Verdammt! Hätte ich doch nicht aus der Kirche austreten sollen?

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Verdammt_Kirchenaustritt
“…in aller Deutlichkeit…”

Sie sind flott, nicht flotter als die Feuerwehr, auch wenn es darum geht, ein Feuer zu löschen. Aber immerhin flotter als das Finanzamt… Das hatte beinahe einen Monat Zeit, meinen neuen Ewigkeitszustand auf der Steuerkarte zu vermerken – aber vielleicht warten sie ja noch? Doch mit Datum drei Tage nach meiner förmlichen Erklärung „Nein, ich möchte das nicht mehr!“ erreichte mich ein eng beschriebener (also eng formatierter) Brief der seit meinem Umzug zuständigen Kirchengemeinde. Bzw., denn Kirchengemeinde scheint ein veralteter Ausdruck zu sein, der „Seelsorgeeinheit“.

Apropos veraltet, apropos „Feuer löschen“: In dem Brief der Seelsorgeeinheit wird nicht der schöne, weil so viele Bilder transportierende Ausdruck des „Höllenfeuers“ verwendet, vielleicht weil er – eben – veraltet ist. Aber gleichwohl – immerhin richtet sich der Brief an jemanden, der fast ein halbes Jahrhundert zur allumfassenden Seelsorgeeinheit dazu gehört hat – schwingt er im Duktus mit.

Für die Eingeweihten muss nicht alles ausgesprochen werden.

„Ich bitte Sie um Verständnis, wenn ich Ihnen die Konsequenzen Ihrer Erklärung des Kirchenaustritts in aller Deutlichkeit dargelegt habe…“

“Mein Pfarrer…”

Ihr Pfarrer – so ist unterschrieben. Wobei ich unter „Mein Pfarrer“ immer noch den Pfarrer meiner Kindheit und Jugend verstehe. Den Pfarrer, der mich getauft hat (woran ich mich nicht erinnere), den Pfarrer, in dessen Nähe ich, die Fahne für unsere Bruderschaft haltend, in der Mitglied war, vor lauter Weihrauchgeruch zusammenklappte. Den ich bei Beerdigungen von verunglückten Schulkameraden von unergründlichen Ratschlüssen Gottes reden hörte, die so unergründlich waren, dass ich sie als Kind nicht verstand. Der eine schöne Rede bei der Beerdigung meiner Oma sprach (wo ich schon älter war). Der – hier springe ich einige Jahre zurück – auf meine Bitte hin, mir Dreikäsehoch einige Sünden zu nennen, die ich beichten könnte, hilfreich beisprang („Eltern belogen“, „Geschwister geärgert“) und mich dann mit einigen Ave Maria und Vater Unser in eine der Bänke unserer schönen Pfarrkirche (und dank seiner Absolution) in eine Höllenfeuer freie Zukunft entließ. Der Pfarrer, der mich Pubertierenden bei meiner letzten Beichte fragte, ob ich denn schon einmal Hand an mich gelegt hätte (meine letzte Beichte, weil ich – der ich mich in meiner Intimsphäre verletzt fühlte – fortan nicht mehr um Absolution ersuchte).

Den Pfarrer der mich nun brieflich kontaktierenden Seelsorgeeinheit habe ich nie kennengelernt. Sicherlich meine „Schuld“, dass er mir unbekannter ist als einige Mitglieder der hiesigen Zeugen Jehovas-Gemeinde, die ich – aufgrund ihrer lächelnden Besuche an unserer Haustüre – wenigstens vom Sehen her kenne. Aber vielleicht bin ich auch nur zu früh ausgetreten? Sieht man sich die Tendenzen an, dann nähert sich die Katholische Kirche solchen Zahlen an, die Haustürbesuche vielleicht einmal notwendig machen.

Aber ich will nicht polemisch werden. Immerhin geht es um mein Seelenheil. Auch wenn dieser – wohl auch veraltete – Begriff nicht in dem besagten Brief benutzt wird. Warum eigentlich nicht? Warum wird hier nicht Tacheles geredet? Mir wird sogar angeboten, mich mit einer katholischen Seelsorgerin zwecks Gespräch zu verabreden. Meine Güte, wie modern. Und das sogar „meiner Wahl“. Da gehe ich vielleicht doch einmal in eine Veranstaltung der hiesigen Seelsorgeeinheit und schaue mir eine besonderes hübsche Seelsorgerin aus…

“…den Glauben zu bewahren…”

Nein, keine Polemik. Zudem bin ich ja auch fest liiert, quasi verheiratet. Wobei dies natürlich – das gehört zu den in aller Deutlichkeit dargelegten Konsequenzen –, wenn es passiert, ohne den Segen der katholischen Kirche passieren wird – es sei denn, der Bischof erteilt eine besondere Erlaubnis und ich verspreche, “den Glauben zu bewahren und an die Kinder weiterzugeben”.

Ist das jetzt ein Hintertürchen für mich oder die Kirche? Und was soll dies ihn meinem Falle bedeuten, dass ich verspreche, “den Glauben zu bewahren und an die Kinder weiterzugeben”? An welche Kinder? An die erwachsenen, fast erwachsenen Kinder meiner Liebsten? An die eigene Kinderschar, die ich mir mit 45 Jahren für meine zweite Lebenshälfte noch erträume? Und was heißt „bewahren“? Bewahren kann man nur etwas, das man hat. Und „den Glauben zu bewahren“ kann ja im Zusammenhang des Briefes nur bedeuten: den Glauben an die katholische Kirche bewahren… Aber hallo! Das ist doch gerade der Kasus Knacksus! Ich habe mit meinem Austritt erklärt, dass ich nicht mehr an die katholische Kirche glaube – dass es hier für mich – bezüglich des Glaubens – nichts mehr zu bewahren gibt.

Aber dieser Punkt kommt in dem Brief doch ein wenig zu kurz. Mir scheint, dass meine ehemalige Seelsorgeeinheit davon ausgeht, dass die Erklärung meines Austritts nur so eine Art störrische Geste war, eine pubertäre Reaktion auf spontane Unlustreize (etwa der Blick auf die Lohnabrechnung oder die neuesten Meldungen über einen Skandal oder Nachrichten darüber, dass Kirchensteuern nur in geringem Ausmaß zu befürwortenden Einrichtungen zu Gute kommen). Dass mir – so unbedacht ich den Austrittsschritt erklärt habe – nicht klar war, was die Kirche bietet, mir bietet.

Es geht im besagten Brief kaum um den Glauben, sondern mehr um die „Gemeinschaft“, darum, was diese Gemeinschaft bieten kann (und weniger bieten kann aufgrund des Verlustes von Kirchensteuern), es geht um „Serviceleistungen“, die mir nun nicht mehr geboten werden.

Und so meint man, mich mich an Selbstverständlichkeiten erinnern zu müssen. Dabei ist es doch klar: Trete ich aus einem Verein aus, dann kann ich das Serviceangebot des Vereins nicht mehr nutzen. Das ist im Turnverein so, das ist in der Kirche so. Mich daran zu erinnern, dass ich die Vorzüge des geistlichen Heiratsservice nicht mehr genießen darf, kann nur bedeuten, dass meine Seelsorgeeinheit davon ausgeht, dass ich mir keine Gedanken gemacht habe.

Hallo! Ich habe der Kirche, mit der ich aufgewachsen bin, deren Glaubensgrundsätze von Kindesbeinen an meine Lebensumwelt (und auch mein Denken) beeinflusst haben, den Rücken zugekehrt. Nach 45 Jahren! Rund 30 Jahre, nachdem ich erstmals Zweifel gehabt habe. Rund 30 Jahre, in denen mich diese Zweifel immer begleitet haben. Bis ich zu dem Entschluss kam, endlich einen Schnitt zu setzen.

Aber nehmen wir einfach mal an: Dieses Hintertürchen ist einfach nur nett gemeint. Die Kirche kennt nach rund 2000 Jahren ihre Schäfchen und ihre gelegentlichen Launen, die einzelne Verirrte unter lautem Blöcken aus der Herde ausbrechen lassen, nur um umso leiser in den Schoß der Gemeinschaft zurückzukehren…

Ja, nehmen wir einfach mal an, meine Liebste verspürt plötzlich den all ihre Fasern durchdringenden Wunsch, in imposanter Kirchenkulisse unter Glockengeläut und Engelsgesang das Ja-Wort zu geben, um von einem katholischen Priester den Segen zu erhalten und vor dem Altar der geistlichen Erlaubnis zu lauschen, dass ich sie nun küssen darf – ja, dann habe ich vielleicht sogar ein paar Trümpfe parat!

Ich könnte einen Teil meines Bücherregals fotografieren und dem Bischof schicken. Den Teil, in dem Bücher wie „Wörterbuch des Christentums“, „Glauben der Millionen“, „Die Bibel“ und mein zur Erstkommunion erhaltenes Gebetbuch stehen (den angrenzenden Teil des Regals mit Titeln wie „Existiert Gott?“, „Hexenwahn“ „Angst im Abendland“ schneide ich aus dem Bild natürlich heraus). Ein – noch nicht einmal gefaktes – Bild von unserer Leseecke auf der Toilette könnte ich anfügen, in der das Buch „Who’s who in der Bibel?“ liegt (ich habe das Buch nach dem letzten Bibelfilm gekauft hatte, weil ich nicht mehr die genaue Reihenfolge der ganzen alttestamentarischen Recken parat hatte). Ich könnte jedes Mal, wenn ich eine Kirche besichtige und am Opferstock meinen Obolus zur Erhaltung dieser grandiosen Manifestation menschlicher Schöpferkraft entrichte, ein Handyfoto schießen. Und hier der Trumpf: Ich könnte von meinen kleinen Neffen, meinem Patenkind, eine selbst geschriebene Erklärung erbitten (mit den Worten und der Orthografie eines Viertklässlers), dass ich ihn mit einem selbst fabrizierten Bibelhörbuch gelangweilt hatte.

Ja, mein Patenkind. Ich bin Taufpate. Als mein Neffe in die Schule kam, habe ich begonnen, ihm die Bibel (eine Kinderbibel mit Bildern, deren Text er noch nicht lesen konnte) als eine Art Hörbuch aufzunehmen. Weil ich es wichtig fand, ihm er – der sich eigentlich nur für Technikkram interessierte – auch diese Seite unserer Kultur nahezubringen. Ich also mit Headset vor dem Computer. Stundenlang. Damit er eine vernünftige Aufnahme erhält. Cooler fand er dann mein Video, dass ich von mir auf meinem Roller gemacht habe. Einfach krachend von links nach rechts die Straße entlang brettern. Bibel ade.

Und – hier ist Schluss mit dem müßigen Gedankenspiel – ade auch mein Trumpf. „Sie dürfen z.B. nicht Tauf- und Firmpate werden“ steht in dem Brief meiner Seelsorgeeinheit. Ob das auch rückwirkend gilt? Muss mein Neffe noch einmal getauft werden, weil ich abtrünnig geworden bin? Wird er ohne meinen Beistand bei der Firmung den Heiligen Geist empfangen müssen?

“Dies ist die einzige Kirche Christi…”

Der eng beschriebene Computerbrief zitiert das II. Vaticanum – was ja hübsch ist, weil dies ja ein schöner Topos für eine Kirche ist, die um ihre Verantwortung den Menschen gegenüber weiß und sich modernisiert, die mit der Zeit geht: „… die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst.“ (aus „Lumen Gentium“, Art. 8).

Zitate sind toll. Hier wird gleich eine vernünftige Vertrauensbasis geschaffen…

Zitat aus „DOGMATISCHE KONSTITUTION – LUMEN GENTIUM – ÜBER DIE KIRCHE“ [..] „Dies ist die einzige Kirche Christi, die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen [...] Das schließt nicht aus, daß außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind [...]“ (Quelle Archiv auf der Homepage des Vatikan).

Klingt doch fein, quasi fast tolerant. Die allumfassende Kirche weiß, dass es auch außer ihr Wahrheit, Heiligung, also Seelenheil gibt…

Aber Zitaten ist leider nicht zu trauen: „Das schließt nicht aus, daß außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen.“ So lautet das vollständige Zitat, entnommen dem Vatikan Archiv.

„Hindrängen“ … Also: Kein Heil außerhalb der Kirche. Jeder andere Glauben ist nur etwas wert, wenn er zu den Wahrheiten der katholischen Kirchen hindrängt…

Und hier sind wir endlich beim zentralen Punkt der ganzen Angelegenheit angelangt. Hier – auch wenn nicht von Seelenheil und Höllenfeuer die Rede ist – geht es ans Eingemachte. Meinen Tod.

Ich darf keine Sakramente mehr empfangen, also auch nicht mehr die Krankensalbung. Bedeutet: Ohne letzte Absolution trete ich vor meinen Schöpfer. Also per Definitionem als Sünder. Folglich habe ich am Tage des Jüngsten Gerichts ein großes Problem – gesetzt den Fall, die Kirche behält Recht. Und das heißt, allen kasuistischen Diskussionen zum Trotz, immer noch: Hölle. Verdammt. Wie auch immer man sich die Gottferne vorstellt. Und das jemand, der in unserem Kulturkreis aufgewachsen ist, hier gewisse düstere (gleichzeitig schmerzhaft feurige) Vorstellungen* hat, ist evident. Ob nun der Teufel eine Person ist oder eine Idee, eine bildhafte Ausschmückung der Abwesenheit von Heiligkeit, eine bedrückende Metapher für eine Ewigkeit in der Leere, für das Nichts, was nicht Nichts ist, sondern nur schmerzhaftes Abwesenheit von Etwas, für die immerwährende Dunkelheit, was auch immer – hier kann die Kirche, auch ohne ins Detail zu gehen, auf den ganzen Raum kultureller Erinnerungen zurückgreifen.

Aber schließlich ist die Kirche traditionell – man denke nur an solche Einrichtungen wie den Limbus oder das Fegerfeuer* – als barmherzig bekannt. Und so folgt in dem Brief eine gewisse Einschränkung: „Außer in Todesgefahr“. Puh. Glück gehabt. So knallhart ist die Kirche doch nicht. Sterbe ich, wird der in der Nähe weilende Pfarrer nicht seinen Segen verweigern…

Aber lesen wir doch weiter: „Es kann ihnen das kirchliche Begräbnis verweigert werden, wenn Sie vor dem Tod kein Zeichen der Umkehr und der Reue gezeigt haben“. Krankensalbung nur mit Reue zu haben.

Reue? Ich denke die Absätze des Briefes zurück, Ohne Reue auch keine Krankensalbung – Mea Culpa unter Todesgefahr. Und was soll bereut werden? Meine Sünden? Mein Zweifeln an Gott? Nein. Angesichts der Todesgefahr scheint es mir bei diesem Vereinsgehabe meiner Seelsorgeeinheit, weil es in den Brief nur am Rande um Glauben geht, um Profaneres zu gehen. Ich soll offensichtlich meine Erklärung bereuen, dass ich in einem Staat, zu dessen Grundpfeilern die Trennung von Staat und Kirche gehört, diese Trennung vollzogen habe. „Bereue, dass Du aus dem Verein ausgetreten bist…“

„Ich bitte sie um Verständnis, wenn ich Ihnen die Konsequenzen Ihrer Erklärung des Kirchenaustritts in aller Deutlichkeit dargelegt habe. … Es gibt aber immer auch die Möglichkeit einer Wiederannäherung an die Kirche und einen Weg zurück in die Gemeinschaft.“

Vielleicht sollte ich immer einen Scheck dabei haben, in dem ich – im Falle des Falles – so pi mal Daumen meinen Vereinsmitgliedsbeitrag, die Kirchensteuerschuld, eintragen und dann den ich im Falle meines Ablebens anwesenden Pfarrers überreichen kann.

Ein Problem könnte die Zuordnung meines Schecks sein. Der so dringliche Brief meiner Seelsorgeeinheit (in seiner Dringlichkeit noch verstärkt durch Hinweise auf den Bischof) ist adressiert an einen Herrn Böscher. Der Postbote wusste es besser, deswegen erreichte mich dieser Brief (Gott sei Dank). Aber wird der gute Petrus an der Himmelspforte (man bedenke die große Anzahl an Ankommenden) auch so firm sein? Scheck ausgestellt auf Boscher – bei Böscher kein Eintrag – aufgeschmissen – mein Ewigkeitsstatus wurde nicht korrekt in den Papieren notiert – abwärts geht es… Also: Verdammt! Hätte ich doch nicht aus der Kirche austreten sollen?

Apropos: Das Finanzamt hat meinen neuen Status noch nicht zur Kenntnis genommen. Vielleicht haben die ja einen Deal mit der Kirche? „Hey, wartet besser. Wir schreiben da noch einen Brief, und dann sieht die Sache erfahrungsgemäß anders aus…“

*PS: Im Anhang folgt eine Betrachtung der Höllenvorstellungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive.

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Anhang:

Seminar (Deutsche Literatur):

„Die Nacht“

Universität Konstanz

Philosophische Fakultät

Fachgruppe Literaturwissenschaft

Die höllische Nacht“

Hausarbeit vorgelegt von: Ralf Boscher

im Sommersemester 1996

Vorrede

Früher habe ich mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft oft „Wer hat Angst vor’m Schwarzen Mann“ gespielt. „Niemand!“ hieß es damals jedesmal, und trotzdem mußten alle vor dem „Schwarzen Mann“ fliehen. So waren die Spielregeln. Und das Ende jeder Runde war gekommen, wenn der „Schwarze Mann“ – und seine stetig wachsende Helferschar – alle Kinder gefangen hatte. Es war ein Spiel, und wir hatten damals viel Spaß dabei.

Kein Spaß war es, wenn unsere Eltern mit dem „Schwarzen Mann“ drohten, der die unartigen Kinder zu sich hole. Und wenn dann am Abend des 6. Dezember diese finstere, bedrohliche Gestalt in die Häuser unseres Dorfes kam, um alle die Kinder, über die im goldenen Buch seines Begleiters Schlimmes zu lesen war, mit seiner Rute zu strafen, hatte nicht nur ich eine Höllenangst vor dem Knecht Ruprecht.

Meiner Meinung nach beruht dieser Brauch auf der Vorstellung des Jüngsten Gerichtes: für die „Seligen“ gibt es Zuckerbrot, die „Verdammten“ werden bestraft. Worauf ich hier aber vor allem hinaus will, ist, daß die von mir für böse empfundene Person als dunkel gekleidete Gestalt auftrat. Und im Kontrast zum freundlichen Nikolaus, mit seinem weißen Bart und den ebenso weißen Haaren, wirkte Knecht Ruprecht sogar noch düsterer, noch bedrohlicher.

Isabel Grübel meint, daß der Teufel der christlichen Tradition in nahezu jeder modernen Verkörperung des Bösen präsent sei. Sie sagt dies in Bezug auf die Gestaltung des Bösen in der modernen Literatur. Ich aber kann mir vorstellen, daß sich diese Aussage auch auf die allgemeine Vorstellung vom Bösen erweitern ließe: So lebe im „Schwarzen Mann“ der Teufel in seiner Eigenschaft als „Fürst der Finsternis“ (Grübel, 1991, S. 88) fort, und Knecht Ruprecht verwiese durch sein finsteres Auftreten ebenfalls auf seinen dämonischen Ahnen.

Oft wird die Möglichkeit des Menschen, Böses zu tun, als seine dunkle Seite, seine Nachtseite bezeichnet. Und Menschen, von denen man Böses erwartet, werden „finstere Gestalten“ genannt. Die Verbindung, die so anhand der Attribute der Finsternis zwischen den Vorstellungen vom Bösen im allgemeinen und dem Teufel der Tradition hergestellt ist, zeigt, wie ich denke, daß es sich nicht um ein bloßes Wortspiel handelte, als ich die Angst, die ich damals empfand, als Höllenangst bezeichnete. Ein Schluß, der auch aufgrund einer Aussage Herbert Vorgrimlers gezogen werden kann, denn seiner Meinung nach hängen die realen Höllen im „Mikrokosmos, im geängstigten und gequälten Inneren der Menschen, wie im makroskosmischen menschlichen Zusammenleben… mit den Phantasien über eine göttliche Jenseitshölle zusammen“ (Vorgrimler, 1993, S. 9).

So ist das Wort Hölle auch heute noch in aller Munde, wie z.B. in sprichwörtlichen Redewendungen: „Dies war die Hölle!“, „Ich hatte eine Höllenangst!“ oder: „Ich bin durch die Hölle gegangen!“ Heute ist die Hölle meiner Meinung nach vor allem ein Synonym für äußerste Qualen, unabhängig von dem Gedanken einer moralischen Verurteilung.

Meine Hausarbeit baut auf der Vermutung auf, daß im Bewußtsein der Menschen die Vorstellungen der Hölle und der Nacht eine gemeinsame Geschichte voller Wechselwirkungen besitzen. So versteht sich diese Hausarbeit als Versuch, diese Geschichte der Beziehungen zwischen Hölle und Nacht aufzuspüren.

Vorgrimler und Grübler folgend wird dies in erster Linie anhand der Auseinandersetzung mit der traditionellen Höllenvorstellung des Christentums geschehen, da ihnen zufolge die Vorstellung des Bösen in der Moderne wie auch seiner literarischen Gestaltung in jüngster Zeit eng mit dieser Hölle zusammenhänge.

Einleitung

„Der Glaube an eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tode bildet einen allen alten Religionen und dem Christentum gemeinsamen Fundus“ (Aries, 1989, S. 123).

Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens spricht diesen Glauben den naiveren Menschen zu, da ihnen gar nicht der Gedanke käme, daß mit dem Aufhören des körperlichen Lebens auch das menschliche Leben vorbei sei (Spalte 205).

Aber auch wenn in unserer „weniger naiven“ Kultur der Glaube an ein Jenseits und folglich auch an einen jenseitigen Strafort, der zu fürchten ist, nicht mehr selbstverständlich ist, so scheinen mir die Menschen der Moderne trotzdem mit den traditionellen Vorstellungen behaftet zu sein. Dies äußert sich z.B. darin, daß immer noch davon gesprochen wird, daß das Leben wie die Hölle sei.

Minois nennt den Glauben an die Idee der Hölle allgemeinmenschlich, denn die Hölle spiegle die jeweils „für die einzelnen Epochen typischen Ängste und Wahnvorstellungen sowie die herrschende Auffassung vom Bösen wider. … Sie ist einer der ältesten Alpträume der Menschheit, bedingt durch die Furcht vor dem Unbekannten, das uns am Ende unseres Lebens erwartet…“ (Minois, 1996, S. 13).

So können weder „das Judentum noch das Christentum … den Anspruch erheben, die Hölle sei ihrem Geist entsprungen. Die Religionsgeschichte zeigt, wie alt und wie weit verbreitet Unterwelts- und Höllenvorstellungen in der Geschichte der Menschheit sind“ (Vorgrimler, 1993, S. 32). Aber letztlich läßt sich laut Minois die Entstehung der Hölle nicht festlegen, da sie so alt sei wie die Welt selbst oder „ – besser gesagt – so alt wie das Böse. Denn nachdem der Mensch lange Zeit seine Erfahrungen mit dem Bösen gemacht hat, erfindet oder entdeckt er – je nachdem, wie man es sehen will -, daß die moralische Verfehlung geahndet werden muß“ (Minois, 1996, S.15).

Vorgrimler weist darauf hin, daß die uns älteste fassbare religiöse Äußerung (aus der Altsteinzeit) den Glauben bezeugt, daß im Menschen eine nichtmaterielle Seelengestalt wohne, die nach dem Tode den Leib verlasse, „um das Totenreich aufzusuchen und dort für immer zu verweilen“ (Vorgrimler, 1993, S. 32).

Die Idee eines Fortlebens nach dem Tode entstand also sehr früh in der Menschheitsgeschichte, und auch ohne daß das Leben nach dem Tode als Folge der guten oder bösen Lebensweise eines Menschen angesehen wurde, war der Grundstock eines unerfreulichen Jenseits sehr früh gelegt: Denn dieses Totenreich wurde nicht als etwas Erfreuliches gedacht, da dem weiterlebenden Geist durch die Trennung vom Leib „die Quelle zahlloser Freuden, vor allem auch die Möglichkeit der Kommunikation mit seinesgleichen [fehlte]. Das Totenreich galt zuerst ganz unabhängig von der Idee möglicher Bestrafung als Ort der Entbehrungen. Das Grab legte sich in dieser Vorstellungswelt als Pforte oder Durchgangsweg zum Totenreich nahe. Es war von sich her schon mit dem Eindruck des Dunkels versehen; da der Tote aus dem Bereich der Lebenden und der Sonne geschieden war, mußte er selber nun im Dunkeln weilen“ (Vorgrimler, 1993, S. 32).

Der Tod wurde also schon sehr früh als Durchgang zu einem anderen Leben gedacht. Und die instinktive Angst des Menschen vor dem Tod ließ ihm das Leben im Jenseits in dunklen Farben erscheinen: „So stellt er sich also zunächst eine Hölle und nicht etwa ein Paradies vor. Sie ist ein Abbild seines Erdenlebens, eine Art Traum, bei dem alles fehlt, was das Leben schön macht, ein Schattenreich, in dem Phantome freudlos umherirren. Es wird niemand gequält, und doch sind diese Orte unheilvoll“ (Minois, 1996, S. 16).

Zunächst ist also der Tod das Böse. Eine Auffassung, die sich auch im Christentum wiederfindet, wenn davon gesprochen wird, daß der Tod duch den Teufel in die Welt kam.

Aber schon früh treibt die Neugierde die Menschen dazu, den „… künftigen Aufenthaltsort zu besuchen. Schon unter den ältesten religiösen Texten der Welt befinden sich >Höllenfahrten<, die sich im Laufe der Zeit zu einem der beliebtesten Themen entwickeln sollten. Dieser Ort, von dem noch keiner zurückgekehrt ist, wird zum Gegenstand detaillierter Beschreibungen, die Zeugnis von der Urangst geben, die der Mensch vor dem Unbekannten im Jenseits empfindet. Im Laufe der Jahrhunderte werden unzählige Besucher der Hölle – Götter, Helden, Sagengestalten oder einfache Sterbliche, die wissen wollen, welches Geschick die Bösen ereilt, wie Gilgamesch, Odysseus, Vergil, Dante und viele andere – den Inhalt ihrer Träume von der Hölle erzählen und dabei die Phantasie der Menschen mit oft grauenhaften Vorstellungen nähren, die aber immer noch der unerträglichen Ungewißheit vorzuziehen sind“ (Minois, 1996, S. 16).

Diesen Höllenfahrten, die vom Schicksal der Bösen berichten, liegt eine Wandlung des menschlichen Bewußtseins zugrunde: dadurch, daß die Menschen „…auf dem Gebiet der Moral oder bezüglich des Glaubens an ein Weiterleben der Seele oder des Doppelgängers eine gewisse Reife erreicht haben…“ (Minois, 1996, S. 16-17) wird aus der „Hölle für alle“, dem trostlosen Jenseits für alle Menschen, die Hölle für die moralisch Bösen. Mit der Differenzierung des moralischen Gedankens und des sittlichen Empfindens wird auch das Jenseits differenzierter. Es bildet sich nun ein Bereich im Jenseits heraus, welcher den Guten, den Glückseligen vorbehalten ist, und die eigentliche Hölle entsteht als jenseitiger Strafort, an dem die Bösen der Welt in Folge eines göttlichen Urteilsspruchs in alle Ewigkeit für ihre moralischen Verfehlungen sühnen müssen.

Als Höhepunkt dieser Entwicklung ist die christliche Hölle anzusehen: „… das dauerhafteste, am besten durchdachte und vollständigste System von allen…“ (Minois, 1996, S. 13). Ich kann diese Entwicklung hier nicht im einzelnen nachzeichnen und auch die Einflüsse anderer Religionen, die in das christliche Höllenbild übernommen wurden, nicht im einzelnen transparent machen. Vor allem im Hinblick auf unsere Frage aber, wie Hölle und Nacht miteinander in Beziehung stehen, werde ich einige Etappen dieser Entwicklung darstellen: Der jüdische Scheol, der griechische Hades und der römische Orcus. Deshalb werde ich auf Beispiele der Literatur, die die Denker und Dichter des Christentums beeinflußte, eingehen: das Alte Testament, Homer, Plato und Vergil.

Erstes Kapitel

Die „Vor und Umwelt“ der christlichen Hölle

Der Scheol

Laut Isabel Grübel spielte der Jenseitsgedanke im Alten Testament lange Zeit eine sehr untergeordnete Rolle. „Die Seelen gelangten nach altjüdischer Auffassung in den „Scheol“ (= Ödland), einem an sich neutralen Ort, der aber schon früh unter der Erde lokalisiert wurde. … War der jüdische „Scheol“ anfangs ein Ort der Stille und der Finsternis, wo die Verstorbenen weder Strafe noch Belohnung erwartete, so kam es doch allmählich zu einer negativen Bewertung dieses Jenseits, das Trennung von Gott und Trostlosigkeit bedeuten konnte“ (Grübel, 1991, S. 50).

Den Toten wird zunächst – wie es auch andernorts im Alten Vorderen Orient und in der mittelmeerischen Antike geschah – ein schattenhaftes Fortleben an einem Ort unter der Erde zugeschrieben, welches mit „vielfältigen Elementen der Düsternis umschrieben, aber nicht als Strafe bezeichnet wird“ (Vorgrimler, 1993, S. 61).

Der Hölle „vermachte das Scheol die Symbolik der Finsternis… Die gesamte unterirdische Welt der Toten ist in diese Finsternis gehüllt…“ (Le Goff, 1984, S. 41): „…bevor ich fortgehe ohne Wiederkehr ins Land des Dunkels und des Todesschattens (>ad terram tenebrosam et opertam mortis caligine<), ins Land, so finster wie die Nacht (>terra tenebrarum<), wo Todesschatten (>umbra mortis<) herrscht und keine Ordnung, und wenn es leuchtet, ist es wie tiefe Nacht“ (Ijob, 10, 21f. zit. nach Grübel, 1991, S. 50).

Minois schreibt, daß der Zustand der Verstorbenen dem Nichts äußerst nahe gewesen sei, da sie unbeweglich im Staube gelegen hätten, „…ohne jegliches Denken und Fühlen, in endgültiger Lethargie, einem ewigen Koma“ (Minois, 1996, S. 26). Und zunächst erwartete alle Toten dieses Schicksal. Es gab kein jenseitiges Gericht, keine jenseitige Bestrafung oder Belohnung. „Wenn der Böse bestraft wird, so geschieht es… in diesem Leben, ein sofortiges Gericht mit irdischen Strafen…“ (Minois, 1996, S. 26). Die Strafrequisiten in dieser „irdischen Hölle“ (Minois) sind zumeist „Besetzung durch den Feind oder Veschleppung, Pest, Hungersnot und wilde Tiere“ (Minois, 1996, S. 27).

Die Vergehen, die für die Hebräer Sünden sind, gleichen denen ihrer Nachbarvölker: „religiöse Vergehen, wie das Anbeten von Götzen, rituelle Vergehen wie der Bruch von Tabus bezüglich der Unreinheit, gesellschaftliche Vergehen, die im mosaischen Gesetz streng niedergelegt sind“ (Minois, 1996, S. 28). Die Strafen, die ihr Gott verhängt, sind hart und richten sich streng nach dem Gesetz der Vergeltung: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Jehova sei, wie Brittnacher schreibt, ein rachsüchtiger Gott, der in sich lichte und dunkle Anteile vereinige: Der Gott des Alten Testamentes ist „gut und böse, voller Launen und Widersprüche: >Der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe das Böse. Ich bin der Herr, der dies alles tut< (Jes. 45,7)“ (Brittnacher, 1993, S. 169).

Laut Vorgrimler ist es nicht möglich, exakt den Zeitpunkt anzugeben, an dem der Gedanke an eine über den Tod hinausgehende Vergeltung durch Gott aufkam, und auch nicht, von welchem Zeitpunkt an dies dazu führte, „daß das alte Totenreich der Schattenexistenzen wenigstens zum Teil in einen Strafort >umgedacht< wurde“ (Vorgrimler, 1993, S. 65).

Aus den Unterweltsbeschreibungen, die bereits von einem Strafort ausgehen, werden, laut Vorgrimler, Feuer und Wurm zu sprichwörtlichen Requisiten: „Denn der Wurm in ihnen [in den Leichen derer, die sich gegen Gott aufgelehnt haben] wird nicht sterben, und das Feuer in ihnen wird niemals erlöschen“ (Jes. 66,24 zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 64). Aber ob die Verfasser des Alten Testamentes mit dem Wurm, dem Feuer oder auch anderen Requisiten wie etwa dem Tor zur Unterwelt konkrete Gegebenheiten gemeint haben oder ob sie metaphorisch zu Illustrations- und Abschreckungszwecken eingesetzt wurden, läßt sich nach Vorgrimlers Aussage bis heute nicht entscheiden.

Der Hades

Daß es zwischen der christlichen Hölle und der griechisch-römischen Unterwelt, meist Hades und Orcus, mannigfaltige Beziehungen gab, lag zum Teil daran, daß „die antiken Autoren, die am eingehendsten über die Unterwelt geschrieben hatten, im Christentum in hohen Ehren standen, obwohl sie >Heiden< waren“ (Vorgrimler, 1993, S. 38).

Da in der Antike der Bereich des Göttlichen und Menschlichen, der Bereich des Glaubens und des Wissens, nicht streng geschieden war, wie Vorgrimler schreibt, gehörte die Existenz der Unterwelt zum Weltbild, und den Berichten über Hadesfahrten wurde nicht einfach religiöser Glaube entgegengebracht, sondern sie galten als „reale Gegebenheiten der Empirie. Inwiefern einzelne Weise Dichtungen und Mythen als solche durchschauten oder vielleicht als Einkleidungen geistiger Realitäten verstanden, läßt sich nachträglich kaum mehr ausmachen“ (Vorgrimler, 1993, S. 38).

Es war eine der ganzen antiken Welt gemeinsame Idee, daß die Menschen mit ihrem Tod nicht einfach vergangen sind, sondern daß sie in ein Reich der Schatten eingehen, „wo sie eine freudlose, von Licht und Lebenslust abgeschnittene Existenz führen…“ (Vorgrimler, 1993, S.38). Minois weist allerdings daraufhin, daß es schwierig sei, aus den Hadesberichten Hesiods als auch Homers, Allgemeingültiges für die Unterweltsvorstellungen der Menschen in der Antike herauszulesen, da sowohl die Theogonie, als auch die Illias und die Odyssee im wesentlichen von der Welt der Götter und der Helden berichten: „Der Hades ist voll von diesen sagenhaften Unsterblichen mit einem übermenschlichen Geschick, und es ist keineswegs sicher, daß sich die Griechen das Jenseits für die normalen Sterblichen ebenso vorstellten“ (Minois, 1996, S. 30).

In den Werken Homers finden sich verschiedene Andeutungen über das Leben der Toten und über die Strafen, die manche von ihnen erleiden müssen. „Der Hades ist ein unheilvoller, dunkler, nebliger Ort. Auch die Illias sagt, daß die neblige Finsternis dem Hades und der weite Himmel Zeus zugeteilt wurde. Der Eingang zum Hades befindet sich am äußersten Ende der Welt… Der Hades mit den verschlossenen Toren ist eine hermetisch abgeriegelte Welt, die man nur mit Grauen anschaut“ (Minois, 1996, S. 32).

Zur berühmtesten Hadesfahrt, von der Homer erzählt, wurde diejenige des Odysseus. Allerdings geht Odysseus nicht selbst in den Hades hinunter. Vielmehr schaut er in einer Art Vision in den Hades hinein, indem er die Totengeister durch ein Speise-und Trankopfer (Nekyia genannt) herausruft. Die Toten kommen „als Eidolon (in diesem Fall: Schatten) oder, wie Homer auch sagt, als Psyche, >Seele<, >herauf<, zwar ohne Körper, aber doch mit Sinnen wahrnehmbar, und zwar in dem Zustand, in dem sie bei ihrem Tod waren…“ (Vorgrimler, 1996, S. 40):

„…und aus dem Erebos kamen viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten. Jüngling’ und Bräute kamen, und kummerbeladene Greise, und aufblühende Mädchen, im jungen Grame verloren. Viele kamen auch, von ehernen Lanzen verwundet, kriegerschlagene Männer, mit blutbesudelter Rüstung. Dicht umdrängten sie alle von allen Seiten die Grube mit graunvollem Geschrei; und bleiches Ensetzen ergriff mich“ (Odyssee, 11. Gesang, zit. nach Minois, 1996, S. 32).

Weiterhin sieht Odysseus die immerwährenden Strafen der drei berühmten Frevler gegen die Götter: Tityos, Tantalos, Siyphos. Daß auch andere Verstorbene ein unglückliches Leben im Hades führen, erweist sich daraus, daß im XIV. Buch der Odyssee von schrillen Schmerzesschreien ähnlich den Schreien von Fledermäusen die Rede ist. Odysseus erfährt auch, daß die Seelen der Toten die Lebenden bedrohen können: „Er kann sich nur durch die Flucht retten“ (Minois, 1996, S. 33).

Da es in der Unterwelt, wie Homer sie beschreibt, auch „Verstorbene in seliger Existenz-weise gibt, auf den elysäischen Feldern oder auf der Insel der Seligen, muß es sich beim Hades, auch wenn nur die wenigen Strafen veranschaulicht werden, um ein ewiges Strafgeschick handeln“ (Vorgrimler, 1996, S. 40).

Minois erkennt in der von Homer beschriebenen Unterwelt eine Hölle mit zwei Ebenen, „denn unter dem Hades befindet sich noch der Tartarus, das Gefängnis der Titanen, aus dem niemand wiederkehrt.“ (Minois, 1996, S. 32):

„…Oder ich fass’ und schwing’ ihn hinab in des Tartaros Dunkel, ferne, wo tief sich öffnet der Abgrund unter der Erde: Den die eiserne Pforte verschleußt und die eherne Schwelle, so weit unter dem Hades wie über der Erd’ ist der Himmel.“ (Illias, 8. Gesang, 10, zit. nach Minois, 1996, S. 32)

Diese Unterscheidung zwischen Hades und Tartaros weise laut Minois auf die spätere Höllenvorstellung des Christentums hin: Dort finde sich dann die Pforte, und die Hölle sei ein finsterer Abgrund unter der Erde, welche sich in verschiedene Bereiche gliedere: die obere Hölle, der Hades, werde zum Fegefeuer und „die untere Hölle zum Reich Satans“ (Minois, 1996, S. 32).

„Unter den klassischen griechischen Philosophen ist Platon derjenige, der den traditionellen Gedanken von der Hölle am meisten geprägt hat“ (Minois, 1996, S. 63). Minois nennt Platon den „Vater der philosophischen Hölle“. Was auch laut Vorgrimler seine Berechtigung hat, wurde Platon doch „vom zweiten nachchristlichen Jahrhundert an von christlichen Theologen als >der< Philosoph in Anspruch genommen. In seinem Gottesdenken kam er der jüdisch-christlichen Gottestradition so nahe, daß sogar die Meinung aufkam, er habe das Alte Testament wenigstens gekannt, wenn nicht bewußt aufgenommen. … Es ist gewiß, daß die christliche Theologie ohne Platon ihre Sprache nicht gefunden hätte. Daher versteht es sich von selbst, daß auch in seinen Darlegungen zu einer Rechenschaft nach dem Tod und zum Schicksal der Gerechten und Ungerechten im Jenseits große Entsprechungen zur biblichen Botschaft, aber auch weitere Aufschlüsse über das noch Unbekannte gefunden wurden“ (Vorgrimler, 1993, S. 41).

In den Werken, in denen Platon von der Hölle spricht, folgt auf den Tod ein Gericht. Im Phaidon [113-114] zum Beispiel vier Möglichkeiten: Zunächst werden „diejenigen gerichtet, welche schön und heilig gelebt haben und welche nicht.“ Bei denen, die nicht schön und heilig gelebt haben, gibt es dann drei Gruppen: Diejenigen, die einen mittelmäßigen Lebenswandel geführt haben, gehen zum Acheron. „Hier wohnen sie und reinigen sich, büßen ihre Vergehungen ab…“ Die Gruppe der Unheilbaren, deren Verbrechen zu groß waren, „wirft ihr gebührendes Geschick in den Tartaros, aus dem sie nie wieder heraussteigen.“ Als letzte Gruppe führt Platon die Menschen an, die zwar große Vergehen begangen haben, aber doch als heilbar erkannt werden. Auch sie werden in den Tartaros geworfen, können aber, nachdem sie ein Jahr dort gewesen sind, die Seelen der Menschen, welche sie getötet haben oder an denen sie Frevel begangen haben, um Gnade anflehen. „Wenn sie sie nun überreden, so steigen sie aus, und ihre Übel sind zu Ende; wo nicht, so werden sie wieder in den Tartaros getrieben…“ (Phaidon [113-114], zit. nach Minois, 1996, S. 64).

Diese Einteilung der Sünder in „die Guten (Frommen und Heiligen), die Mittelmäßigen (die sowohl Gutes als auch Unrechtes getan haben), die großen, aber heilbaren Verbrecher sowie die unheilbaren Verbrecher“ (Vorgrimler, 1993, S. 46) findet sich später wieder in der christlichen Lehrmeinung, z. B. bei Augustinus.

Ebenfalls im Phaidon stellt Platon eine Geographie der Hölle auf: „In der Tiefe der Erde befinden sich ungezählte, mehr oder weniger große Höhlen. Sie sind in verschiedener Tiefe und miteinander verbunden. Dort fließen Ströme von Schlamm, Feuer, heißem und kaltem Wasser, die – wie in Sizilien – manchmal an die Erdoberfläche treten. Im Mittelpunkt des Ganzen befindet sich der Tartaros, zu dem alle Flüsse hinfließen und von dem sie auch ausgehen, pulsierend im höllischen Rhythmus…“ (Minois, 1996, S. 66).

Platon wähle, so Vorgrimler, bewußt die Form des Mythos, wenn er von der Unterwelt spreche (wie z.B. in der Politeia, wo er vom nach zwölf Tagen wieder zum Leben gekommenden Er erzählt, welcher über das „Drüben“ berichtet ). Er wähle diese Form nicht, weil er an der Gewißheit des kommenden Lebens und des gerechten Ausgleichs irgendeinen Zweifel gehabt hätte, sondern weil ihm der Mythos die angemessene Form gewesen zu sein scheint, über das dunkel bleibende Wie des Kommenden zu sprechen. So gibt er zu verstehen: „Ganz wörtlich muß eine derartige Erzählung nicht aufgefaßt werden, aber auf jeden Fall ist eine strenge Bestrafung des bewußt getanen Unrechts zu erwarten. Es ist nicht zu leugnen, daß Platon mit dem Angstmotiv arbeitet“ (Vorgrimler, 1993, S. 48). Im Mittelpunkt stehe aber die Idee der Gerechtigkeit, die nicht existieren würde, hätte sie nicht auch über den Tod Geltung. So bleibe bei Platon – trotz einiger sadistischer Züge in der Illustration durch die mythische Erzählungen von der Unterwelt – der Gedanke vorherrschend, „daß es eine Entwicklung auch nach dem Tode gibt und daß (fast) jeder eine Chance zu Einsicht und Besserung hat. So sehr … auch durch zwar proportionale, aber überharte Strafen abgeschreckt wird, so deutlich ist, daß ihr letzter Sinn therapeutisch ist“ (Vorgrimler, 1993, S. 48).

Der Orcus

Die berühmteste Schilderung der römischen Unterwelt, des Orcus, stammt von dem Dichter Vergil. Minois, der Platon den Vater der philosophischen Hölle nennt, bezeichnet Vergil als den Vater der volkstümlichen Hölle. Nicht zuletzt, da Dante Vergil als seinen Führer durch die Hölle wählte. Mit der Unterscheidung einer philosophischen und einer volkstümlichen Hölle weist Minois auf eine Entwicklung hin, die auch die spätere Diskussion der Höllenvorstellungen im Christentum prägte: Die philosophische Hölle, welche die geistigen Qualitäten der Sünde betont, und stellenweise in der Nachfolge Plato’s die Höllenqualen als Metaphern ansieht, steht in ständiger Auseinandersetzung mit der „… Hölle der Dichter [und Visionäre], die … voller Lärm und Getöse ist, und die von den Gläubigen … angenommen werden sollte… Die volkstümliche Hölle entwickelt in der Folge die geistigen Themen der Philosophen zu konkreten, bildhaften Darstellungen, während letztere den Sinn der Mythen, die in der volkstümlichen Hölle entstehen, vertiefen“ (Minois, 1996, S. 67).

Die Aeneis des Vergil ist nun der „erste große Reiseführer durch die Hölle. … Die Qualität der Beschreibung, die viele bekannte mythologische Elemente beinhaltet, sollte aus ihr das unbestrittene Referenzwerk machen, und dadurch wurden für Jahrhunderte bestimmte Bilder festgeschrieben“ (Minois, 1996, S. 68). Vergil war bei den Christen der Alten Kirche sehr angesehen, und dies nicht nur wegen „der großen Ernsthaftigkeit seiner Dichtungen und der von ihm verkörperten Tugenden, sondern in besonderer Weise wegen seiner 4. Ekloge“ (Vorgrimler, 1993, S. 50). In dieser preist Vergil die Geburt eines göttergleichen Jungen, mit der eine Zeit des Friedens und der Glückseligkeit auf der ganzen Welt beginnen sollte. Die Ekloge wurde im Hinblick auf Augustus geschrieben, wie auch die Aeneis geschrieben wurde, um den Zeitgenossen und Förderer Vergils als mythischen Gründer der römischen Nation zu ehren. Als aber Kaiser Konstantin, der sich später im Jahre 337 auf dem Sterbebett taufen ließ, in seiner „Karfreitagspredigt des Jahres 323 diese Passage auf das göttliche Kind von Bethlehem [deutete] … galt Vergil als Prophet und Seher des christlichen Heils, obwohl er >Heide< war. Die Verehrung für ihn hielt im Mittelalter und in der Zeit des Humanismus an“ (Vorgrimler, 1993, S. 50).

Im VI. Buch der Aeneis läßt Vergil Aeneas in die Unterwelt hinab gehen, „daß ich enthüll, was tief, tief unter Erden die Nacht deckt“ (Vergil, 1963, Vers 266). Aeneas bittet die Seherin Sibylle von Cumae, ihm das Höllentor zu öffnen: „Hier ist doch das ,Tor des Unterweltsfürsten’, wie man es nennt, und der nächtige Pfuhl, des Acheron Stauung“ (Vers 106 f., zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 50). Sibylle warnt ihn vor den Gefahren: es sei leichter hinab als wieder herauf zu kommen, denn es hieße: „zweimal den stygischen See zu befahren, zweimal zu sehn des Tartarus Nacht“ (Vers 134 f., zit. nach Vorgrimler, 193, S. 50).

