Verdammt, das ist die Hölle!

Kohlrabenschwarz ist es um uns herum. Kein Mensch gibt auch nur einen leisen Ton von sich. Wie geht das wohl aus? Wie lang werden wir uns noch in dieser Hölle befinden?

Am 17. Oktober hatte „As It Empties Out“ des belgischen Tänzers und Choreographen Jefta van Dinther Uraufführung im Tanzquartier. Der in Schweden Geborene erhielt seine Ausbildung in den Niederlanden, die er 2003 in Amsterdam an der School of the Arts abschloss. In seinen Arbeitsprozess bindet er gerne Menschen ein, die er schon länger kennt und mit denen ihn schon die Erfahrung der Zusammenarbeit verbindet. „Wenn sich alles leert“ – so die deutsche Übersetzung seines Titels – ist ein Stück, welches das Publikum in Bilder und Handlungen entführt, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Und dennoch erwecken diese Imaginationen Erinnerungen und Assoziationen zu archetypischem Geschehen, das tief in uns einen vertrauten Widerhall findet. Der Choreograf entwickelt dabei ein hochemotionales Tanztheater, das bis zur letzten Minute fesselt. Dabei beginnt alles ganz harmlos.

Van Dinther erschien auf der Bühne, und schlendert von der einen Seite zur anderen, das Publikum zeitweise fixierend. In kurzem, blauem Hemd und kurzen Jeans, aber mit mehr als 10 Zentimeter hohen Plateauschuhen sieht er aus wie eine Drag-Queen in legerer Straßenkleidung. Plötzlich beginnt er eine Litanei zu sprechen, die sich lautmalerisch ständig verändert, um schon bald in einen Singsang überzugehen. So moduliert er minutenlang zwischen give yourself und kill yourself bis hin zum verständlichen Satz „I hear your soul“ in einer Art und Weise, dass man meint, er wolle sich in Trance reden. Seine fünf Kolleginnen und Kollegen gesellen sich nach und nach zu ihm und richten ihre Bewegungen ganz nach seinem Sprachgesang aus. Mehr auf dem Boden sitzend und liegend, sich gegenseitig an- und abstoßend erwecken sie den Eindruck, halb Mensch und halb Tier zu sein. Oder zumindest aus einer Zeit zu stammen, in welcher der Übergang vom Tierischen ins Menschliche stattgefunden hatte. Dabei werden Kleidungsstücke gelüftet und für kurze Augenblicke unter die Röcke geschaut. Da schmiegen sich die Körper aneinander, um alsbald wieder voneinander zu flüchten oder in die Flucht geschlagen zu werden. Völlig ermattet schläft van Dinther schließlich sitzend ein und wird von zwei Tänzern hinter den Bühnenvorhang getragen.

Tanz mit Stange.  (Foto: © Eva Würdinger)

Tanz mit Stange. (Foto: © Eva Würdinger)

Der nächste Teil ist bestimmt vom Spiel und Tanz an der Stange. Aber nicht im Sinne des klassischen Balletts. Ein graues Plastikrohr, das beinahe das Ausmaß der Bühnenbreite hat, wird zum Spielobjekt der Agierenden. Einmal unter sie durch, dann wieder über sie drüber oder als Balancerohr verwendet, darf es ganz im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Untermalt wird alles von einer Instrumentalmusik, die, ganz wie van Dinthers Stimme zuvor, sich in endlosen Wiederholungen ergeht ohne jedoch jemals zu langweilen. Am Ende des Spiels bleibt einer der Tänzer mit einem Bein wie verletzt unter dem Rohr liegen. Bis zu jenem Zeitpunkt. an dem sich der schwarze Bühnenvorhang, der bis dahin im vorderen Drittel den Raum abtrennte, Zentimeter für Zentimeter langsam hebt.

Die Beine der dahinter Tanzenden, die nun eine lange Zeit im Spalt zwischen Vorhang und Bühnenboden sichtbar werden, folgen in keiner Weise dem Gesetz der Schwerkraft. Zwar berühren sie den Boden, aber Halt können die Menschen dabei keinen finden. Dieser eingezwängte Blick auf die unteren Extremitäten, der zu Beginn so verstörend wirkt, verformt die Wahrnehmung im Sekundentakt. Was anfangs Ratlosigkeit auslöst, verkehrt sich, je länger die Szene andauert, in eine sinnenfreudige Augenlust. Erst als die Sicht auf die Agierenden ganz frei wird ist klar, wie diese Illusion der Schwerelosigkeit zustande gekommen war. Die Truppe zerrt mit aller Kraft an Seilen, die etwas mit der Erde verbinden, was aber nie sichtbar wird. Ein Objekt, das viel zu hoch über der Saaldecke angesiedelt ist, sich außerhalb des Gebäudes befinden muss. Die Beleuchtung, die zu sehen ist, und die spacigen Töne, die dabei zu hören sind, erinnern an Science-fiction-Filmszenen. Ist es ein Riesenballon, ein Raumschiff, ein Monster, eine extraterrestrische Bedrohung, die hier mit aller Macht gebändigt werden muss? Die Anstrengung, die die Menschen unternehmen, um selbst nicht in die Lüfte gezogen zu werden und ihr Arbeitseinsatz dauert an, bis einer nach dem anderen ermüdet einschläft.

Abermals wechselt die Szenerie. Scharrende, glucksende Geräusche markieren den Beginn einer Sounduntermalung, in der schließlich ein Flattern und Stampfen immer lauter wird. Die Bühne versinkt in tiefes Schwarz und wird ganz unmerklich am rechten Rand nur durch ein kleines, rotes Licht erhellt. In diesem kann man die Bewegungen eines Menschen erkennen. