Vereinbarkeit von Familie und Beruf - Die Lebenslüge einer Gesellschaft

Von Stefan Sasse
Anne-Marie Slaughter war so eine Art Vorzeigefrau des amerikanischen Feminismus. Sie war Planungschef im Stab von Außenministerin Hillary Clinton - eine extrem anspruchsvolle Aufgabe, entscheidend in den Abläufen von Politik. Sie war die erste Frau auf dem Posten. 2011 ist sie zurückgetreten, zugunsten einer Professorenstelle in Princeton. Weder vom Anspruch, noch von den Arbeitszeiten, noch vom Gehalt her war dieser Schritt ein besonders schwerer Bruch. Schwer war vielmehr die Begründung, die sie in einem Gastartikel des "Atlantic" gab. Die Überschrift: "Why Women Still Can't Have It All". Darin erklärt sie, dass sie es nicht länger habe ertragen können, die Beziehung zu ihren Kindern und auch ihrem Mann so verkümmern zu sehen und dass Frauen damit eben mehr Probleme hätten als Männer, weswegen sie eben immer noch nicht "alles" haben könnten, Familie und Kinder. Der Artikel hat hohe Wellen geschlagen, viele Feministinnen betrachteten ihn als Verrat - was Quatsch ist, denn eine Professorin in Princeton ist nicht gerade ein Feigenblattposten, um eine Rückkehr hinter den Herd zu verbergen (Kommentar Slaughter: "I can't even cook"). Um eine Argumentation à la Hermann geht es Slaughter offensichtlich nicht. Sie lamentiert eigentlich nur, dass die aufreibenden Top-Jobs an der Spitze von Unternehmen oder Staaten für Frauen nicht mit einer Familie vereinbar seien. Und genau an dieser Stelle ist der Knackpunkt, denn sie sitzt der Lebenslüge einer ganzen Gesellschaft auf und verbreitet sie weiter, der Lebenslüge, die die Familienpolitik der letzten zehn Jahre geprägt hat: dass Familie und Beruf überhaupt "vereinbar" seien.


Blick nach Deutschland. Schon immer sind manche Politikbereiche als wichtiger und ernsthafter angesehen worden als andere. Den Finanz- und Außenminister können die meisten  benennen, aber beim Verbraucherschutz und Verkehr wird es dann meistens doch eher schwierig. Manchmal wandeln sich die Politikbereiche, weil die Umstände andere Gewichte erforderlich machen. Das Wirtschaftsministerium etwa verliert vor dem Hintergrund internationaler Finanzkrisen hinter dem Finanzministerium so deutlich an Boden, dass es nicht nur dank seiner FDP-Besetzung inzwischen praktisch irrelevant ist. In den letzten zehn Jahren transformierte sich besonders ein Politikbereich vom Nieschengeschäft zum Topthema: die Familienpolitik. Gerhard Schröder sprach noch in seiner gewohnt charmanten Art vom Ministerium für "Frauen, Familie und Gedöns". Inzwischen nimmt Familienpolitik besonders wegen des Erziehungsgeldes im Bundeshaushalt einen immer größeren Anteil ein. Das Ziel hinter den Maßnahmen ist zweigleisig: einerseits soll den Frauen, denen der biologische Nachteil des Kindsaustragens zwangsläufig die Karriere erschwert der Weg geebnet werden, andererseits diese Last so zwischen Mann, Frau und Gesellschaft verteilt werden, dass trotz Karriere Kinder möglich sind. Zu diesem Zweck vor allem wurde das Elterngeld eingeführt, das unter der Zielsetzung, mehr Kinder unter "Karrierehaushalten" zu schaffen, als gescheitert angesehen werden muss. Aber diese Idee war auch von Anfang an ein Irrweg, denn es sind nicht die Finanzen, die Topverdiener von der Familienplanung abhalten. Gerade sie brauchen die finanziellen Linderungen am wenigsten.

