Zinsen auf die deutschen Staatsschulden (knapp unter 40 Mrd. €).
Indem das BVerfG trotz dieser Faktenlage verschweigt, dass der deutsche Bundeshaushalt mit der Aufhebung des Bailout-Verbots und mit der Einführung des Staatshilfenfonds ESM seine Eigenständigkeit verliert, spottet es nicht nur jeglicher Realität: Es verhöhnt zuallererst die Kläger und sämtliche deutschen Bürger.
Warum ist die Frage der Eigenständigkeit der Staatshaushalte rechtlich wichtig?
Nun, vor einem Jahr noch hatte das Gericht dazu in Abs. 129 des EFSF-Urteils ausgeführt: "Ohne dass es hier auf die Auslegung dieser Bestimmungen im Einzelnen ankäme, lässt sich ihnen doch entnehmen, dass die Eigenständigkeit der nationalen Haushalte für die gegenwärtige* Ausgestaltung der Währungsunion konstitutiv ist, und dass eine die Legitimationsgrundlagen des Staatenverbundes überdehnende Haftungsübernahme für finanzwirksame Willensentschließungen anderer Mitgliedstaaten - durch direkte oder indirekte Vergemeinschaftung von Staatsschulden - verhindert werden soll."
Wenn also das Gericht eingestanden hätte, dass auch die Haushalte der (Netto-)Zahlerländer ihre Eigenständigkeit mit dem neuen Eurettungsmechanismus verlieren, hätte es vor Begründungsproblemen gestanden. Vor denen hat es sich gedrückt - indem es im Ergebnis schlicht und einfach die Tatsache geleugnet hat, dass der Bailoutmechanismus die Haushaltssouveränität des Bundestages faktisch zu einem großen Teil aushebelt.
[*Man könnte auf die Idee kommen, dass das Wort "gegenwärtig" in dem o. a. Textauszug eine Einschränkung dergestalt enthält, dass dem Gesetzgeber zukünftig eine Änderung freigestellt sei. Dass dies nicht so ist, sondern das hier verfassungsmäßig zwingende Anforderungen beschrieben werden, ergibt sich aus den in der Urteilsbegründung vorangehenden Sätzen: "Auch weitere zentrale Vorschriften zur Ausgestaltung der Währungsunion sichern unionsrechtlich verfassungsrechtliche Anforderungen des Demokratiegebots. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere das Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln öffentlicher Einrichtungen durch die Europäische Zentralbank, das Verbot der Haftungsübernahme (Bail-out-Klausel) und die Stabilitätskriterien für eine tragfähige Haushaltswirtschaft (Art. 123 bis 126, Art. 136 AEUV)."]
Abs. 233: "Mit der Aufnahme von Art. 136 Abs. 3 AEUV in das Unionsrecht wird die stabilitätsgerichtete Ausrichtung der Währungsunion jedoch nicht aufgegeben."
Das Gericht baut hier insofern einen Popanz auf, als es den Klägern bei dieser Vorschrift gar nicht um (Kaufkraft-)Stabilität geht. Das Bailoutverbot in Art. 125 sollte nicht die Kaufkraftstabilität sichern: dafür wäre es völlig ungeeignet. Vielmehr sollte es die Haushaltshoheit auch faktisch sichern, indem die (potentiellen) Geberländer vor einem politisch-faktischen Zugzwang schützen wollte, der sie de facto zwingen könnte, riesige Beträge aus den Steuerleistungen ihrer eigenen Bürger an fremde Länder zu verschenken.
So liegen die folgenden Ausführungen des Gerichts, die ausschließlich auf die Kaufkraftstabilität abheben, total neben der Sache:
"Wesentliche Bestandteile der Stabilitätsarchitektur bleiben auch in Ansehung dieser Öffnungsklausel unangetastet. So werden insbesondere die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, ihre Verpflichtung auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität (vgl. Art. 127, 130 AEUV) und das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung (Art. 123 AEUV) nicht berührt; ...".
Im anschließenden Satzteil
"im Gegenteil bekräftigt die Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 AEUV, einen dauerhaften Mechanismus zur Gewährung von Finanzhilfen einzurichten, den Willen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten, die Aufgaben der Europäischen Zentralbank strikt auf den ihr unionsrechtlich vorgegebenen Rahmen zu begrenzen"
erinnert uns der Begriff "Mechanismus" daran, dass er sehr nahe am "Automatismus" liegt. Das hatte das Verfassungsgericht seinerzeit ebenfalls so gesehen, als es in Abs. 125 seiner EFSF-Entscheidung schrieb: "..... darf der Deutsche Bundestag seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Insbesondere darf er sich, auch durch Gesetz, keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die - sei es aufgrund ihrer Gesamtkonzeption, sei es aufgrund einer Gesamtwürdigung der Einzelmaßnahmen - zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ..... führen können." Allerdings habe ich hier den Satzteil "Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können" ausgelassen. Es ist klar, dass Mechanismen dann rein formal keine Automatismen sind, wenn die jeweiligen Einzelentscheidungen einer Zustimmung bedürfen. Trotzdem können sie natürlich de facto Sachzwänge schaffen, welche das Zustimmungserfordernis des Parlaments mehr oder weniger zu einer bloßen Förmlichkeit degradieren. Diesen Sachverhalt erwähne ich hier jedoch lediglich pro memoriam, nicht als Kritik an der konkreten Urteilspassage.
Zu dieser ist vielmehr festzuhalten, dass die Richter an dieser Stelle ihre in Abs. 278 geäußerte Rechtsmeinung vorbereiten, wonach "ein Erwerb von Staatsanleihen am Sekundärmarkt durch die Europäische Zentralbank, der auf von den Kapitalmärkten unabhängige Finanzierung der Haushalte der Mitgliedstaaten zielte, ist als Umgehung des Verbotes monetärer Haushaltsfinanzierung ebenfalls untersagt" sei. Damit werde ich mich hier nicht näher befassen; aber schon als kurz nach der Urteilsbegründung Jubelmeldungen in Facebook kamen, wonach das Verfassungsgericht den Kauf von Sekundäranleihen verboten habe, habe ich empfohlen, die Passage richtig zu lesen. Dann merkt man nämlich, dass der Relativsatz in der Passage "Erwerb von Staatsanleihen am Sekundärmarkt durch die Europäische Zentralbank, der auf von den Kapitalmärkten unabhängige Finanzierung der Haushalte der Mitgliedstaaten zielte" eine Einschränkung enthält, die der EZB ein Schlupfloch so groß wie ein Scheunentor belässt: Wenn es der EZB (vorgeblich) nicht um Staatsfinanzierung geht, sondern um die 'Sicherung der gleichmäßigen Wirkung der Geldpolitik in allen Ländern der Währungsunion', ist ihr der Anleihekauf am Sekundärmarkt auch nach der Meinung des BVerfG (um die sich die EZB ohnehin einen Dreck scheren wird) erlaubt. Und Staaten wollte die EZB ja angeblich nie finanzieren: also kein Problem. Und, was das Gericht angeht: heiße Luft. Denn die von mir aufgezeigte Umgehungsbegründungs-Strategie ist ja allgemein bekannt, auch den Richtern. Was die großspurig verbieten, tut die EZB ja sowieso nicht - behaupten jedenfalls Draghi, Asmussen & Co.
Völlig unerheblich für die Geberstaaten ist auch der Satz:
Ebenso wenig befreit Art. 136 Abs. 3 AEUV von der Verpflichtung zur Haushaltsdisziplin (vgl. Art. 126, Art. 136 Abs. 1 AEUV).
Darum geht es den Klägern und den Kritikern überhaupt nicht, sondern um die mögliche Zerstörung der Haushaltshoheit in Deutschland als Geberland.
