Verdins sporadisches #Tagebuch: die Krux mit der Komödiantik

Die folgende, in der "Stuttgarter Zeitung" erschienene Rezension spiegelt die Krux (=empfohlene Duden-Schreibweise) im Verhältnis Kritiker und ausübende Künstler wider. Der Grund für die "falsche" Inszenierung lag schlicht in der Besetzung der Rolle des Edgar. Der Komödiant Paul-Felix Binz passte zwar vom Alter her wunderbar zur Rolle des Edgar,,aber nicht zu den beiden anderen , wesentlich jüngeren Schauspielern, die gewohnt waren, schlanker zu agieren. Mit Binz, so behaupte ich aus heutiger Sicht, war nur pralle Komödie möglich. Mein Stil war im Grunde der, den ich mit Marietta Gerhart in vielen Einzelproben erarbeitet habe. Noch ein Detail von backstage: das Ehepaar Elisabeth Justin-Klaus Heydenreich war geteilter Meinung. Justin gratulierte nach der Premiere: Herr Verdin, das Burgtheater ist nun bei uns angekommen! Klaus Heydenreich hingegen fand die Inszenierung zu wenig komödiantisch, worauf sich unsere Wege bald trennten.

Komödiantische Zimmerschlacht

"Play Strindberg" im Stuttgarter Theater der Altstadt

"Es gibt", lehrt Edgar in "Play Strindberg" vieldeutig, "auf der Welt nur eine einzige Kunst, die zählt: Eliminieren, durchstreichen und weitergeben." Und mit diesem Satz ist haargenau bezeichnet, was Dürrenmatts einzige Kunst war, als er sich seinerzeit auf Strindberg "Totentanz" einließ, Dürrenmatt, der bei der Lektüre dieses eruptiven Geschlechterkampfdramas nichts anderes empfand als ein (begreifliches) "Entsetzen, dass man so etwas spielen will", machte sich eliminierend und durchstreichend darüber her - so lange, bis aus der bürgerlichen Ehetragödie des alten Schweden eine "Komödie über die bürgerlichen Ehetragödien" geworden war: "Play Strindberg".

Dürrenmatt eliminierte alle Nebensätze und alle Methaphysik, er strich alle Tragik durch und alle schwüle Untergründigkeit, er tilgte alle Psychologie und alle hochliterarische Totentanzstimmung.

Was übrigblieb, war ein knappes, knallhartes Ehe-"Match", verbaler Schlagabtausch, ein rundenlanger rhetorischer Boxkampf, nach Dürrenmatts Vorstellung von den Schauspielern "eiskalt" und "artistisch" zu spielen: "ganz absurd".

Und was entstand aus alledem im Stuttgarter Theater der Altstadt, wo Günter Verdin jetzt das Strindberg-"Arrangement" inszinierte? Es entstand, in einem Wort, etwas ungemein Beachtliches auf eine ungemein deplacierte Weise. Verdin, der das Regieführen für "quälender" hält als das Kritikschreiben, scheint Dürrenmatts Intention ganz absichtlich mißverstanden zu haben: er inszinierte statt des kühl "ausstellenden" Replizier-Rituals eine in liebevoller psychologscher Kleinmalerei erstellte Charakterkomödie. Was war daran so "quälend"? Die Begründung jenes Mißverständnisses, Absicht hin oder her, enthält freilich einen unbeabsichtigten Fehler: Es gehe, schreibt Verdin im Programmheft, nicht darum, Play Strindberg" zu "Play Dürrenmatt" zu verfremden, sondern darum, "hörbar zu machen, wie Strindberg sich heute sprechen lässt" - und genau darum geht es absolut nicht. "Das heißt also auf keinen Fall", fährt der Regisseur ungerührt fort, "dem in der verbalen Reduktion versuchten Wiederbelebungsversuch den komödiantischen Sauerstoff zu entziehen" - und da täuscht er sich nun abermals ganz furchtbar: Denn Dürrenmatt praktizierte an Strindberg keinen "Wiederbelebungsversuch", sondern einen klaren Vergwaltigungsversuch - oder, um es mit der gebührenden Neutralität zu sagen, einen Benutzungsversuch, und zwar einen gelungenen. Dürrenmatt fand die "Totentanz"-Vorlage in großen Stücken lächerlich, für unsere Zeit und überhaupt: Erst in der Groteske, im höllenpeinlichen Kabarett, offenbart sich für ihn die wahre tragikomische Lebensabsurdität. Wie heißt Dürrenmatts vielberufener Glaubenssatz? "Uns kommt nur noch die Komödie bei." Von Komödiantik hat er nichts gesagt.

Mit anderen Worten: Verdin hat eine gute falsche Inszenierung geliefert, deren launige Spiellust sich selbstherrlich gegen alle tiefsinnigen inszenatorischen Arrangierpläne durchsetzte (was sollte da noch der vorangestellte "Totentanz"-Monolog aus dem Lautsprecher, was sollten die tanzerstarrten Sihouettengestallten, was sollte der "Off"-Dialog zwischen Kurt und Alice?); und damit liegt der Verdacht nahe, Verdins Inszenierung sei im Zweifelsfall nicht besser als - seine Schauspieler. Die aber spielen überwiegend (notabene, es sind bloß drei) glänzend; wobei man sagen darf, dass Marietta Gerhart als zänkisch, böse Bißgurn und streng-frigides Eheweib ihren Part noch am ehesten so schnippisch-kalt und "funktionell" hielt, wie Dürrenmatts Schlag-Wortwechsel dies vorsehen mochte. Paul-Felix Binz dagegen, der stiefelschlurfende Gatte im bunten Rcok, legte sich als tückevoll bramarbasierender Hausdepot von Anfang an komödiantisch voll ins Zeug, und das soll hier heißen: durchaus subtil. Schlauhöflich grinsend, aber motorisch unbewegt wie der Verkäufer einer Kaufhauskonfektionsabteilung: Hans-Jürgen Theiss, der als schlaffer, blonder Ephebe Kurt zwischen den "verfluchten " Gatten steht. Ein Rauschgoldgangster, bestenfalls.

Natürlich ist Paul-Felix Binz, dieser unentwegt von Herzanfällen auf dem Teppich gezwungene Edgar, welcher - quasi als ein großer Muheim der Militärschriftstellerei - seiner Frau ums Verrecken nicht den Spaß macht abzukratzen, der Star des Abends. Seine freßszenisch differenzierte Komödiantik, seine Bojarentänze und apoplektischen Abschlaffereien im Lehnstuhl - all dies verrät hohe mimische Begabung.

Man darf dem Berner Schauspieler, der vor sechs Jahren zum erstenmal in der Stuttgarter Altstadt spielte ("Canissa" von Plautus) und der demnächst in Stuttgart auch das "Glas Wasser" füllen helfen wird, zu seinen bravourösen mimischen Künsten unbedingt gratulieren - nur hat er sie im falschen Stück gezeigt oder vorsichtiger, in der falschen Inszenierung eines Stückes, das schwerlich eine "richtige" Komödie zeigen wollte und zuallerletzt "richtigen" Strindberg.

RUPRECHT SKASA-WEISS

Anmerkung: Meine Recherchen hinsichtlich Marietta Gerhart und Hans-Jürgen Theiss hatten wenig Erfolg. Es gibt zwar einen Schauspieler Hans-Jürgen Theiss, der zum Zeitpunkt des Zeitungsartikels 61 Jahre alt war, das zum Artikel veröffentlichte Foto lässt aber keine Ähnlichkeit mit dem Schauspieler aus "Play Strindberg " zu.

Zu Paul-Felix Binz gibt es folgenden Eintrag im Schweizer Theaterlexikon.

* 17.10.1932 Bern, † 19.9.2002 Bern.

Nach der Hotelfachschule 1953–56 Schauspielausbildung am →Bühnenstudio Zürich. 1957 erstes Engagement an den Hamburger Kammerspielen unter Ida Ehre. 1958–61 fest am →Atelier-Theater, Bern BE unter →Raoul Alster engagiert (unter anderem Corvino in Jonson/Zweigs "Volpone" und Wirt in Ionescos "Die Nashörner"). Danach als freischaffender Schauspieler tätig, unter anderem in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre in Bern am →Galerietheater Die Rampe (unter anderem 1963 Peter in Albees "Die Zoogeschichte", 1967 Inspektor in Robert Thomas’ "Die Falle", 1969 in Peter Weiss’ "Gesang vom Lusitanischen Popanz", 1971 Egon in →Heinrich Henkels "Eisenwichser") und am →Kleintheater Kramgasse 6, Bern BE(zahlreiche Hauptrollen in Stücken von →Curt Goetz). Weitere Engagements unter anderem 1972–73 am Theater der Altstadt Stuttgart (Edgar in "Play Strindberg" von Friedrich Dürrenmatt; Regie: Günter Verdin, Bolingbroke in Scribes "Das Glas Wasser", Schriftsteller in →Friedrich Dürrenmatts "Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen"), ab 1974 am →Städtebundtheater Biel-Solothurn (1974 Gustav Oberholzer in →Paul Burkhards "Der schwarze Hecht", 1981 Totengräber in Shakespeares "Hamlet"), ab 1977 erneut am Atelier-Theater Bern (1977 Sosias in Peter Hacks’ "Amphitryon", 1979 La Flèche in Molières "Der Geizige", 1983 Mitch in Williams’ "Endstation Sehnsucht") sowie am →Stadttheater Chur, Chur GR (Felix in Martin Walsers "Die Zimmerschlacht", Ed Kemp in Ortons "Seid nett zu Mr. Sloane", Pfarrer in "Das Wirtshaus im Spessart" nach Wilhelm Hauff). 1980–82 in musikalischen Lustspielen am →Stadttheater St. Gallen, unter anderem nochmals als Gustav in Burkhards "Der schwarze Hecht", den er 1982 auch am →Stadttheater Bern, Bern BE spielte. 1985–90 in Kindermusicals am →Opernhaus Zürich, Zürich ZH. Ausserdem bis 1993 regelmässig am →Sommertheater Winterthur, Winterthur ZH. Diverse Hörspiel- und Filmrollen.

Quelle: Schweizer Theaterlexikon

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