So beginnen die Tage und Wochen zu stürzen. Die Hälfte meiner Chilezeit ist schon überschritten. Je mehr ich in dieses Leben hier sinke und hineinzupassen beginne, desto weniger vermag ich es, mich aus der Vogelperspektive zu betrachten und zu beschreiben, wie es ist: Wie es ist, morgens auf dem Fahrrad Gedankenfetzen nachzuhängen, ohne auf den Weg zur Arbeit zu achten, weil ich ihn schon so sehr verinnerlicht habe. Wie es ist, sich in einer endlosen Reihe von warmen Sonnentagen mit den Anderen über einen einzigen bewölkten, kühlen Tag dazwischen zu wundern. Wie es ist, nach 20 Uhr im Abendglühen durch den Park zu laufen, zu laufen ... und zwischen Musik und Papageienlachen hindurch die vielen Erlebnisse der Wochenenden sickern und sacken zu lassen. Wie es ist, sich das Fremde vertraut und zu Facetten des Alltags zu machen. So, dass es einfach immer weitergehen könnte, wären da nicht das Vermissen und das Erinnern meines eigentlichen Lebens, das mir so gut passt. Wäre da nicht F, der in Paris auf mich wartet und dessen Zustimmung zu meinen vielen flatternden Plänen einen Halt für mich bedeutet.
Es ist gut, eine begrenzte Zeit hier zu haben. Es bewirkt, dass ich nicht zögere und zaudere, nichts verschiebe, sondern alles erleben, lernen, sehen will, was eben in diese drei Monate passt.
Und ich frage mich, ob man eine Art inneren Speicher mit Lebensintensität anlegen kann, aus dem man schöpft, wenn dünner gesäte Zeiten kommen und nichts zu passieren scheint.
Hier zu sein, bedeutet, mir nochmal ein anderes Leben anzuziehen. Eines, das ich wie einen geliehenen Mantel nur eine gewisse Zeit lang trage. Eines, in das ich auch erst einmal hineinwachsen musste, das mich reizt, kratzt, warmhält. Eines, das ich bald wieder ablegen werde und von dem doch etwas bleiben wird. Verwebt in meine Haut. Verwebt in Bilder und Texte, mit denen ich meine schwirrende Chilezeit wie in einem Schmetterlingsnetz einfange.
So gehe ich ein paar weitere Wochen in Santiago - mit zwei Seelen in der Brust, einer, die die Ferne liebt und maßlos auskosten will, und einer, die die Zeit abzählt und der weh ist nach Heimat und Erdung ...