Dreist wiederum ist die Darstellung des Gerichts in den Sätzen
Allein im Bereich der in Art. 125 Abs. 1 AEUV normierten Haftungsausschlüsse lässt Art. 136 Abs. 3 AEUV nunmehr freiwillige Finanzhilfen zu, die allerdings nicht losgelöst von weiteren Anforderungen und nicht zu beliebigen Zwecken gewährt werden können. Vielmehr legt Art. 136 Abs. 3 AEUV sowohl den Ermächtigungszweck als auch den Charakter als Ausnahmevorschrift fest, indem die Finanzhilfen der Währungsstabilität dienen müssen und überdies nur aktiviert werden dürfen, wenn dies zur Stabilisierung des Euro-Währungsgebietes insgesamt unabdingbar ist."
Denn
a) Mit der Formulierung "Allein im Bereich der ... Haftungsausschlüsse" erweckt das Gericht den Eindruck, als ob mit Art. 125 Abs. 1 AEUV eine gesamtschuldnerische Haftung der Länder untereinander und/oder der EU als ganzes mit den Ländern nur für bestimmte Sachverhalte ausgeschlossen habe. Tatsächlich handelt es sich aber um einen umfassenden Haftungsausschluss. Ebenso erweckt das Gericht den Eindruck, dass dieser Satz irgendwie als ein Sonderfall logisch an den vorangegangenen Satz anknüpft. In Wahrheit besteht ein solcher Zusammenhang nicht; das Verbot der übermäßigen Verschuldung hat logisch nichts mit dem Verbot der Haftungsübernahme für andere zu tun; die Regelungen stehen nicht in einem einseitigen oder gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander.
b) Befremdlich ist es auch, dass das Gericht die tatsächliche Aufhebung des Bailoutverbotes und die Einführung eines faktischen Bailoutgebotes als "Ausnahmevorschrift" verniedlicht. Richtig ist insoweit zwar, dass aufgrund des Fortbestandes von Artikel 125,1 AEUV nach wie vor keine automatische gegenseitige Haftungsübernahme eintritt. Aber eine solche wäre mangels rechtlicher Grundlage ohnehin auch dann nicht eingetreten, wenn es diese Vorschrift nicht gäbe. Auch deshalb kann man sie (wie das Gericht das ja auch selber korrekt tut) nur im Sinne eines Verbots von gegenseitigen (bzw. unionsseitigen) Finanzhilfen verstehen.
c) Inakzeptabel ist auch, wenn das Gericht es als feststehende Tatsache hinstellt, dass nach Art. 136,3 AEUV "Finanzhilfen der Währungsstabilität dienen müssen". In der Vorschrift ist von "Währungsstabilität" überhaupt nicht die Rede; dort heißt es lediglich "wenn dies [Hilfszahlungen bzw. Hilfskredite] unerlässlich ist, um die Stabilität der Euro-Zone als Ganzes zu sichern". Dass dies etwas völlig anderes ist, weiß das Gericht durchaus. Es hat ja diesen Passus selber zitiert, und ihn sprachlich mit einem "überdies" als angeblich weitere Bedingung neben der Währungsstabilität klassifiziert. Tatsächlich ist aber nach dem Text die 'Zonenstabilität' die alleinige Bedingung für den Hilfefall; um Währungsstabilität i. S. von Kaufkraftstabilität (und nur so kann ja der Begriff vom Gericht hier gemeint sein, weil es selber die Zonen-Stabilität davon unterscheidet) geht es in der neuen Bailout-Regelung (die ich als Bailout-Gebot bezeichne) überhaupt nicht. Das Gericht mag behaupten, im Wege der Auslegung ermittelt zu haben, dass Hilfeleistungen nur dann zulässig seien, wenn neben der Zonenstabilität auch die Währungsstabilität in Gefahr sei. Die Politik ist daran jedoch schon deshalb nicht gebunden, weil von Währungsstabilität in der Rechtsnorm keine Rede ist. (Davon abgesehen ist eine solche Auslegung ohnehin weit hergeholt.) Die aktuelle politische Debatte, in der es u. a. um die Rettung eines Landes wie Zypern geht, dessen Bankrott mit Sicherheit nicht die Stabilität des Euro als Währung gefährden würde, kümmert sich ohnehin nicht darum.
Tatsächlich weicht schon der Art. 3 des ESM-Vertrages das Erfordernis einer Stabilisierung der Eurozone insgesamt wieder auf. Dort heißt es nämlich: "Zweck des ESM ist es, ... ESM-Mitgliedern ... eine Stabilitätshilfe bereitzustellen, wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist." Wenn man naiv liest "und seiner Mitgliedstaaten", wird man das für eine Zusatzbedingung halten, die den Vertragstext verschärfen will. Nur wäre sie als solche sinnlos, denn wenn die Finanzstabilität der ganzen Zone gefährdet ist, sind zwangsläufig auch die Mitgliedstaaten gefährdet. Die Währungsunion ist in dieser Hinsicht ja nichts anderes als die Summe ihrer Mitglieder. In Wahrheit ist die Konjunktion "und" als "oder" gemeint: Nach dem ESM-Vertrag soll Hilfe auch dann geleistet werden, wenn nicht die Zonenstabilität insgesamt gefährdet ist, sondern lediglich diejenige einzelner Mitgliedstaaten. Nur in dieser Bedeutung macht der Passus Sinn, und so handelt ja auch die Politik: Sonst müsste sie sich keine Gedanken darüber machen, Zypern oder Slowenien zu retten. (Ist ja auch verständlich, dass diese Staaten dem ESM nicht beigetreten wären, wenn sie selber niemals in den Genuss seiner Leistungen gelangen könnten.)
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Gericht nicht nur die tatsächlichen, sondern sogar die rechtlichen Verhältnisse mythisiert, um sich eine Scheinrechtfertigung für die Aufhebung jenes Bailoutverbots zurecht zu zimmern, welches es noch vor einem Jahr - und in Kenntnis der damals politisch schon gefassten Beschlüsse für dessen Aufhebung - als unverzichtbar für das Demokratieprinzip des Grundgesetzes erklärt hatte.
Eine solche Wende ist in jedem Fall peinlich; durch die Art und Weise, wie das Gericht sie zu verschleiern versucht, wird sie darüber hinaus anstößig.
Abs. 234: "Die Entscheidung des Gesetzgebers, die auch weiterhin auf Stabilität ausgerichtete Struktur der Währungsunion neben den bisherigen Elementen einer unabhängigen, der Preisstabilität verpflichteten Zentralbank (Art. 127 Abs. 1, Art. 130 AEUV), der Verpflichtung zur Haushaltsdisziplin (vgl. Art. 126, Art. 136 Abs. 1 AEUV) und der auf Marktanreize setzenden Eigenverantwortlichkeit der nationalen Haushalte (Art. 123 bis Art. 125 AEUV) um die Möglichkeit aktiver Stabilisierungsmaßnahmen zu ergänzen, sowie die damit verbundene Prognose, mit solchen Maßnahmen die Stabilität der Währungsunion gewährleisten und fortentwickeln zu können, hat das Bundesverfassungsgericht angesichts des - die Beurteilung der Risiken alternativer Handlungsoptionen einschließenden - Einschätzungsspielraums der zuständigen Verfassungsorgane (vgl. B.II.1.b)cc)) grundsätzlich auch insoweit zu respektieren, als Risiken für die Preisstabilität aufgrund dieser Entscheidung nicht auszuschließen sind."
Die Währungsunion wird insoweit, als sie bisher das "auf Marktanreize setzenden Eigenverantwortlichkeit der nationalen Haushalte" enthielt, nicht um die Möglichkeit von Stabilisierungsmaßnahmen "ergänzt". Vielmehr wird mit dem neu eingeführten Art. 136 Abs. 3 das Prinzip der haushaltspolitischen Eigenverantwortung der Länder ausgehebelt. Es geht insoweit auch nicht um Risiken für die Preisstabilität (die lediglich durch eine EZB-Finanzierung der Staatsschulden gefährdet sein könnte), sondern um den mit der Aufhebung des Bailoutverbots in der politischen Lebenswirklichkeit faktisch eintretenden Teilverlust der Haushaltshoheit des deutschen Bundestages. Also um das Demokratieprinzip in Deutschland als einem Zahlerland. Von dieser Rechtsproblematik will das Gericht offensichtlich ablenken, indem es ständig die (angeblich gesicherte) Wahrung der Preisstabilität in den Vordergrund rückt.
Allerdings gehen die Richter in den Abs. 235 - 237 (238 interessiert hier nicht weiter) dann doch noch auf diese Problemdimension ein und verneinen in Abs. 235 einen Verlust der nationalen Haushaltsautonomie durch die neue Bailoutregelung.
Art. 235: "Die im Anschluss an die Einführung des Art. 136 Abs. 3 AEUV unionsrechtlich ausdrücklich eröffnete Möglichkeit, auf völkerrechtlicher Grundlage einen Stabilitätsmechanismus einzurichten, führt nicht zu einem Verlust der nationalen Haushaltsautonomie."
Art. 236: "Mit dem Zustimmungsgesetz zu Art. 136 Abs. 3 AEUV überträgt der Deutsche Bundestag keine haushaltspolitischen Ermächtigungen auf andere Akteure. Es besteht nicht die Gefahr, dass die Bundesrepublik Deutschland ohne vorherige konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einem finanzwirksamen Mechanismus ausgeliefert wird, der zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen führen kann oder auf eine unbeeinflussbare Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinausläuft. Art. 136 Abs. 3 AEUV setzt selbst keinen Stabilitätsmechanismus ins Werk, sondern eröffnet den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit, entsprechende Mechanismen auf völkervertraglicher Grundlage zu installieren. Damit werden jedenfalls keine Kompetenzen auf die Organe der Europäischen Union übertragen; es sollen vielmehr mitgliedstaatliche Kompetenzen aufgegriffen und deren Verhältnis zum währungsrechtlichen Regelwerk der Union festgelegt werden. Gleichzeitig wird über den Weg eines völkervertragsrechtlichen Stabilitätsmechanismus gewährleistet, dass nur solche Mitgliedstaaten haften, die an ihm teilhaben. So betrachtet bestätigt Art. 136 Abs. 3 AEUV die Souveränität der Mitgliedstaaten, indem er ihnen die Entscheidung überantwortet, ob und in welcher Weise ein Stabilitätsmechanismus eingerichtet wird."
a) Das Gericht stellt hier rein formal darauf ab, dass die Abgeordneten ja vorher Händchen heben dürfen und müssen ("vorherige konstitutive Zustimmung"), ehe größere Finanzbeträge bewegt werden. Dass sie de facto wegen politischer Zwänge und wegen der Sogwirkung von Präzendenzfällen zu solchen Entscheidungen gezwungen sein werden, und dass auf den Bundeshaushalt riesige Belastungen zukommen können, ohne dass denen eine (unmittelbare) Entscheidung der Abgeordneten zu Grunde liegt (vgl. oben zu Abs. 232, Thema "Eigenständigkeit der Budgets"), blenden die Richter bei ihren Erörterungen einfach aus. Das ist nicht nur vom Ergebnis her ärgerlich: Das ist in meinen Augen vor allem auf der rein verfahrensrechtlichen Ebene skandalös.
b) Uns die Abschaffung eines Bailoutverbots, welches das Gericht selber vor just einem Jahr als deutsches Verfassungserfordernis bezeichnet hatte, als eine 'Bestätigung der Souveränität der Mitgliedstaaten' zu verkaufen ist eine Frechheit, die einem den Atem raubt.