Sowohl die gesamte Debatte als auch die oben skizzierte Familienpolitik aber leiden unter einem grundsätzlichen Problem: ihrer unhaltbaren Prämisse. Slaughter versucht ebenso wie die Familienpolitiker der letzten Jahre und "Karriere-Feministen", die das Ziel der Frauengleichberechtigung auf Karrieren und Vorstandsposten reduzieren, einer Idee das Wort zu reden, die völlig unerfüllbar ist. Sie postulieren, dass Frauen - in Slaughters Worten - immer noch nicht alles haben können. Wie sie auf die wahnwitzige Idee kommen, dass Männer alles haben könnten, erschließt sich mir nicht. Slaughter hat sicher Recht wenn sie sagt, dass Männer wesentlich häufiger als Frauen die Interessensabwägung zwischen der Familie und den zermürbenden Anforderungen eines Spitzenjobs zugunsten des Jobs abschließen. Das aber lässt sich nicht durch politische Maßnahmen lösen. Egal wie viel Geld in Ausgleichszahlungen gepumpt wird, das Ziel wird dadurch nicht näher kommen als heute. Das liegt daran, dass die Belastung eines solchen Führungsjobs den ganzen Menschen erfordert. Das ist der Preis, der damit einhergeht, schon immer gewesen. Herumreisen in der Weltgeschichte, Meetings bis nach Mitternacht, Arbeitsbeginn um spätestens sechs Uhr früh, ständiger Stress und Druck gewaltiger Verantwortung - all das gehört inhärent zu diesen Jobs dazu. Und das ist auch ein wesentlicher Grund, warum viele Menschen diese Jobs überhaupt nicht machen wollen (eine vernünftige Entscheidung, nebenbei bemerkt). Es braucht schon eine gewisse Mischung bestimmter Charaktereigenschaften, um das durchzuhalten. Geltungsbewusstsein, brennender Ehrgeiz, eine gewisse Hybris, hohe Belastbarkeit, Arroganz. Diese passen nur wenig zu einem erfüllten Privatleben im Kreis der Familie.
Dazu kommen die Anforderungen eines solchen Jobs selbst, wo man sich Fehlzeiten einfach nicht leisten kann. Einige Spitzenpolitiker haben das in der letzten Zeit eindrucksvoll bewiesen. Kristina Schröder und Andrea Nahles sind beide innerhalb von Wochenfrist nach der Entbindung wieder auf ihren Posten gewesen. Warum? Weil sie sie sonst nicht hätten behalten können. Nahles hat sich darüber auch beklagt. Sigmar Gabriel steckt gerade Häme dafür ein, dass er während der Babypause die SPD-Programmdebatte führt. Er ist der Vorsitzende der größten deutschen Partei - ist es ernsthaft vorstellbar, dass er ohne Auswirkungen auf seine politische Arbeit einfach mal für zwei Monate auf Tauchstation gehen kann? Könnte es funktionieren, dass ein Josef Ackermann etwa mal für ein halbes Jahr das Baby hütet, während - ja wer eigenlich? - die Deutsche Bank weiterführt? Und danach kann man reibungslos wieder einsteigen? Diese Lebenslüge gehört endlich als solche benannt. Familie und Spitzenjob lassen sich nicht vereinbaren, weder für Frauen noch für Männer. Beide müssen für diese Positionen ungeheur viel opfern. Wenn sie das wollen, ist das ihr Bier. Ich kann nicht nachvollziehen, was daran so attraktiv ist, aber scheinbar gibt es Menschen, die diese Jobs haben wollen. Man kann aber, um erneut auf Slaughter zurückzugehen, einfach nicht alles haben. Die Anmaßung, die in dieser Überschrift steckt, ist absurd. Man muss sich nun mal entscheiden. Alles geht nicht. Punkt, aus, Ende.
Verlassen wir damit das luftig-entrückte Gebiet der absoluten Spitzenpositionen und begeben uns auf das Feld normaler Berufstätigkeit. Wie sieht es hier aus, jenseits der privilegerierten Positionen? Tatsächlich kann kaum jemand behaupten, dass die Gleichberechtigung im Sinne einer Gleichheit der Chancen und der Auswahl von Lebensentwürfen bereits erreicht sei (rechtlich ist sie erreicht). Noch immer haben es Frauen ungleich schwerer als Männer, eine "normale" Karriere zu verfolgen (also eine, die nicht eine der beschriebenen Spitzenjobs zum Ziel hat). Und, das ist die andere, praktisch nie debattierte Seite der Medialle, noch immer haben es Männer ungleich schwerer als Frauen, sich der Familie zu widmen. Die Entscheidung, welcher Partner arbeiten geht und welcher die Kinder hütet wird, so sie ansteht, noch immer überwiegend entlang alter Rollen entschieden: Mann arbeitet, Frau bleibt zuhause. Zum Teil hat das biologische Gründe (besonders was die Erholung nach der Geburt angeht, deren gewaltige Anstrengungen den Frauen kein Gesetz der Welt abnehmen kann), zum Großteil aber herrschen noch immer alte Klischees vor. Diese aber treffen Männer und Frauen gleichermaßen (ein gutes Beispiel dafür ist dieses Interview, das Geschlechterklischees von weiblicher Seite geradezu forciert). Postuliert man, wie es die aktuelle Debatte tut, den beruflichen Erfolg als höchstes Ziel, so leiden unter diesen Klischees hauptsächlich die Frauen, weil die Männer ohnehin qua Rollenbild in dieser Position sind.  Das aber ist einseitig und ungerecht. Männer, die sich der Familie widmen wollen und etwa die ihnen gesetzlich zustehenden zwei Monate Elternzeit nehmen wollen, sehen sich oft Unverständnis und Anfeindungen ausgesetzt, gerade auch seitens des Arbeitgebers. Dies ist kein weitverbreitetes Problem, weil gerade die Geschlechterklischees dafür sorgen, dass die Nachfrage seitens der Männer nicht besonders hoch ist. Es zeigt aber deutlich, wie die Rollenbilder sich für beide Seiten einschränkend auswirken.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist darüber hinaus auch aus ganz anderen Gründen eine Lebenslüge der Gesellschaft. Selbst wenn wir die Geschlechterklischees in einem Gedankenexperiment elimieren und die Spitzenjobs aus unserer Gleichung streichen, so werden zwei Partner, die beide arbeiten, einfach nicht so viel von ihrem Kind haben können wie Paare, in denen nur eine Person arbeitet (die dann zwar auch nichts hat, aber wenigstens der andere Partner). Der Ausgleich dieser Problematik lässt sich nur auf eine Weise bewerkstelligen: wenn die Jobs derart flexibel würden, dass sich die Partner praktisch abwechseln können (einer arbeitet vormittags, einer nachmittags), die Bezahlung proportional und, vor allem, die Aufstiegschancen und Berufsfelder gleich sind. Das bedeutet, dass ein in Teilzeit arbeitender Partner die gleichen Jobs machen und in ihnen aufsteigen können müsste wie jemand, der dort in Vollzeit arbeitet. Das ist in den meisten Berufen völlig utopisch (in meinem eigenen Berufsfeld ist es möglich, aber der öffentliche Sektor bietet ohnehin bei der Familienplanung viele Vorteile, die der private nicht hat). Und genau hier liegt das Problem. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erfordert derart massive Umbauten an der bisherigen Struktur von Erwerbsarbeit, dass zuerst einmal fraglich ist, ob sie überhaupt möglich sind. Man kann sich das Geschrei der Wirtschaftsvertreter über die Wettbewerbsfähigkeit des Landes unter solch massiven Einschränkungen bereits vorstellen, und gänzlich unberechtigt ist es ja auch nicht. Bis diese Frage geklärt und angegangen ist werden Paare mit Kindern immer Nachteile haben. It comes with the territory.
Kinder und Familie sind anstrengend und kosten Geld, das ist ein Fakt. Die Politik wird wahrscheinlich nie in der Lage sein, diese Lasten komplett zu lindern und gleichmäßig auf die Gesellschaft umzulegen. Sie kann nur versuchen, es möglichst leichter zu machen. Das Elterngeld war ein guter Schritt in diese Richtung. Es steht zu hoffen, dass weitere folgen werden. Finanzielle Erleichterungen sind das Eine. Ebenfalls notwendig ist tatsächlich der Ausbau der Kinderbetreuung, eine Aufgabe, die bisher vernachlässigt wurde und nun zum hektischen Aktionismus der "Krippenoffensive" geführt hat. Doch auch hier gilt: Eltern wollen Kinder nicht, um sie danach in die Krippe zu packen. Sie wollen so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen. Der Ausgleich zwischen den eigenen Wünschen, zu denen oftmals auch die berufliche Betätigung gehört, und denen an das Zusammenleben innerhalb einer Familie ist schwierig, ein dauerhafter Drahtseilakt. Der Staat kann dabei helfen, aber er kann es den Menschen auf Dauer nicht abnehmen. Es braucht einen generellen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft, die die Rolle von Beruf und Familie realistisch klären muss, ohne einfach nur eine bestimmte, schmale Schicht zu privilegieren. Alle diese Schritte können daher auch nur dann Erfolg haben, wenn wir es endlich schaffen, die Geschlechterklischees für beide Seiten abzubauen - und dem hat Slaughter tatsächlich einen Bärendienst erwiesen.


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