„Der Eingang hat die Form einer von schwarzem Gewässer umgebenen Höhle, aus der ekelerregender Gestank dringt. Aeneas und Sibylle stürzen sich hinein, und in völliger Finsternis beginnt der Abstieg“ (Minois, 1996, S. 69):„Dunkel schritten sie dort unter einsamer Nacht durch Schatten/ und durch Plutos öden Palast und die Reiche der Ohnmacht,/ wie bei ungewiß gleißendem Mond unter boshaftem Flimmern/ dämmert durch Wälder der Weg, wenn Juppiter schattend umwölkt den/ Himmel und düstere Nacht den Dingen löscht ihre Farben…“ (Vers 268ff., zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 51).

Noch vor dem eigentlichen Tor zum Orcus „lagert der Gram und wohnt der Fluch verlorener Reue,/ Haust bleichblickende Seuch und Sucht, trübseliges Alter,/ Furcht und verleitlichen Hungers Gier und schmähliche Notdurft, / Auch des Augs unfaßlich Graun: der Tod und die Sorge,/ Auch des Todes Gesell, der Schlaf, und hämischer Herzen/ Schadenlust; der Krieg, mordwitternd, hütet die Schwelle…“ (Vergil, 1963, Vers 275ff.). Minois weist an dieser Stelle darauf hin, daß sich durch diese allegorischen „unheilvollen Gestalten… die Hölle auf der Erde fort[setzt]. So entsteht hier der Gedanke einer schon in diesem Leben beginnenden Hölle. Von dieser Basis ausgehend zögerten spätere Philosophen nicht mehr, das Stammhaus in seine irdischen Filialen zu verlegen“ (Minois, 1996, S. 69).

Vergil beschreibt im folgenden das Jenseits topographisch genauer, als dies „in den meisten antiken Höllendarstellungen“ (Le Goff, 1984, S. 36) geschieht. Es würde den Rahmen der Hausarbeit sprengen, alle Einzelheiten von Vergils ausführlicher Unterweltsschilderung zu nennen. Le Goff bringt eine Zusammenfassung: Auf den Eingang „folgen das Tal der nicht beerdigten Toten, der Fluß Styx [mit dem furchtbaren Fährmann Charon und dem Höllenhund Cerberus vor dem eigentlichen Eingang zur Unterwelt am anderen Ufer], das Tal der Tränen und die letzten Auen, bevor der Weg sich gabelt und links zum Tartarus (zur Hölle) und rechts, wenn man die mauer des Dis (Plutos, das Herrschers der Unterwelt) überwunden hat, zum Elysium, einem paradiesichem Ort, führt, hinter dem der heilige Hain liegt und der Lethe, der Fluß des Vergessens, fließt“ (Le Goff, 1984, S. 37).

Im Hinblick auf den Zusammenhang von Hölle und Nacht finden sich außer den schon oben angeführten Stellen noch weitere interessante Partien. So richtet zum Beispiel Charon an Aeneas folgende Worte: „Hier ist das Reich der Schatten, der schlaftrunkenen Nacht und des Schlummers“ (Vers 390, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 51).

Als ihnen die Selbstmörder begegnen, heißt es von diesen: „Wie gern jetzt droben im Lichte/ Würden sie Mühsal, Not und bitteren Mangel ertragen!/ Aber der Spruch verbeut’s Mit unerfreulicher Woge/ Hemmt sie der nächtige Pfuhl…“ (Vergil, 1963, Vers 436 ff.).

Ein Zusammenhang zwischen Unterwelt und Nacht besteht bei Vergil auch darin, daß Aeneas „vor Mitternacht wieder aus der Unterwelt aufgestiegen sein [muß], denn Mitternacht ist die Stunde der wahren Schatten (Vers 893 ff.)“ (Le Goff, 1984, S. 38). Le Goff weist in seinem Kapitel über Vergil darauf hin, daß auch in den Apokalypsen und den mittelalterlichen Visionen die Reise ins Jenseits meist vor Sonnenaufgang, vor dem ersten Hahnenschrei beendet sein muß. Wie schon bei Plato wird auch in der Aeneis über alle Verstorbenen Gericht gehalten und individuelle Rechenschaft velangt. Auch Vergil’s Dichtung hat „moralpädagogischen Charakter. Die Einschätzung der Menschen durch den Dichter wird an drei Kategorien von Toten erkennbar. Eine unschätzbar große Zahl ist in die Hölle verdammt, aber größer ist die Zahl derer, die zur Läuterung im Jenseits gepeinigt werden und zur Wiederverkörperung bestimmt sind; ganz klein ist die Zahl der wahrhaft Schuldlosen, die in ewigem Glück wohnen“ (Vorgrimler, 1993, S. 54).

Die Unterweltsfahrt des Aeneas war aufgrund des hohen Ansehens Vergils im Christentum durch Jahrhunderte von großem Einfluß, zumal auch weiten Kreisen ein strenger Unterschied zwischen Dichtung und Prophetie nicht bewußt war. „So kehren in der späteren Literatur wie in der bildenden Kunst lebende und starre Requisiten dieser Reisebeschreibung wieder. … Personifizierte Mächte wie der Tod, mythische Figuren wie Dämonen und Furien, Mischgestalten zwischen Mensch und Tier wurden zum geläufigen Inventar der Hölle. Die in die Unterwelt gelangten Menschen führen eine leiblose Schattenexistenz, sind aber gestalthaft wahrnehmbar und daher auch abbildbar“ (Vorgrimler, 1993, S. 54).

Minois schließt sein Kapitel über die Unterwelt bei Vergil mit der Feststellung ab, daß die Aeneis über die Volkskunst eine echte Faszination auf die Völker ausübte, und daß viele spätere Höllendarstellungen nur Varianten oder Weiterentwicklungen der Aeneis seien. „Aber diese volkstümliche Hölle ist noch nicht die vollkommene Hölle, ihr fehlt die Ewigkeit, … um die absolute Qual zu schaffen“ (Minois, 1996, S. 72).

Überleitung zur Hölle des Christentums

Aus einer dunklen Schattenwelt für alle Toten, die „wie tiefe Nacht“ ist, wurde – wie zuvor gezeigt – im jüdischen Altertum allmählich ein Strafort für die Sünder, die in der Finsternis unter der Erde von Wurm und Feuer gequält werden. Auch der Hades der Griechen war in erster Linie ein finsterer Ort, an dem die Toten abgeschnitten vom Licht und von der Lebenslust ein Schattendasein fristeten. Schließlich ist auch bei Vergil die Nacht das Zeichen einer Unterwelt, in der die Seelen der Menschen, die Verbrechen begangen haben, Schreckliches in der Finsternis erleiden müssen. So ist die Nacht und die Finsternis zuallererst als Metapher für die dem Menschen feindlichen Mächte zu verstehen: den Tod und das Böse.

Wie im Abschnitt über die Aeneis aufgezeigt wurde, ist die Nacht aber auch die Tageszeit, die besonders günstig für Visionen und Reisen in das Jenseits ist. Und sie wird – wie wir im Laufe der Auseinandersetzung mit der christlichen Höllenvorstellung noch sehen werden – auch die Zeit werden, in der „Reisen“ in der entgegengesetzten Richtung möglich und zu fürchten sind: Die Nacht wird die Zeit werden, in der die Mächte der Hölle die größte Kraft besitzen, das Leben und das Seelenheil der lebenden Menschen zu bedrohen. Das, was Odysseus am eigenen Leib erfahren mußte, nämlich, daß die Schatten des Totenreiches ihm schaden können, wird zu einer großen Angst der Menschen des Mittelalters bis hinein in die Neuzeit: Die Angst vor dem Teufel, dem Fürsten der Finsternis.

Die Betrachtung einer Geste des Aeneas soll nun überleiten zur Darstellung der christlichen Hölle. Zu Beginn seiner Unterweltsreise „zeigt Äeneas nach oben auf die lichtüberfluteten Gefilde – eine typische Geste aus der [finsteren] Tiefe zum Licht…“ (Le Goff, 1984, S. 38). Dieser Fingerzeig des Aeneas weist auf die christliche Weltsicht hin, die durch zweierlei geprägt wird: zum einen durch die finstere, gefürchtete Nacht der Sünde und zum anderen durch die Hoffnung auf ein Leben im licht- und lebenerfüllten Himmel, nahe bei Gott. „Im Rahmen der stark ausgeprägten Lichtsymbolik der christlichen Tradition übernahm die Nacht die Rolle der feindlichen Macht“ (Daemmrich, 1995, S. 260), und Jesus wurde das Licht der Welt. Und so beruht die „sittliche Entwicklung des Menschen … auf dem erfolgreichen Kampf mit den Mächten der Finsternis und der Suche nach göttlicher Erleuchtung“ (Daemmrich, 1995, S. 260). Das Christentum wurde aus dem Bewußtsein heraus geboren, daß der Kampf mit dem Bösen in seine Endphase eingetreten war. Wir wollen nun betrachten, wie sich aus diesem Bewußtsein heraus die christliche Vorstellung einer Hölle als ewigem Strafort entwickelte und welche Rolle der Nacht zugedacht wurde.

Zweites Kapitel

Die Hölle des Christentums

Die Finsternis draußen

Minois weist darauf hin, daß sich Paulus als der „älteste Zeuge und erste Aufbereiter des christlichen Gedankens … souverän über die Hölle hinweg[setzt]“ (Minois, 1996, S. 89). Er folgert: „Diese äußerste Zurückhaltung bei einem Mann, der die Apostel gekannt und lange Diskussionen mit ihnen geführt hat über die Lehre Christi und ihre Auslegungen, zeigt, daß der Glaube an die Hölle bei dem Schöpfer des Christentums eine sehr marginale Rolle gespielt hat…“ (Minois, 1996, S. 89).

„Nach einer Anzahl neutestamentlicher Zeugnisse hat Jesus [allerdings] selber das Wort >Hölle< verwendet“ (Vorgrimler, 1993, S. 17), „obwohl keineswegs bewiesen werden kann, daß die Worte, die Christus zugeschrieben werden, wirklich genau zutreffen“ (Minois, 1996, S.. 91).

Mit dem deutschen Wort Hölle sind hier die neutestamentlichen Bezeichnungen für den Strafort der Frevler gemeint: Abyssos, Hades, Infernum und vor allem Gehenna. „Die Bezeichnung Gehenna im neutestamentlichen Griechisch ist ein Lehnwort aus dem Hebräischen. Dort heißt ge-hinnom … das Hinnomtal in der Nähe Jerusalems. Dort wurde der assyrische Gott molek (Moloch) an einem Kultort namens Tophet durch Brandopfer, manchmal wohl auch durch Kinderopfer im achten und im siebenten Jahrhundert v. Chr. verehrt. … Zur Zeit Jesu war ge-hinnom eine geläufige Bezeichnung eines Ortes geworden, der von Gott verworfen und zur Stätte seiner Strafe bestimmt sei“ (Vorgrimler, 1993, S. 18). Und allmählich „entwickelte sich die Vorstellung, daß dort beim Letzten Gericht die Frevler versammelt würden. Damit war das Gehinnom-Tal als >Gehenna< identisch geworden mit dem jenseitigen Strafort“ (Grübel, 1991, S. 52). „Das deutsche Wort >Hölle< geht auf eine gemeingermanische Wurzel hel-, verbergen … zurück. Der westgotische Bischof Ulfila (gestorben 383 oder 382) gibt mit dem gotischen halja das griechische Wort Hades wieder, das einfachhin das Totenreich bezeichnet. Den fremden Begriff >Gehenna< aus dem Neuen Testament übernimmt er als Lehnwort >gaiainna<. [Erst] im zwölften und dreizehnten Jahrhundert wird dann die Verwendung des Wortes >Hölle< (>helle< u.ä.) mit der praktisch ausschließlichen Bedeutung von Strafort für Verstorbene verbunden“ (Vorgrimler, 1993, S. 17).

Aber zunächst nahm die Hölle im Bewußtsein der Christen keinen breiten Raum ein: „…die Hölle innerhalb des Neuen Testamentes [wird] nirgendwo so breit ausmalend dargestellt … wie die Freuden des >Himmels< oder das >Neue Jerusalem<“ (Vorgrimler, 1993, S. 78). Denn die frühen Christen glaubten, daß das Gericht Gottes unmittelbar bevorstehe: „Mit dem Ostererlebnis war alsbald und zunächst die feste Überzeugung verbunden, der zu Gott Erhöhte werde bald(igst) wiederkommen, dieses Mal in offenbarer Herrlichkeit als der von Gott mit dem Gericht beauftragte Richter“ (Vorgrimler, 1993, S. 14).

„Es kann, historisch gesehen, kein Zweifel daran sein, daß Jesus selber mit drohenden Worten vom Gericht und seinen Folgen gesprochen hat. … Wie die Gerichtsankündigungen Jesu im einzelnen gelautet haben, läßt sich [allerdings] kaum mehr ausmachen“ (Vorgrimler, 1993, S. 16).

Mit diesem Gericht würde für die Gottgetreuen eine Zeit der immerwährenden Gerechtigkeit und Freiheit anbrechen: das Gottesreich. Es würde die allumfassende Versöhnung der gesamten Schöpfung sein, so daß alle Gewalt- und Machtausübung aufgehoben wäre. Die Menschheit wäre somit in „jenem gott-gemäßen, friedvollen und versöhnlichen Zustand, der es Gott ermöglichen würde, in seiner nun vollendeten Schöpfung bleibend >sein Zelt aufzuschlagen<“ (Vorgrimler, 1993, S. 12). Jesus sah diese Gottesherrschaft in seiner Person angebrochen. Da der Gott des Jesu ein Gott des Lebens und der Lebendigen war, würden die toten Gottgetreuen als Auferweckte in diesem Gottesreich leben, welches nicht im „Jenseits“, sondern in dieser konkreten Schöpfung errichtet wird. Alle Mächte des Bösen, die von Anfang an Widerstand gegen diese Verwirklichung von Gottes Willen geleistet hatten, alle gottwidrigen Kräfte, zu denen vor allem der Tod gehörte, alle Menschen, die sich gegen die Umkehr im Namen Christi und somit für das Böse, welches durch sie und ihnen wirkte, entschieden haben, würden endgültig vernichtet werden. Die Folgen einer Entscheidung gegen das Heilsangebot Gottes waren bei Jesus „gewiß“ (Vorgrimler) in erster Linie im Kontext menschlicher Eigenverantwortung angesprochen worden: Wer keinen Einlaß fand in das Gottesreich, also „draußen“ bleiben mußte, hatte sich bewußt für „draußen“ entschieden. Mit den Worten des Matthäus: für „die Finsternis draußen“ (Mt. 25, 30).

Diese „Finsternis draußen“ wurde zum einen weiterhin im Sinne der alttestamentlichen Tradition als die Finsternis des Todes verstanden, die wie die „ewige Nacht“ eine Übertragung der konkreten Dunkelheit des Grabes in den Bereich der bildlichen Rede war. Die Vorstellung, daß der Tod eine Trennung von Gott bedeute, hatte sich bereits im jüdischen Bewußtsein entwickelt, und im Anschluß daran illustrierte „die Finsternis draußen“ auch die Distanz der Toten zu Gott. Durch die Heilsbotschaft des Jesus von Nazareth, wie sie die Evangelien verbreiteten, wurde – um im Bild zu bleiben – die so verstandene „Finsternis draußen“ noch finsterer: Denn nun war der Tod nicht mehr einfach nur ein Zustand, der ausnahmslos alle betreffen würde. Somit waren auch die „Finsternis“ oder die „ewige Nacht“ nicht mehr Metaphern für eine Totenwelt, in der alle Toten ein freudloses Schattendasein führten. Da das Neue Testament den Tod zur Strafe für alle die Menschen erklärte, die Jesus nicht nachfolgen, erfuhr die Vorstellung vom Tod eine „Verschärfung“. Der Tod war nicht mehr das unabänderliche Schicksal aller Menschen, ob gut oder böse, sondern ein Zustand, der auf die bewußte Abkehr von Gott folgt.

All jene, die Jesus als den Sohn Gottes anerkennen, werden – da Jesus den Tod besiegte – auferstehen und so am ewigen Leben nahe bei Gott teilhaben. Der Gott des Neuen Testamentes stellt sich demnach auf die Seite des Lebens. Dadurch, daß Gott nun eindeutig mit dem Leben identifiziert wird, wird dem Tod eine neue Qualität zugesprochen: Der Tod wird zur gottwidrigen Kraft, zum Bösen. Folglich haben sich alle, die die Heilsbotschaft nicht annehmen, für das Böse entschieden und werden nicht auferstehen.

Da das Leben und Jesus als der Gott der Lebenden symbolisiert werden durch das Licht, stellt der Tod als Folge einer bewußten Abkehr von Gott die „Finsternis draußen“ dar. Diese Finsternis ist zum einen die Abwesenheit des Lichtes, bedeutet also weiterhin im Sinne der Tradition Gottferne. Weil der Tod nun aber eine gottwidrige Kraft und eine Folge sündigen Handelns ist, erhält die Finsternis eine weitere, eine „positive“ Bestimmung: die Finsternis ist ein Zeichen der Sünde, die Finsternis ist ein „positives Merkmal“ des Gottwidrigen, des Bösen.

Daß innerhalb einer solchen Vorstellungswelt neben der Finsternis auch die Nacht durchweg mit dem Bösen in Verbindung gebracht wird, illustrieren Textstellen, die Jean Delumeau in seinem Buch über die „Angst im Abendland“ zusammengestellt hat: „Christus selbst muß die Passionsnacht durchleben. Als die Stunde gekommen war, lieferte er sich den Gefahren der Nacht aus (Jo. 11, 10), jener Nacht, in die der Verräter Judas untergetaucht war (13, 30), jener Nacht, in der seine Jünger Ärgernis nehmen sollten (Mt. 26, 31); er aber wollte dieser >Stunde und der Macht der Finsternis< die Stirne bieten (Lk. 22, 53). Am Tage seines Todes senkte sich Finsternis auf die ganze Erde herab (Mt. 27, 45). Seit der Verkündigung des Evangeliums und der Auferstehung Christi leuchtet jedoch Hoffnung am Horizont der Menschheit. Gewiß befindet sich der Christ gegenwärtig noch >in der Nacht<, sagt der Apostel Paulus. Doch ist diese Nacht bereits >vorgeschritten< und jener Tag, der ihr eine Ende setzen wird, schon ganz nahe (Röm. 13,12). Wenn er die Berge der Nacht überwinden will (Jo. 12,35), so muß er auf Christus hören und ein >Kind des Lichtes< werden (Jo. 12, 36) Um sich gegen den Fürsten der Finsternis vorzusehen (Eph. 6, 12), muß er Christus und die Waffenrüstung des Lichtes anziehen und >die Werke der Finsternis< ablegen (Röm. 13,12ff.; 1.Jo. 2,8f)“ (Delumeau, 1989, S. 125-126).

Interessant für mein Thema, die „höllische Nacht“, ist in diesem Zusammenhang auch ein „…Ereignis, das im Neuen Testament kaum erwähnt wird, …[aber] die ersten Christen stark beschäftigt [hat], nämlich die angebliche Höllenfahrt Christi“ (Minois, 1996, S. 109). Bald entwickelte sich ein reichhaltiges, apokryphes Schrifttum, welches über die Andeutungen im Neuen Testament weit hinausgehend detailreiche Berichte über die Höllenfahrt Christi unter das gläubige Volk brachte. Im Mittelpunkt steht die Konfrontation Jesu mit dem Teufel, aus welcher Jesus siegreich hervorgeht, da er „alle Toten des Alten Bundes erlöst“ (Minois, 1996, S. 110). Diese Episode gehe – so Le Goff – auf ein altes orientalisches Motiv zurück, „nämlich auf den Kampf des Sonnengottes mit den Gewalten der Finsternis; das Reich, in dem die Sonne gegen die Finsternis kämpft, ist auch das Reich der Toten“ (Le Goff, 1984, S. 63). Minois weist auf gnostische Einflüsse hin, was einerseits die Gegenüberstellung des guten und des bösen Prinzips im Kampf, andererseits die Identifizierung des Guten mit dem Licht und des Bösen mit der Finsternis betrifft.

Da die christliche Kirche am monotheistischen Gottesbild festhielt, wurden dualistische Lehren, wie die Gnosis, als Häresien bekämpft. Die gleichnishafte Sprache des Neuen Testamentes leistete dualististischen Tendenzen allerdings Vorschub: Besaß der Gott des Alten Testamentes noch lichte wie dunkle Anteile, war er ein Gott, der das Leben und den Tod brachte, der gut und böse war, so wurde der Gott des Neuen Testamentes eindeutig als das Licht der Welt angesprochen: „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis“ (Joh. 1, 5/6).

Der Gott des Neuen Testaments ist ein guter Gott, ein Gott der Liebe und des Lebens, ein eindeutig gutes Prinzip. Innerhalb einer dualistischen Lehre wäre folglich die Finsternis, der Haß, der Tod, alles Übel dieser Welt nicht Gott, sondern ein böses Prinzip. Da die Christen aber kein anderes Prinzip neben dem Prinzip Gott anerkennen wollten, ergab sich das Problem, wie das Böse in der Schöpfung eines guten Gottes seinen Platz finden konnte. Im Hinblick auf die „höllische Nacht“ ist es – denke ich – statthaft, das Theodizee-Problem beiseite zu lassen, denn die dualistische Vorstellungsweise war, wie ich im folgenden darstellen werde, maßgeblich für die Ausgestaltung der christlichen Hölle und für weitere Entwicklung der Beziehung zwischen Hölle und Nacht.

So kam, als sich die Hoffnung auf ein baldiges Kommen ihres himmlichen Herrschers nicht erfüllte, innerhalb der christlichen Gemeinden vermehrt ein apokalyptisches Denken auf, welches das Reich Gottes nicht mehr innerhalb dieser Schöpfung anbrechen sah, sondern in naher Zukunft das Weltende im Rahmen einer kosmischen Katastrophe erwartete. Diese letzte Epoche wurde gedeutet „als Kampf zwischen Guten und Bösen, über die am Ende der Zeiten Gericht gehalten würde“ (Grübel, 1991, S. 51). Dabei wurden die Feinde der Gläubigen „nicht nur in menschlicher Gestalt gesehen: als Satan, böse, gefallene Engel, als Drache usw. nahmen sie auch jenseitig-dämonische Züge an. Sobald das Totenreich zu einem Reich der Strafhölle gemacht worden war, konnte man sich diese unheimlichen Figuren als dessen Beherrscher denken, die vom >Jenseits< aus ihre Angriffe auf Erden führten“ (Vorgrimler, 1993, S. 78).

Ein entscheidener Schritt zur Etablierung der Strafhölle war getan, als sich das Christentum bei „der Wahl zwischen einer einförmigen Totenwelt – wie das jüdische Scheol – und einer zweigeteilten Welt nach dem Tode, einer Welt des Schreckens und einer Welt des Glück, wie der Hades und das Elysium, …für das dualistische Modell…“ (Le Goff, 1984, S. 10) entschied. So wurde die „Finsternis draußen“ konkreter.

Langsam gewannen die Topographie der Hölle und ihre Strafen an Gestalt. „Der zunehmende Einfluß der östlichen Religionen, deren Jenseits von Dämonen bevölkert ist, die zunehmende Sorge um das persönliche Heil, die Beunruhigung über das, was nach dem Tode kommt…“ (Minois, 1996, S. 97), trugen zur Ausgestaltung der Höllenvorstellung bei. Da die kargen Anspielungen in der Bibel „die Neugierde der Gläubigen nicht befriedigen [konnte], die auf Einzelheiten und faßbare Darstellungen aus…“ (Minois, 1996, S. 97) sind, müssen sie also erfunden werden. Da Christus das Heil versprochen hat, dieses aber „nicht jedem widerfahren kann, bedarf es eines Gegenpols, nämlich der Hölle. Und so beginnen die Gläubigen an diesem Thema, das einer überschäumenden Phantasie so sehr entgegenkommt, fleißig weiterzuspinnen. Erst in zweiter Linie beginnen die Kirchenväter eine Theologie für diesen Glauben zu schaffen…“ (Minois, 1996, S. 97).

Die finstere Hölle

Die Evangelisten griffen bei der Beschreibung dessen, was den Sündern in der „Finsternis draußen“ blüht, auf jüdische Anschauungen zurück: „Die Hölle [Gehenna] wie auch ihr Feuer waren … für die Hörerinnen und Hörer der Jesusbotschaft geläufige Vorstellungen. … Ein weiteres mit solchen Vorstellungen verbundenes Motiv ist die (ewige) Finsternis. Etliche Male ist es kombiniert mit >Heulen und Zähneknirschen<, die in jener Finsternis herrschen sollen“ (Vorgrimler, 1993, S. 19-20).

„In der Auslegungsgeschichte gaben diese Anschaulichkeitsmotive wie auch dasjenige des Feuers … Anlaß zu abenteuerlichen und uferlosen Spekulationen. Mit Feuer, Heulen und Zähneknirschen sollten Elemente extremer Schmerzerfahrung als Warnung vor >Draußen< benannt werden. Finsternis ergab sich als Bild für das Getrenntsein vom Land der Lebenden aus der Dunkelheit des Grabes und der mit ihm verbundenen Totenwelt. Sobald die Warnungsworte als buchstäblich zu nehmende Vorausinformation verstanden wurden, wurde über ein Feuer gerätselt, das brennt und nicht verbrennt und sich gleichzeitig mit Finsternis vereinbaren ließe. Aus dem Heulen und vor allem Zähneknirschen oder – klappern erschloß man eine Strafe von äußerster Kälte (gefolgt von Wut oder Reue auf seiten der Bestraften), woraus sich das Problem ergab, wie eine Koexistenz von Feuer und Kälte zu denken sei“ (Vorgimler, 1993, S. 20).

In dem Maße, wie die „Finsternis draußen“ konkreter wurde, wandelten sich im allgemeinen Bewußtsein der Gläubigen auch die Metaphern für die gottwidrigen Kräfte, „Anschau-ungsmotive“, wie Vorgrimler sie nennt, zu realen Wesenheiten des Bösen. Diesen bösen Wesenheiten, deren Oberhaupt der Teufel war, Satan, Lucifer, Herr der Finsternis, wurde als ihr Herrschaftsgebiet zunächst einmal die Hölle, als der finstere Ort der Bösen, zugesprochen, dann aber weiteten sie ihre Herrschaft auf die Erde aus und insbesondere die Nacht als konkrete Tageszeit wurde zur Zeit der bösen Mächte. Diese Entwicklung will ich im folgenden darstellen.

„Der Glaube an eine zukünftige Hölle für die Übeltäter dieses Erdenlebens wurde zu Beginn des 3. Jahrhunderts Allgemeingut…“ (Minois, 1996, S. 123), geglaubte Wirklichkeit, den Gläubigen bekannt durch Höllenvisionen und Höllenreisen, wie sie durch zahlreiche apokryphe Schriften und durch Prediger verbreitet wurden.

„Die Hölle, die sich das Volk ausgedacht hat, ist eine reichlich konfuse Angelegenheit, bei der nur ein Element konstant ist: die Qual“ (Minois, 1996, S. 123). Es gibt zwar auch schon in der unmittelbar nachchristlichen Zeit „Zeugnisse einer theologisch und spirituell niveauvollen Reflexion…, die … an der Ausmalung jenseitiger Zustände oder gar Strafen nicht interessiert sind…“ (Vorgrimler, 1993, S. 78). Da ich jedoch denke, daß sowohl die heutige Vorstellung der Hölle als auch die Entwicklung der Beziehung zwischen der Hölle und der Nacht vor allem von den „volkstümlichen“ Vorstellungen geprägt wurde, gehe ich auf die theologische Diskussion nur am Rande ein.

Eine sehr einflußreiche Höllenbeschreibung, die erst „eine Synode des Jahres 397 in Karthago“ (Vorgrimler, 1993, S. 82) aus dem Kanon der biblischen Bücher ausschloß, ist die auf einen unbekannten Autor zurückgehende Petrusapokalypse, vermutlich 135 n. Chr. entstanden: „das älteste christlich-nachbiblische Zeugnis über das Ergehen des Menschen nach seinem Tode“ (Vorgrimler, 12993, S. 79), „…die erste Beschreibung der Höllenqualen, der noch sehr viele folgen werden. Sie ist gewissermaßen tonangebend, denn von nun an geht es darum, den Vorgänger an bis ins Detail beschriebenen Grausamkeiten zu übertrumpfen“ (Minois, 1996, S. 107).

Als die Apostel auf dem Ölberg den Auferstandenen bitten, „ihnen den seligen Lohn der Gerechten im Himmel schauen zu dürfen, damit ihre Verkündigung darüber noch wirksamer werde, [wird ihre Bitte erfüllt]. … Außer dem Ort der Herrlichkeit wird [dann von Petrus] auch der Ort der Bestrafung beschrieben.“ (Vorgrimler, 1993, S. 79).

„Die Hölle wird nach traditioneller Art beschrieben: Es herrscht dort tiefe Finsternis (XXI. Kap.): >Ich sah einen weiteren, völlig finsteren Ort; das war die Stätte der Bestrafung< (Le Goff, 1984, S. 50). „Die Bösewichter, Sünder und Heuchler aber werden in den Tiefen nicht verschwindender Finsternis stehen, und ihre Strafe ist das Feuer… Man bereitet ihnen ein nie verlöschendes Feuer“ (Petrus-Apokalypse, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 79).

Zu dem ewigen Feuer der Strafe, welches in der niemals schwindenen Finsternis brennt, kommen noch etliche Qualen hinzu: Lästerer der Gerechtigkeit, Frauen wie Männer hängen an ihren Zungen über dem Feuer; Frauen, die mit Hurerei Männerseelen fingen zum Verderben, hängen an Nacken und Haaren, werden dann in die Grube voll Feuer geworfen; die Männer, die mit ihnen zusammen waren, hängen die Strafengel mit den Schenkeln ins Feuer; Mörder werden ins Feuer geworfen, in dem giftige Tiere sind; da gibt es die Mütter, ihnen fließt Milch aus den Brüsten, die „gerinnt und stinkt, und daraus gehen fleischfressende Tiere hervor, und sie gehen heraus, wenden sich und quälen sie in Ewigkeit mit ihren Männern, weil sie verlassen haben das Gebot Gottes und ihre Kinder getötet gaben.“ (Petrusapokalypse, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 80); weiterhin Qualen durch glühendes Eisen, Selbstzerfleischung, Zerstückelung, Lügner schneidet man ihre Lippen ab, und Feuer geht in ihren Mund und ihre Eingeweide; da gibt es Gewürm, Dämonen, die quälen, Feuerräder, fleischfressende Vögel … usw. usw..

Neben der geradezu sadistischen Schilderung der Höllenstrafen werden noch andere Elemente traditionsbildend wirken: nämlich die „entsprechend den Sünden und den Sündern klassifizierten Höllenstrafen“ (Le Goff, 1984, S. 50). So werden z.B. die Lügner – wie oben genannt – am Organ ihrer Sünde gestraft. Weiterhin befinden sich die ungetauften Kinder in der Hölle. Und die Qualen werden den Sündern von Dämonen zufügt: Qualen, die ewig dauern werden, da es für die Sünder, sind sie erst einmal gestorben und in der Hölle, keine Gnade mehr gibt. Auch findet sich in der Petrusapokalypse die Vorstellung, daß die Gerechten die Sünder sehen können: die ermordeten Kinder sehen die Qualen ihrer Eltern, von denen sie umgebracht wurden. Schließlich geschieht dies alles in einer undurchdringlichen Finsternis.

Die Finsternis ist hier ein konkretes äußerliches Merkmal für diesen Ortes der Bösen. Die Bedeutung der Finsternis als Metapher für die Gottferne tritt hinter die als real vorgestellte Finsternis zurück. Angesichts der Qualen, die ausführlich und breit dargestellt werden, scheint die Finsternis nur den selbstverständlichen Hintergrund für die Ausmalung der Strafen zu liefern.

Dies ist die Hölle, wie sie im großen und ganzen im Bewußtsein der Christen bis in unsere Zeit hinein vorhanden sein wird, ungeachtet dessen, ob sie als realer Ort, als Zustand oder auch nur als illustrierendes Wort angesehen wird. Minois nennt sie die volkstümliche Hölle: die Hölle als Synonym für unermeßliche Qualen. Durch all die Jahrhunderte hindurch wird sie in diesem Stil von Predigern ausgemalt werden, die mit solcherlei drastischen Bildern versuchen, die Angst der Gläubigen vor der Hölle wachzuhalten, um sie vor der Sünde zu bewahren. Denn selbst wenn die Allgemeinheit der Christen die Angst vor der Hölle bis hinein ins frühe Mittelalter nicht kannte, weil sie als die Gemeinschaft der Getauften das zukünftige Gericht mit Optimismus erwarteten (Grübel, 1991, S. 53), und die Hölle somit nicht sie, sondern „die anderen“ betraf, so hatte es nicht lange gedauert, bis Prediger versuchten, die Angst vor der Hölle zu schüren. Denn die Heiden sollten so auf den rechten Weg gebracht werden. Dies brachte den Christen schon sehr früh – im 2. Jahrhundert – den Vorwurf ein, „Seelsorge mit der Angst zu treiben“ (Minois, 1996, S. 117).

Höllenschilderungen wie diese Visionen der Petrusapokalypse wurden von der Allgemeinheit der gläubigen Christen als Beschreibung einer wirklichen Realität angesehen, die schließlich auch die Christen treffen konnte: „Keiner aus dem Volke Gottes ist seines Heiles mehr sicher, nicht einmal die, die der profanen Welt die Einsamkeit der Klöster vorgezogen haben“ (Aries, 1989, S. 130). Schon sehr früh hatten die christlichen Denker ihre Schwierigkeiten, die Widersprüchlichkeiten des geläufigen Höllenbildes miteinander in Einklang zu bringen. „Die Absurditäten der volkstümlichen Hölle ziehen den beißenden Spott der heidnischen Intellektuellen auf sich. Man muß also diese Auswüchse beschneiden und das Christentum mit glaubwürdigen Argumenten verteidigen…., aber die volkstümliche Hölle stellt die Vernunft vor zahlreiche Probleme: Wer kommt in die Hölle? Wann beginnen die Qualen? Sind sie ewig? Wie kann die Seele körperliche Qualen wie Feuer empfinden?“ (Minois, 1996, S. 126). Wie lassen sich Feuer und Finsternis miteinander in Einklang bringen? Wie können die Seligen die Qualen der Sünder in der undurchdringlichen Finsternis sehen? Wie verträgt sich die Existenz einer ewigen Strafhölle mit der Liebe und Gnade Gottes? Wie ist die Beschaffenheit eines Feuers zu denken, das in alle Ewigkeiten quält, also brennt, ohne zu verbrennen?

Selbst einige frühe christliche Theologen sprachen diesen Höllenbeschreibungen ihren Realitätsgehalt ab und sahen – der platonischen Tradition folgend – in den Höllenqualen, wie sie die Bibel beschreibt und wie sie in den volkstümlichen Visionen beschrieben werden, warnende Metaphern. So schreibt Ambrosius im 3. Jahrhundert: „Was ist diese äußere Finsternis? Soll sie bedeuten, daß es ein Gefängnis gibt, in das der Schuldige gesperrt wird? Sicher nicht. Aber jene, die außerhalb des göttlichen Willens und seiner Verheißung leben, sind in der äußeren Finsternis, denn Gottes Wille ist das Licht, und wer ohne Christus lebt, lebt ebenfalls in der Finsternis. [...] Es gibt also kein wirkliches Zähneknirschen und kein ewiges, von echten Flammen genährtes Feuer, es gibt auch keinerlei Gewürm im körperlichen Sinn“ (zit. nach Minois, 1996, S. 131). Dieser Auffassung entsprechend meint die Schrift, wenn sie „vom höllischen Feuer spricht… die brennenden Gewissensbisse der Verdammten. Dieses Feuer ist nicht materiell, es ist geistig, es durchdringt die Seele und nicht den Körper. Es ist der Schmerz über die begangenen Sünden“ (Minois, 1996, S. 127). Und so bedeutet die Finsternis nach metaphorischer Lesart die selbstverschuldete Distanz der Verdammten zu Gott.

Auch Origenes (gest. um 253/254) verstand die Beschreibungen der Hölle metaphorisch. Da auch das Böse seinen Platz in der Schöpfung des guten Gottes hat, lehrte er die Apokatastasis, „die Lehre von der Rückführung aller Dinge in ihren ursprünglichen, rein geistigen Zustand. … Alles kehrt in seinen ursprünglichen Zustand im Schoße des wahren, guten Gottes zurück. Dies würde bedeuten, daß die Verdammten, nach Verbüßen ihrer Strafe, auch gerettet werden…“ (Minois, 1996, S. 129).

So wurde die Ewigkeit der Höllenqualen angezweifelt, denn wie „könnte ein Gott der unendlichen Güte seine eigenen Geschöpfe endlosen Qualen ausliefern?“ (Minois, 1996, S. 126). Jene Theologen, die „so dachten, konnten keinen Grund erkennen, warum die menschliche Freiheit mit dem Tod aufgehoben und keiner Entscheidungsakte mehr fähig sei. Sie hielten eine ewige Koexistenz des Bösen in Gestalt des verstockten Teufels und der reuelosen Verdammten mit der ewigen Liebe und Schönheit Gottes für undenkbar“ (Vorgrimler, 1993, S. 99).

Diese Lehrmeinungen konnten sich bei der sich entwickelnden Amtskirche, die die Hölle als realen, ewigen Strafort für die Bösen etablierte, allerdings nicht durchsetzen, auch da jene der Meinung war, „daß die Angst vor der Hölle eine positive sittliche Ausdwirkung habe“ (Vorgrimler, 1993, S. 101). Die Auffassung einer ewigen Hölle und eines wirklichen, realen, aber vom irdischen Feuer unterschiedenen Höllenfeuers, welches in der undurchdringlichen Finsternis brennt, setzte sich durch. Visionen und Berichte von Höllenreisen konkretisierten weiterhin die Vorstellung von der Hölle, Prediger brachten sie unters Volk, die Theologen systematisierten sie. Als Beispiel für einen Versuch, die Koexistenz von Feuer und Finsternis ohne Widersprüche darzustellen, sei Basilius (gest. 379) zitiert, der auch zwischen den Wesenheiten der Hölle und der Nacht eine Verbindung herstellt: „Derjenige, der in seinem Leben viel Böses getan hat, wird sich furchterregenden, unheilvoll aussehenden Engeln gegenüberstehen, die wegen der Härte ihres Wesens in ihrem Atem und ihren Blicken Feuer ausströmen und mit ihrem finsteren, drohenden Verhalten im Antlitz der Nacht gleichen. Seht den tiefen Abgrund, undurchdringliche Finsternis, Feuer ohne Helligkeit, das zwar brennen kann, aber des Lichtes beraubt ist. Dann stell euch eine Art Wurm vor, der giftig und fleischfressend ist, der gierig fressen kann, ohne jemals satt zu werden, und mit seinen Bissen unerträgliche Schmerzen auslöst. Denkt dann an die allerschlimmste Strafe: ewige Vorwürfe und Schande…“ (Basilius, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 101).

Auch für Augustinus ist die Hölle ewig und das Feuer materieller Natur, es hat die Eigenschaft, alles zu schwärzen, was es verbrennt, „und ist doch selbst leuchtend. Und allem, was es umzüngelt und einhüllt, nimmt es die Farbe…“ (Gottesstaat, zit. nach Minois, 1996, S. 147). Wurm und Finsternis scheint Augustinus dagegen metaphorisch zu interpretieren, so daß ihm die Koexistenz von Feuer und Finsternis keine Schwierigkeiten macht: Die Bisse des Wurmes bedeuten demnach die Gewissensbisse der Sünder, und die Finsternis sieht er als Metapher dafür an, daß die Sünder sich außerhalb des Gottesreiches befinden: „Deshalb nennt der Herr auch diese Stätte >die Finsternis draußen< (Mt. 25,30)“ (Gottesstaat, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 121). Augustinus, der „den Kirchen der katholischen und reformatorischen Tradition eine große theologische Autorität bis heute [ist]…, über tausend Jahre lang … im Abendland sogar die theologische Autorität schlechthin“ (Vorgrimler, 1993, S. 117), war sich mit fast allen Kirchenvätern des 4. Jahrhunderst darüber einig, „daß die Hölle erst nach dem Jüngsten Gericht wirklich beginnt, denn damit die Qualen vollständig sind, muß der Körper auferstehen“ (Minois, 1996, S. 138). Diese Meinung ist gegenüber der Botschaft der Evangelien, laut der nur die Seligen auferstehen werden, eine erneute Konkretisierung der Hölle und der bösen Mächte. Dadurch, daß auch die Verdammten im Fleische auferstehen werden, sind sie in gewisser Weise den Seligen gleichgestellt: Augustinus drückt dies mit seinem Zwei-Staaten-Modell aus. „Der Heilsbotschaft der Gläubigen (>civitas Dei<) stellte Augustinus die >civitas diaboli< gegenüber, die bis zum Ende der Zeiten auf der Welt nebeneinander existieren und zwischen denen sich der Christ entscheiden muß“ (Grübel, 1991, S. 53). Und nach dem Ende der Welt, wenn „nach der Auferstehung das Allgemeine Gericht abgehalten und vollstreckt ist, dann haben die beiden, das Reich Christi und das Reich des Teufels, ihre festen Grenzen. Das eine umschließt die Guten, das andere die Bösen, und beide umfassen sowohl Engel als auch die Menschen…“ (Gottesstaat, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 119). Die Frage, ob diese Auffassung „nicht doch einen metaphysischen Dualismus verrät, der der jüdisch-christlichen Tradition widerspricht, braucht hier [wie Vorgrimler sagt] nicht entschieden zu werden“ (Vorgrimler, 1993, S. 120). Dieses Weltbild, das die Menschheitsgeschichte als das Schlachtfeld der Kämpfe der Guten mit den Bösen ansieht, wirkt bis heute fort. Und die Konkretisierung, die das „Reich des Teufels“ dadurch erfahren hatte, beeinflußte auch die Vorstellungen der Menschen von Nacht als konkrete Tageszeit: War die Hölle der Ort der „Finsternis draußen“, so wurde die Nacht die bevorzugte Zeit für Angriffe aus dieser „Finsternis draußen“. Bevor ich aber diese Entwicklung darstellen werde, sei als ein Beispiel für die Konkretisierung des Bösen gerade im Hinblick auf die Finsternis eine Aussage des Thomas von Aquin (gest.1274) zitiert: „Die Einrichtung der Hölle wird derart sein, wie es am meisten dem Elend der Verdammten entsprechen wird. Demgemäß sind dort Licht und Finsternis, wie es am meisten zum Elend der Verdammten paßt. … gelegentlich kommt es auch vor, daß das Sehen leidvoll ist, wenn wir nämlich etwas sehen, was uns schädlich oder unserm Willen zuwider ist. Und deshalb muß die Räumlichkeit der Hölle in der Weise nach Licht und Finsternis für das Sehen eingerichtet sein, daß nichts deutlich gesehen wird, sondern nur in einer gewissen Vernebelung das gesehen wird, was dem Herzen Leid zufügen kann. Daher ist die Räumlichkeit schlechthin gesprochen finster; dennoch gibt es nach Gottes Anordung dort etwas Licht, das hinreicht, um das zu sehen, was die Seele quälen kann. Und dem tut die natürliche Lage des Ortes Genüge; denn in der Erdmitte, wo man die Hölle annimmt, kann es nur ein rußiges, trübes, gleichsam schwelendes Feuer geben.

Manche sehen jedoch die Ursache der Finsternis in der Zusammenballung der Leiber der Verdammten, die in ihrer großen Zahl derart den Raum der Hölle ausfüllen werden, daß dort keine Luft übrigbleiben wird. Und so wird es dort nichts Durchsichtiges geben, das Licht oder Finsternis aufnehmen könnte, außer den Augen der Verdammten, die verfinstert sein werden“ (Die letzten Dinge, 97. Frage, Artikel 4., zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 202).

Überleitung zur höllischen Nacht

Die Finsternis als Metapher für die konkrete Dunkelheit des Grabes und der damit verbundenen Vorstellung der Distanz zu Gott hat eine neue, zusätzliche Qualität bekommen: Als „Finsternis draußen“ verbildlicht sie einmal die geistige Qual „im ewigen Ausschluß von der Anschauung Gottes… die Einsamkeit und Verzweiflung bedeutet“ (Grübel, 1991, S. 61), und zum zweiten wurde die Finsternis ein konkretes äußerliches Merkmal der als real vorgestellten Strafhölle und der bösen Mächte, welche in der „Finsternis draußen“, nun auch verstanden als „civitas diaboli“, als reale Wesen leben. Ist hier noch die Hölle der Ort, an dem das Böse seine Macht ausübt, so weitet das Böse in der Folgezeit seinen Herrschaftsbereich auf die „Welt“ aus, und die Nacht wird die bevorzugte Zeit für die Angriffe des Bösen auf die „civitas Dei“ werden.

„Eine unglaubliche Furcht vor dem Teufel begleitete die Heraufkunft der Moderne in Westeuropa. Die Renaissance übernahm zweifellos Vorstellungen und Bilder vom Teufel, die sich im Laufe des Mittelalters herausgebildet und vermehrt hatten… Der Teufelswahn nimmt zwei grundlegende Formen an, die sich beide in der Ikonographie widerspiegeln: eine grauenhaft höllische Bilderwelt und eine panische Angst vor den unzähligen Fallen und Versuchungen, die der große Verführer ersinnt, um die Menschen zu verderben“ (Delumeau, 1989, S. 358 – 359).

Laut Delumeau bezeichnet Dantes „Göttliche Komödie“ symbolhaft den „Zeitpunkt, von dem ab das religiöse Bewußtsein der abendländischen Elite der Flutwelle des Satanismus auf lange Zeit nichts mehr entgegenzusetzen hat“ (Delumeau, 1989, S. 359). Eine eingehende Betrachtung der „Göttlichen Komödie“ würde den Rahmen dieser Hausarbeit sprengen, aber da sie in einer Arbeit über die Hölle nicht fehlen darf, sei sie an dieser Stelle des Überganges zur Höllischen Nacht kurz behandelt.

Dante Alighieri, 1265 in Florenz geboren, schuf mit seinem Werk den „Höhepunkt der klassischen Geschichte der Hölle, … Resultat und Krönung einer langen Reifezeit. Wie Reims und Amiens die Perfektion der gotischen Klassik symbolisieren, so ist Dantes Hölle die Kathedrale des Bösen, das unterirdische Meisterwerk mit umgekehrtem Aufbau, das Ergebnis einer langen Reflexion über die Verdamnis“ (Minois, 1996, S. 224). Mit Dantes Dichtung ist die Ausmalung der Hölle „am Ende: neue Elemente tauchen nicht mehr auf“ (Vorgrimler, 1993, S. 191). Die „Göttliche Komödie“ wurde durchaus nicht nur als Dichtung angesehen, sondern „unter der stillschweigenden Vorraussetzung der Wissenschaftlichkeit, der Zuständigkeit für die Regionen Himmel, Hölle, Purgatorium“ (Ross, 1986, S. 56), sie galt „als Schilderung einer visionären Jenseitsreise“ (Vorgrimler, 1993, S. 175).

Minois bezeichnet Dantes Höllenvision nicht nur als Synthese aus volkstümlicher und theologischer, sondern auch als Verschmelzung von mythologischer und christlicher Hölle. „Die bisher besuchten Höllen waren ein Chaos mit einer wirren Topographie, … Qualen und widersprüchliche Geschichten, ohne jeglichen Zusammenhang. … Die Höllenfauna war bunt zusammengewürfelt aus Drachen, monströsen Untieren, echten Tieren und Dämonen. Die Strafen waren zwar je nach der Verfehlung unterschiedlich, hatten jedoch kaum eine Beziehung zu der Art der begangenen Sünden. Dante organisiert, strukturiert, klassifiziert und ordnet. … Dantes Hölle ist ein riesiges intellektuelles Gebäude nach dem Bild der theologischen Summen seiner Zeit. Er ist ein visionärer Thomas von Aquin; beide klassifizieren sie und ordnen ein, der eine die Bilder, der andere die Ideen. … Die Summa und die Hölle sind rationale Gebilde und unabweisbar, sobald man ihre Prämissen anerkennt“ (Minois, 1996, S. 211-212).

Die „Göttliche Komödie“ des Dante, die „gewiß religiöse Absichten verfolgt, … [will aber] primär Dantes politische Auffassung zur Geltung bringen und Abrechung mit seinen Gegner halten…“ (Vorgrimler, 1993, S. 175): „Was beim Inferno im Vergleich zu Texten und bildlichen Darstellungen früherer und späterer Zeiten auffällt, ist die enorme Erden-, Menschen-, Zeitgenossennähe“ (Ross, 1986, S. 57). Dante benannte die Sünder namentlich. Etwas, das die offizielle kirchliche Lehre nie tat: „Diese hat nie einen Menschen namentlich und mit Gewißheit in die Hölle versetzt“ (Vorgrimler, 1993, S. 190). Minois sagt dazu, „daß der Dichter die Sünden mit der Hölle bestraft und die Personen nur als Beispiel zitiert“ (Minois, 1996, S. 219).

Ich denke, daß sich Dantes Hölle durch diese „Erd- und Menschennähe“ in den von mir beschriebenen Prozeß der Konkretisierung der „Finsternis draußen“ einfügen läßt. Denn dadurch, daß die Verdammten nicht anonym bleiben, sind sie den Rezipienten der „Göttlichen Komödie“ vertrauter, und so wird auch die Hölle zu einer konkreter faßbaren Realität.

Was die Beziehung zwischen der Hölle und der Nacht betrifft, so beginnt die „Göttliche Komödie“ Dantes zur Nachtzeit. Dante hatte sich des Nachts in einem dunklen Wald, dem Wald der Sünde, verirrt. Dort kam ihm der Geist Vergils zur Hilfe, der Dante das Angebot machte: „Am besten scheint es mir an deiner Stelle,/ Daß du mir folgst; ich will dein Führer sein/ Und mit dir wandern durch die ewige Schwelle…“ (Dante, 1957, I. Gesang, S. 10). Vergil ging daraufhin weg, Dante schloß sich ihm an, und : „Der Tag verging; das Dunkel brach herein“ (Dante, 1957, II. Gesang, S. 11).

Die Jenseitsreise selbst beginnt allerdings nicht in der Nacht, sondern am „Karfreitag-morgen des Jahres 1300“ (Vorgrimler, 1993, S. 176). Ich denke jedoch, daß Dante, da er die „Göttliche Komödie“ zur Nachtzeit im Wald der Sünde beginnen läßt, auf den Abstieg des Aeneas in die Unterwelt anspielt. Denn dort – vor dem eigentlichen Tor der Unterwelt – lauern lauter unheilvolle, allegorische Gestalten, durch die sich – wie Minois schreibt – die Hölle auf Erden fortsetzt. Und Dante wird – wie Aeneas – an dieser Stelle seiner Reise angegriffen: Ihn bedrohen „drei Tiere…, die die drei Laster verkörpern“ (Dante, 1957, Anmerkungen S. 479): Wollust, Hochmut, Habgier. Dante könnte hiermit also den Übergang der eigentlichen Hölle auf die Erde gemeint haben: Die Sünde wäre demnach die Verbindung zwischen den lebenden Menschen und den Mächten der Hölle, die durch die Sündhaftigkeit der Menschen ihren Machtbereich auf die Erde ausweiten.

Die Hölle selbst ist für Dante „Kälte, Hitze und ewige Nacht“ (Dante, 1957, S. 18). So spricht er z.B. vom tiefen Abgrund „und des Tals des Leiden,/Das grenzenlosen Jammers Tosen bannt./In Nacht und Nebel lagen seine Weiden“ (ebd., S. 20), von lichtverstummten Gründen, finsteren Gestaden, der „Nacht hienieden“ (ebd., S. 27) und „finsteren Zonen“ (ebd., S. 29).

Als er und Vergil in den untersten Kreis der Hölle gelangen, stellt Dante angesichts dessen, was er da sieht, mittels eines Vergleichs eine Verbindung zur Nacht als irdischer Tageszeit her: „Wie aus Distanz, wenn dichter Nebel weht,/Und wenn die Nacht beginnt in unseren Landen…“ (ebd., S. 151). Alles in allem aber scheint mir die Nacht, wie die Finsternis, in der „Göttlichen Komödie“ ein illustrierendes Detail zu sein, welches den traditionellen Hintergrund für die Strafen und Qualen liefert. Die Nacht oder die Finsternis als Zeichen der Gottferne tritt meiner Ansicht nach bei Dante hinter die Ausmalung der Höllenqualen zurück.

Bevor ich nun aber zur Nacht als der höllischen Tageszeit komme und meine Hausarbeit mit der Betrachtung der „höllischen Nacht“ abschließe, möchte ich noch auf einen Aspekt eingehen, den ich bereits im ersten Kapitel erwähnt habe: nämlich auf den Aspekt, daß – laut Le Goff – die Reise ins Jenseits in den Apokalypsen und in den mittelalterlichen Visionen vor Sonnenaufgang beendet sein müsse, sie also in der Nacht stattfinde. Einige Beispiele solcher Reisen werde ich nun anführen:

In der Paulus-Apokalypse, die ebenfalls wie die Petrus-Apokalypse auf einen unbekannten Verfasser zurückgeht und deren einflußreichste Fassung aus dem 4. Jahrhundert stammt, wird „Paulus“ die Hölle gezeigt: „Paulus“ reist, getragen von einem „Deute-Engel“ (Vorgrimler), „nach Sonnenuntergang zu… und es war nicht Licht an jenem Orte, sondern Finsternis und Traurigkeit und Betrübnis…“ (Paulus Apokalypse, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 107). Die Reise des „Paulus“ in Richtung Hölle geht ‘gen Sonnenuntergang, also in die Nacht.

In der „Vision des heiligen Fursy“, aufgeschrieben im Jahre 735, ist geschildert, wie Fursy krank wurde und ein Gesicht hatte, denn seine Seele hatte den Körper „vom Abend bis zum ersten Hahnenschrei“ (Beda, zit. nach Le Goff, 1984, S. 139), also in der Nacht, verlassen.

Die „Vision des Drythelm“ schildert die Jenseitsreise des Drythelm, der schwerkrank wurde und eines Abends starb. „Im Morgengrauen erwachte er wieder zum Leben…“ (Le Goff, 1984, S. 140), und später erzählte er dann, was er während der Nacht gesehen hatte.

Die „Vision des Wetti“ berichtet, wie der Mönch Wetti mit geschlossenen Augen krank in seiner Zelle ruhte. Er schlief aber nicht. Nachdem ihm zunächst Satan erschienen war, den aber lateinisch sprechende Engel vertrieben, zeigte ihm ein Engel das Jenseits. Nach einer langen Rede des Engels über die Laster der Welt, erwachte Wetti bei Tagesanbruch und diktierte einem Bruder seine Vision.

In der „Vision Karls des Dicken“ wird Karl als er sich „in einer heiligen Sonntagnacht nach der nächtlichen Gottesdienstfeier zur Ruhe legte und schlafen wollte…“ (zit. nach Le Goff, 1984, S. 146) im Geiste ins Jenseits, auch in die Hölle, entführt.

Ausgehend von einer Legende des 5. Jahrhundert heißt es vom „Fegefeuer des heiligen Patrick“, eine „noch heute im Mittelpunkt einer irischen Wallfahrt stehende Grube…, in der sich Sünder läutern könnten“ (Vorgrimler, 1993, S. 169): „Wer es wagt, eine Nacht in einem dieser Löcher zu verbringen, wird von bösen Geistern ergriffen und verbringt die Nacht in furchtbaren Qualen in einem unauslöschlichen Feuer, so daß man ihn am nächsten Morgen halbtot wiederfindet. Es wird erzählt, daß man von den Höllenstrafen nach dem Tode verschont bleibt, wenn man sich, um bereits in diesem Leben Buße zu tun, jenen Martern unterzieht, es sei denn, man begeht danach von neuem schwere Sünden“ (Le Goff, 1984, S. 241).

Drittes Kapitel

Die höllische Nacht

Begegnete uns die Nacht bisher vor allem im Motivkreis der Finsternis, als Äußerlichkeit der Hölle, als Metapher für den Tod und die Distanz zu Gott, so wird sie nun, da sich die Finsternis der Hölle – wie gezeigt wurde – zu realen, wirkmächtigen Wesenheiten konkretisierte, zur Tageszeit, in der die Mächte der Finsternis ihre Schrecken auf die Welt des christlichen Abendlandes ausüben.

Jean Delumeau beginnt sein Buch „Angst im Abendland“ damit, daß er – Montaigne zitierend – beschreibt, wie schwer es im 16. Jahrhundert war, „des Nachts Augsburg zu betreten…: vier große, aufeinanderfolgende Tore, eine Brücke über einen Graben, eine Zugbrücke und eine eiserne Schranke scheinen nicht zuviel eine Stadt von 60000 Einwohnern, die zu jener Zeit die einwohnerreichste und wohlhabendste Stadt Deutschlands ist, gegen jede Überraschung abzusichern. In einem Land, das religösen Streitigtkeiten ausgesetzt ist, während der Türke um die Grenzen des Reiches streicht, ist jeder Fremde verdächtig, vor allem bei Nacht“ (Delumeau, 1989, S.10-11).

Delumeau bezeichnet die Zeit zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert als „eine Periode gesteigerter Angst…, während der Europa in besonderem Maße von Schicksalsschlägen heimgesucht wurde, die eine nachhaltige geistige Erschütterung bewirkten: der >Schwarze Tod<, der 1348 die jähe Rückkehr tödlicher Epidemien markiert, die Aufstände, die vom 14. bis 17. Jahrhundert nacheinander in den verschiedenen Ländern ausbrechen, der endlos erscheinende Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich,… das Vordringen der Türken, das >Große Schisma< – der Skandal der Skandale -, die Hussistenkriege, der moralische Niedergang des Papsttums vor seiner Erneuerung durch die katholische Reformbewegung, die Abspaltung der Protestanten mit all ihren Folgen: gegenseitige Exkommunikation, Massaker und Kriege“ (Delumeau, 1989, S. 311). „In weiten kirchlichen Kreisen schrieb man die Zustände dem Ausbruch des Teufels und seiner Dämonen aus der Hölle zu. Die religiösen Aggressionen wurden auf Fremde und physisch schwache Minderheiten gelenkt: Muslime, Juden und Frauen (>Hexen<) galten als Agenten des Satans“ (Vorgrimler, 1993, S. 215).

Daß im allgemeinen Bewußtsein die finsteren Mächte der Hölle bevorzugt in der Nacht die Menschen angriffen, liegt sicherlich auch in der uralten Angst des Menschen in der Dunkelheit begründet: „Angst in der Dunkelheit empfanden die ersten Menschen, die nachts den Angriffen der wilden Tiere [und bestimmt auch anderer Menschen] ausgesetzt waren, ohne daß sie sie in der Dunkelheit heranschleichen sahen. Sie mußten durch Feuer diese >objek-tiven< Gefahren fernhalten. Diese jeden Abend von neuem erwachenden Ängste haben die Menschheit zweifelsohne vorsichtig gemacht und sie gelehrt, die heimtückischen Gefahren der Nacht zu fürchten“ (Delumeau, 1989, S. 128).

Für Delumeau ist es mehr als wahrscheinlich, daß diese >objektiven Gefahren< durch ihre Häufung im Lauf der Zeit die Menschen veranlaßt haben, „die Nacht mit >subjektiven Gefahren< zu bevölkern. So konnte die Angst in der Dunkelheit sich als Angst vor der Dunkelheit intensivieren und verallgemeinern“ (Delumeau, 1989, S. 129). Die über Jahrtausende gemachte Erfahrung, daß in der Nacht Gefahren lauern, bewirkte so, daß ein Unbehagen der Menschen vor der Nacht entstand, denn in „ihrem Schoß schmiedeten die Feinde der Menschen Pläne zu deren physischen und moralischen Verderben“ (Delumeau, 1989, S. 125).

Dieses Unbehagen vor der Nacht fand seinen Ausdruck auch in der Ausmalung einer Totenwelt und dann einer jenseitigen Strafhölle, die wie eine „ewige Nacht“ sei. Auch daß die Menschen sich die Bösen als „finstere“ Gestalten vorstellen, hängt – so denke ich – mit diesem Unbehagen zusammen, denn „ehrliche Leute treiben sich um diese Zeit nicht draußen in der Finsternis herum“. Und „der böse Feind macht sich … die Nacht zunutze, um den Menschen, der durch das fehlende Tageslicht anfälliger dafür geworden ist, zu Sünde und Unrecht zu verleiten“ (Delumeau, 1989, S. 138).

Schon früh gehörten zu den Gefahren der Nacht auch Feinde aus dem Jenseits. So war die Nacht im Aberglauben der Völker „die Zeit der Geister und des Zaubers, besonders die Stunde von 12 bis 1 Uhr, sonst gewöhnlich die Zeit bis zum ersten Hahnenschrei oder bis zum Sonnenaufgang“ (HdA, Spalte 776).

Da sich die Menschen die Hölle „wie die Nacht“ vorstellten, und den Ort der Bösen und das Böse mit den Attributen der Dunkelheit und Finsternis und den „objektiven Gefahren“, die die Nacht für sie besaß, ausmalten, lag es nahe, die Nacht zur bevorzugten Zeit des personifizierten Bösen zu machen: war es zuvor das wilde Tier, etwa der Wolf, so war es nun der Teufel z.B. in Wolfsgestalt, welcher in der Nacht die Menschen ängstigte. So war aus dieser Tageszeit, vor und in der die Menschen Angst hatten, auch die Zeit des Teufels, des finsteren Bösen des christlichen Glaubens geworden, die Zeit, zu der er die Hölle verläßt, um das Seelenheil der Menschen zu verderben.

So hat sich die Angst, die der Mensch vor der Nacht empfand, in einem Jenseits des Todes, welches er sich finster, unsicher und erschreckend „wie die Nacht“ vorstellte, zu einer Vorstellung von bösen Wesenheiten verdichtet, die dem alten Schrecken der Nacht ein neues Gesicht geben und die Angst mehren. Denn: „Der christliche Kartograph lokalisiert das Böse in der Hölle, aber auch er weiß, daß es zwischen Hölle und Erde mehr Wege und Eintrittspforten gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt. … Kriege und Seuchen, Klimaeinbrüche und katatrophale Mißernten waren als Geißel der Menschheit bekannt und gefürchtet: Nun aber wurde das Übel, jene dunkle Kraft selbst – als Ursache all dieser Geißeln – in >purer< Personifikation an das Tageslicht gezerrt. Der Pesthauch des Bösen verdichtete sich – die Wurzel allen Übels wird identifiziert in der Gestalt der >Bündnispartner< des Leibhaftigen: der Hexen und Zauberer, der Kundigen und Künder der schwarzen Magie“ (von Radhen, 1993, S. 28).

Außerdem ist in der Nacht „der Teufel am mächtigsten … In seiner ganzen Herrlichkeit und Größe zeigt sich der Teufel bei den nächtlichen Zusammenkünften der Hexen, die jede Mittwoch- und Freitagnacht, besonders aber in der Walpurgisnacht …stattfinden. … In der Nacht verrichten die Hexen auch ihre schädlichen Werke, und nur nachts können sie Tiergestalt annehmen…“ (HdA, Spalte 777-778).

Der Tatsache, daß vor allem Frauen nachgesagt wurde, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, liegt eine lange Geschichte der Diskriminierung der Frau und der Angst der Männer vor den Frauen zugrunde. „Zwar gab es auch Männer, die zaubern konnten, und auch sie mußten mit dem Teufel im Bunde stehen. Aber sie wurden nur angeklagt und verfolgt, wenn sie mit den Hexen gemeinsame Sache machten. Meistens standen sie im hohen Ansehen … [Denn die] Männer hatten sich ihre Zauberkunst durch lebenslange planmäßige Schulung erworben. Und der Teufelspakt, für den man allerdings auf sein Seelenheil verzichten mußte, war eine willkommene Möglichkeit, tiefere, dem Menschen sonst verschlossene Einsichten in die Natur zu bekommen. Die Frau aber hatte mit Geistigkeit und Intelligenz nichts zu tun. Sie galt als primitiv, kreatürlich und wurde eher mit dem Tier als mit ihrem Mann verglichen. Primitiv und animalisch mußten deshalb auch ihre Beziehungen zum Bösen sein. Vertrauensselig, neugierig und geil öffnete sie ihm Tür und Tor. Und weil ohnehin die Sexualität als Haupteinflußbereich des Teufels galt, hatte er hier leichtes Spiel“ (Haag, 1974, S. 155).

Der Mann beschuldigte die Frau, „…die Sünde, das Unglück und den Tod in die Welt gebracht zu haben. … Der Mann hat einen Verantwortlichen für das Leiden, den Mißerfolg, das Verschwinden des irdischen Paradieses gesucht und die Frau gefunden. … Die Höhlung des weiblichen Geschlechts ist zum Höllenschlund geworden“ (Delumeau, 1989, S. 461).

Die Frau galt von alters her, als die, die das Leben schenkt und den Tod bringt, die „Erdmutter ist der nährende Schoß, aber auch das Totenreich“ (Delumeau, 1989, S. 459). Eine Äußerung Simone de Beauvoirs über die Angst des Mannes vor dieser „Zweideutigkeit“ (Delumeau) der Frau führt uns nach diesem Exkurs zur „höllischen Nacht“ zurück: „So ist das Antlitz der Mutter Erde in Finsternis gehüllt … Sie ist das Chaos, aus dem alles hervorgegangen ist und in das alles eines Tages wieder zurückkehren muß. (…) Nacht herrscht in den Eingeweiden der Erde. Dies Dunkel, in das der Mensch zu versinken droht und das die Kehrseite der Fruchtbarkeit ist, erfüllt ihn mit Grauen“ (zit. nach Delumeau, 1989, S. 459).

Bei dieser Nähe der Frau zu der Finsternis der Hölle verwundert es nicht, daß es vor allem die Frauen waren, denen vorgeworfen wurde, bei nächtlichen Zusammenkünften Verkehr mit dem Teufel zu haben. „Der Sabbat oder die nächtlichen Versammlungen, deren die Hexen in den Prozessen beschuldigt wurden, ist ein … bevorzugtes Thema der Hexenankläger“ (di Nola, 1990, S. 288), da sie glaubten, daß die Hexen im Rahmen dieser nächtlichen Zusammenkünfte einen Pakt mit dem Teufel abschlössen. Dadurch unterschieden sie sich von den unfreiwillig vom Teufel Besessenen. Die Hexe „ist nicht Opfer des riesigen Heers von Dämonen, das die schwache menschliche Kreatur umlauert; vielmehr ist sie Protagonistin eines gefährlichen und verabscheuungswürdigen Unternehmens, denn sie sucht eine persönliche Beziehung zur Welt des Bösen und stellt, aus Haß auf die Welt und auf ihre Mitmenschen, Körper und Seele in den Dienst des Teufels, um so in den Besitz einer vergänglichen, aber schrecklichen Macht zu gelangen“ (di Nola, 1990, S. 283).

An dieses „riesige Heer von Dämonen“, welches im Dienste des Teufels die Menschen zu verderben suchte, glaubten nicht nur die Katholiken: Luther „war jedesmal, wenn er auf ein Hindernis stieß, einen Gegner oder eine Institution bekämpfte, davon überzeugt, es mit dem Teufel zu tun zu haben“ (Delumeau, 1989, S. 365).

Speziell über Deutschland schreibt Delumeau, daß in diesem Land, in dem sich die Faust-legende entwickelte, die Einwohner fest daran glaubten, daß Lucifer König sei. Er führt daran anschließend an, daß dieses Gefühl nicht so ausgeprägt gewesen wäre, „wenn nicht Theater und vor allem Buchdruckerkunst jene Angst und zugleich auch einen morbiden Gefallen am Satanismus verbreitet hätten … durch dicke Bände, aber auch durch volkstümliche Schriften. … Broschüren und Flugblätter gab es wie Sand am Meer. Hausierer, wandernde Magier und Teufelsaustreiber verkauften Druckwerke; … sie deuteten Träume, gaben Verbrechen und Schauergeschichten zum besten… [Es] wimmelte … von Geschichten über Besessene, Werwölfe und Teufelserscheinungen. Dies war im 16. und frühen 17. Jahrhundert Deutschlands täglich Brot“ (Delumeau, 1989, S. 366-369). Aber die gesamte europäische Kultur hat – laut Delumeau – „zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert die beunruhigende Seite der Nacht … aufgewertet, und zwar in dem Maße, in dem sie mit geradezu krankhafter Vorliebe Nachdruck auf die Hexerei, den Satanskult und die Verdamnis legte. Man glaubte, daß die meisten Hexensabbate im Schutz der Nacht veranstaltet wurden, da Sünde und Dunkelheit zusammengehören. … So scheint die europäische Kultur an der Schwelle zur Neuzeit einer wachsenden Angst vor der Dunkelheit nachgegeben zu haben…“ (Delumeau, 1989, S. 133-134).

Schluß

Wie Brittnacher in seinem Buch über die „Ästhetik des Horrors“ schreibt, überschwemmten aber selbst um 1800 noch die „… nicht in Hunderten, sondern in Tausenden zu zählenden Schauer- und Geheimbundromane, Gespenstergeschichten, Erzählungen von übersinnlichen Begebenheiten und Traktate zu okkulten Lehren … den Markt“ (Brittnacher, 1994, S. 64).

Doch zu dieser Zeit trat die Aufklärung der „Angst vor der Dunkelheit“ (Delumeau, 1989, S. 134) entgegen. Durch das Wirken der Aufklärung, die sich, wie Kant es ausdrückte, als Befreiung vom Aberglauben verstand, wurde sowohl der traditionellen Höllenvorstellung als auch der „höllischen Nacht“ – wie sie hier als die Zeit der Übergriffe des Bösen dargestellt wurde – der „>wissenschaftliche< Boden [entzogen]… Aber auch wenn die dämonologische Frage wissenschaftlich >erledigt< schien, sie beschäftigte gleichwohl das Alltagsbewußtsein, die Phantasien und die Träume. Nach der Vertreibung des Bösen aus den Wissenschaften durch die Wissenschaften haben die Künste ihm Zuflucht gewährt“ (von Rahden, 1993, S. 41).

Allerdings begegne der Dichtung, die im 17. und 18. Jahrhundert die Hölle thematisierte, etwa Miltons „Paradise Lost“ von 1667 oder das II. Buch von Klopstocks „Messias“ von 1748, – laut Vorgrimler – der „Spott der Aufgeklärten…“ (Vorgrimler, 1993, S. 371).

Neben der krassen Kritik von Aberglauben und traditioneller Religion überhaupt fände sich – wie Vorgrimler ausführt – jedoch auch ein tiefes Nachdenken über das, was Hölle sein oder was mit dem Wort Hölle gemeint sein könnte

Vorgrimler führt hier als Beispiel die Dichtung Jean Pauls an, der nicht die Realität der Hölle negiere, sondern sie in dem Sinne umdeute, daß die Grundelemente der Hölle nicht mehr Schuld und Strafe seien, sondern „die Ängste vor dem Sterben und daraus stammende Vernichtungsvisionen. Jean Pauls >Traum von der Hölle<, nur zur Hälfte fertiggestellt, sucht die Hölle zu beschreiben, die nicht ein jenseitiger Ort, sondern die Welt im Zustand wachsender Vernichtung ist“ (Vorgrimler, 1993, S. 371). Und so nenne Jean Paul, wie Vorgrimler an dieser Stelle schreibt, seinen „dunkelsten Nachtgedanken“, „daß der Tod [...] mir meine teure Geliebte aus den ohnmächtigen Händen ziehe…“ (Vorgrimler, 1993, S. 372).

Ich denke, daß sich anhand der Gedanken Jean Pauls zur Hölle, so wie sie hier skizziert sind, ein Bogen von den Anfängen der Höllenvorstellungen im Alten Testament bis hin zu der Angst vor der Nacht, aus deren Dunkel heraus das Böse die Welt zu verderben droht, spannen läßt: Denn es war die Angst vor dem Tod – Jean Pauls „dunkelster Nachtgedanke“ -, die im Verbund mit der Dunkelheit des Grabes die Ursprünge der Höllenvorstellung des Alten Testamentes prägte: die Vorstellung einer Totenwelt „so finster wie die Nacht“ (Ijob, zit. nach Grübel, 1991). Diese Totenwelt entwickelte sich zu dem jenseitigen Strafort Hölle und dem von Angst geprägten Glauben an die „höllische Nacht“, einer Vorstellung, an die Jean Pauls Beschreibung einer nun seiner jenseitigen Wurzeln beraubten Hölle als „Welt im Zustand wachsender Vernichtung“ (Vorgrimler, 1993, S. 371) anzuknüpfen scheint.

Auch Nietzsche knüpft meiner Meinung nach an christliche Traditionen an, wenn er, die äußerste Konsequenz der Aufklärung – die Heraufkunft des Nihilismus – illustrierend, den „tollen Menschen“ verkünden läßt, daß Gott tot sei und: „…Was thaten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen?… Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?…“ (Nietzsche, KSA 3, S. 481).

Daß, was Nietzsche beschreibt, ist meiner Meinung nach die ins Äußerste gesteigerte Distanz zu Gott: Nicht nur die Toten, wie im Alten Testament, oder die Bösen, wie im Christentum, befinden sich in der „Nacht“, sondern alle Menschen, ja, die ganze Erde. Und Gott ist nicht nur abwesend, wie in der Hölle verstanden als „Finsternis draußen“, sondern tot. Sogar mehr noch als tot, nämlich ermordet, denn: „Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!“ (Nietzsche, KSA 3, S. 481).

Auch der zweifelnde, verzweifelte Faust in Goethes Dichtung befindet sich zu Beginn seiner Tragödie – wie die Regieanweisung sagt – in der Nacht. In Goethes Dichtung findet auch die „höllische Nacht“ im engen Sinne an mehreren Stellen ihre Aufnahme: als die Zeit, in der das Böse bevorzugt in Erscheinung tritt: Faust beschwört in der Nacht den Erdgeist, dessen Anblick er nicht erträgt. In einer Nacht erscheint ihm Mephistopheles, und in eben dieser Nacht schließt Faust seinen Pakt mit dem Teufel. Die eher volkstümliche, derb-sexuell aufgeheizte Walpurnisnacht im ersten Teil des „Faust“ findet ihre klassische Variante im zweiten Teil.

Aber auch im „Erlkönig“ ist die Tradition der „höllischen Nacht“ zugegen. In dieser Dichtung erscheint das Böse, der Tod, ebenfalls in der Nacht. Die „Höllische Nacht“ ist zum Beipiel auch in Goethes Gedicht „Der Totentanz“ aufgenommen, in dem ein Türmer zur Mitternacht die Toten aus ihren Gräbern heraussteigen sieht.

In unserem Jahrhundert wählt z.B. Camus, um das Absurde der menschlichen Existenz, ihre metaphysische Sinnlosigkeit, zu verdeutlichen, den Mythos des Sisyphos, der einer der Frevler war, die in der dunkelsten Tiefe der antiken Unterwelt gequält wurden.

Diese Beispiele aus der anspruchvollen Literatur zeigen, daß die in dieser Hausarbeit herausgearbeitete gemeinsame Geschichte der Hölle und der Nacht nicht mit dem Wirken der Aufklärung ihr Ende fand. Fortgeführt wurde sie auch in den vielen Werken „der Nachtseite der Literatur“ (Brittnacher, 1994, S. 7) über Vampire, Werwölfe, Gespenster und andere teufliche Wesen der Nacht, wie z.B. in den Bestsellern der Anne Rice über Vampire wie „Der Fürst der Finsternis“ oder „Interview mit einem Vampir“, welcher auch als Verfilmung ein großer Publikumserfolg war. Die „höllische Nacht“ findet sich aber auch in vergleichsweise trivialen Filmen wie „Freitag der 13.“ oder „Halloween“, in denen ein Untoter mit einer Maske vor dem Gesicht nächtens die restlichen Figuren des Filmes massakriert, bis er am Ende zurück in die Hölle geschickt werden kann, wo er anscheinend auf die nächste Fortsetzung der Spielfilmreihe wartet.

So war zwar die Angst des Menschen vor den ihm feindlichen Kräften der Auslöser dafür, daß Hölle und Nacht zu einem gemeinsamen Zeichensystem verschmolzen. Aber das morbide Gefallen an der Darstellung des Bösen scheint mir zu einem nicht geringen Teil die Ursache für das Auf- und Weiterleben der „höllischen Nacht“ zu sein. Ein anderer Grund dafür mag gewesen sein, daß sich die „Befreier vom Aberglauben“ Aufklärer nannten, also das Aufzuklärende im Bereich des Dunkeln ansiedelten. So wurde die Lichtsymbolik des Christentums beibehalten, und all das, was als das Böse identifiziert wurde, konnte weiterhin mit Metaphern aus dem Vorstellungsbereich der „Höllischen Nacht“ bezeichnet werden. Dieses Zeichensystem verlor zwar im Bewußtsein der Menschen durch das Wirken der Aufklärung seine metaphysische Glaubwürdigkeit, es verlor aber nicht seine ursprüngliche Bedeutung: Weiterhin konnten mit ihm Dinge versinnbildlicht werden, die die Menschen ängstigen.

So heißt es noch heute, wenn von bösen Erinnerungen die Rede ist, daß „einen Gespenster aus der Vergangenheit quälen“, oder von dem Bösen, zu dem der Mensch fähig ist, es sei seine „dunkle Seite“, seine „Nachtseite“. Und erinnert nicht die Straßenbeleuchtung in unseren Städten und Dörfern an das Licht des Glaubens, und daran, daß auch unsere säkularisierte Kultur ihre „ höllische Nacht“ kennt?

Literaturverzeichnis

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