Abs. 237: "Damit scheidet eine Beeinträchtigung des Demokratiegebots durch die Zustimmung zur Einführung des Art. 136 Abs. 3 AEUV schon deshalb aus, weil mit dem Ratifizierungserfordernis für die Einrichtung des Stabilitätsmechanismus eine Mitwirkung der Gesetzgebungsorgane vor dessen Inkrafttreten vorausgesetzt wird. In diesem Fall erfährt der über Art. 136 Abs. 3 AEUV installierte Stabilitätsmechanismus selbst eine demokratische Legitimation, mit der der parlamentarische Gesetzgeber auch die konkrete Ausgestaltung verantwortet. Inwieweit die Ausgestaltung des vom Gesetzgeber gebilligten Mechanismus verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, betrifft nicht die hier maßgebliche Frage, ob der Deutsche Bundestag der Einführung des Art. 136 Abs. 3 AEUV unter Wahrung des durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Kernbereichs zustimmen durfte."
Der letzte Satz besagt wohl nur, dass sich das Gericht mit der konkreten Ausgestaltung des ESM an anderer Stelle beschäftigt; das ist selbstverständlich korrekt und nicht zu beanstanden.
Im ersten Satz rechtfertigt das Gericht die Aufhebung des Bailoutverbots (bzw. nach meinem Verständnis: die Einführung eines faktischen Bailoutgebots) damit, dass die Abgeordneten dem zustimmen mussten, bevor es für Deutschland wirksam wurde. So etwas kann man natürlich behaupten; rein logisch ist das nicht unschlüssig.
Das Problem ist nur, dass das Gericht selber vor gerade einem Jahr (und sogar in Kenntnis der politischen Beschlüsse und Debatten über die Aufhebung des Bailout-Verbots und die Einführung des Bailout-Gebots) im Abs. 129 seines EFSF-Urteils das Bailoutverbot für verfassungsnotwendig erklärt hatte:
"Auch weitere zentrale Vorschriften zur Ausgestaltung der Währungsunion sichern unionsrechtlich verfassungsrechtliche Anforderungen des Demokratiegebots. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere ... das Verbot der Haftungsübernahme (Bail-out-Klausel) und ... (Art. 123 bis 126, Art. 136 AEUV)."
Das Bailout-Verbot sichert das Demokratiegebot, indem ersteres dem Bundestag verbietet, sich faktisch seiner Haushaltshoheit zu entäußern. Wenn dieses Bailoutverbot nach damaliger verfassungsrichterlicher Auslegung des Grundgesetz im Ergebnis einen Rang hat, der es sogar dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzieht, dann lässt sich dessen Abschaffung jetzt nicht damit rechtfertigen, dass der Gesetzgeber der Änderung zugestimmt habe. Oder genauer: Es ließe sich juristisch korrekt lediglich mit einer expliziten Aufgabe der früheren Rechtsmeinung des Gerichts rechtfertigen. Ich bin sicher, dass das Gericht das auch selber sehr genau weiß, und dass es auch weiß, dass seine vorliegende Urteilsbegründung den Versuch darstellt, dem Volk eine konsistente Weiterentwicklung der bisherigen Rechtsprechung nur vorzutäuschen.
Zusammenfassend stelle ich fest:
Dass die Entscheidung des Gerichts nicht logisch schlüssig begründet ist bedeutet nicht, dass man sie nicht logisch widerspruchsfrei (unabhängig davon, was in der Praxis wirklich geschieht bzw. zu erwarten ist) konstruieren kann. Eine solche Konstruktion müsste lauten:
- Mit der Aufhebung des Bailoutverbots können strauchelnde Staaten aus Steuermitteln der anderen Länder gerettet werden.
- Das sichert die Kaufkraftstabilität, weil dadurch vermieden wird, dass die EZB Geld drucken muss, um den Problemländern zu helfen.
Sie setzt aber als notwendige Prämisse voraus, dass man eine Erhaltung der Währungsunion mit (mindestens) ihrem derzeitigen Mitgliederbestand zum obersten Ziel erklärt. Anderenfalls entfällt die Möglichkeit, dass die EZB den Problemländern mit Gelddrucken helfen "muss". Damit könnte man die Aufhebung des Bailoutverbots nicht als (indirekte) Rettungsmaßnahme zur Erhaltung der Kaufkraftstabilität verkaufen.
Eben diese Prämisse ist in der Urteilsbegründung aber weder explizit noch implizit erhalten.
Das wird aus argumentationsstrategischer Sicht auch verständlich wenn man bedenkt, dass sich das Gericht sonst mit möglichen Zielkonflikten zwischen Kaufkraftstabilität, Haushaltsstabilität (und Haushaltshoheit) und Mitgliederstabilität hätte auseinandersetzen müssen. Dieser Herausforderung entzieht sich das Gericht, indem es als oberste Ziele lediglich einerseits die Währungsstabilität und andererseits die Budgethoheit des Parlaments benennt.
Unter dieser Argumentationsstrategie glaubt das Gericht sich auf die Behauptung beschränken zu dürfen, dass die Zulassung von Bailouts und die Einrichtung eines dauerhaften Bailoutmechanismus weder gegen das eine noch gegen das andere Prinzip verstößt.
Damit bleiben die Richter dem Publikum nicht nur eine inhaltliche Begründung schuldig, warum die Aufhebung einer Klausel, die sie in seiner früheren Rechtsprechung als notwendig für den Erhalt der Haushaltshoheit des deutschen Parlaments bezeichnet hatten, nun plötzlich entbehrlich sein soll. Sie versuchen darüber hinaus mit allen Mitteln zu verschleiern, dass ihr jüngstes Urteil mit ihrer früheren Rechtsprechung unvereinbar ist.
Zusammenfassend erhalten wir folgendes Resultat:
Das Bundesverfassungsgericht gibt sich alle erdenkliche Mühe, uns Deutsche mit einer inhaltsleeren Stabilitätsrhetorik darüber hinwegzutäuschen, dass es seine aktuelle (Eil-)Entscheidung zur Eurettungspolitik nicht im Wege einer sauberen Rechtsauslegung gefunden hat. Obwohl das jüngste Urteil eindeutig keine Fortentwicklung seiner früheren Rechtsprechung ist, sondern ein klarer Bruch mit dieser, bekennt sich das Gericht nicht ehrlich zu diesem Sinneswandel. Stattdessen versucht es, sich mit bombastischen Worten gegenüber dem verängstigten Volk als Hüter von Stabilität an allen Fronten zu präsentieren.
In Wahrheit haben die Verfassungsrichter jedoch ein rein politisches Urteil gefällt, mit dem sie sich in opportunistischer Servilität den Forderungen der weltweiten Politik und Finanzmärkte gebeugt haben. Es tut mir Leid, mein Urteil über die Begründungsstrategie des Gerichts so formulieren zu müssen, wie ich das im Titel getan habe. Aber um diesen ungeheuerlichen Sachverhalt von Roßtäuscher-"Rechtsprechung" angemessen zu bezeichnen, stellt uns die deutsche Sprache kein treffenderes Wort zur Verfügung als "verscheißern". Genau darauf hat es unser höchstes Gericht in seinem neuesten Urteil zur Euhaftungspolitik angelegt.
An der Beurteilung als politisches Urteil hätte es nichts geändert, wenn sich das Gericht offen und ehrlich zu seinem Sinneswandel bekannt und das Urteil logisch schlüssig auf einer Priorisierung des Kompletterhaltes der Währungsunion aufgebaut hätte.
Dass das Gericht sein Einknicken stattdessen als normale Rechtsentwicklung zu tarnen versucht, streut nicht nur zusätzlich Salz in die Wunden der Euhaftungsgegner.Es ist vor allem eine juristische Katastrophe allergrößten Ausmaßes, wenn wir unserem höchstes Gericht dabei zusehen müssen, wie es sich mit argumentativer Flickschusterei aus der Bredouille zieht.
Am Ergebnis ändert meine Analyse nichts mehr. Aber zumindest bei mir und bei den Lesern dieses Blotts ist es dem Gericht gründlich misslungen, uns für dumm zu verkaufen. Wir mussten erleben, wie unsere Rechtskaiser das Recht seiner Würde entkleidet haben.
Folgerungen für unseren zukünftigen weiteren Kampf gegen die Euhaftungsmafia:
Wir Gegner des Eurettungsirrsinns lassen uns dennoch nicht entmutigen.
Wichtig ist es jetzt, dass wir nicht einfach 'rumgrölen' (oder gar nur 'rumnölen'), sondern dass wir unseren nächsten Kampfabschnitt auf ein konkretes und realistisches Ziel fokussieren: Die Verhinderung einer Bankschuldenunion!
Denn wenn der ESM erst einmal die Befugnis hat, Banken direkt zu rekapitalisieren, haften deren Heimatstaaten (aktuell also Spanien, Irland, Zypern, Griechenland und voraussichtlich Slowenien) nicht mehr für Ausfälle. Dass es enormen Verlusten kommen wird, können wir in Deutschland selber am Beispiel der HRE und der Landesbanken leicht erkennen.
Mit anderen Worten: Wenn der ESM Banken direkt rekapitalisieren darf, sind die Transferleistungen, nach denen unsere südlichen "Freunde" so gieren, endgültig festgeklopft.
Und wir bluten in Höhe von -zig und u. U. sogar hunderten von Milliarden Euro - bei einem Bundeshaushalt von ca. 300 Mrd. €.
Sobald also diese Änderung des ESM-Vertrages auf den Tisch kommt, müssen wir unseren Abgeordneten derart zusetzen, dass sie es nicht wagen, der Änderung zuzustimmen. Und ich appelliere an alle einschlägigen Organisationen und Webseiten, schon jetzt in diese Richtung zu planen, aktiv zu werden und das Volk über diese für Deutschland drohende nächste Rutschpartie in den europäischen Schuldensumpf aufzuklären.
Nachdem uns unsere eigenen Berliner Blockparteien schon lange verschaukeln, und jetzt auch noch das Verfassungsgericht mit den gleichen Methoden arbeitet, müssen wir uns mit allen geeigneten (und zulässigen) Mitteln dagegen wehren, dass das herrschende Regime weitere Transferkanäle öffnet, durch die das Deutsche Volk zum Wohle der Finanzmärkte und der Besitzenden in den Problemländern ausgeplündert werden kann (und wird).
Gegenüber dem Verfassungsgericht haben wir es versäumt, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären,
- dass es juristisch zunächst nicht um den ESM geht, sondern um die Aufhebung des Bailoutverbots und
- dass das Gericht eben dieses Bailoutverbot in seiner früheren Rechtsprechung für verfassungsmäßig unverzichtbar erklärt hatte.
Aber das ist Schnee von gestern (aus dem man gleichwohl für morgen lernen sollte!).
Unser nächster Gegner ist wieder die Politik, und zwar dann, wenn die Direktrekapitalisierung der Banken im Bundestag zu entscheiden sein wird.
Das müssen wir wissen, und darauf müssen wir uns vorbereiten!
Es liegt in der Hand meiner Leserinnen und Leser, ob die Kenntnis meiner obigen Untersuchung auf einige wenige beschränkt bleibt, oder eine weite Verbreitung findet.
Jedenfalls darf jede/r, der/dem diese Untersuchung gefallen hat, sie gerne teilen und auf andere Weise weiterverbreiten. (Über einen Link bzw. Quellenhinweis würde ich mich natürlich freuen.) Vielleicht landet sie dann auch bei denjenigen, die geglaubt haben, uns mit ihrer Scheinlogik verarschen zu können.
ceterum censeo
Wer die Währungsunion nicht scheitern lässt, wird Europa scheitern lassen!
Textstand vom 19.09.2012. Gesamtübersicht der Blog-Einträge (Blotts) auf meiner Webseite http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm.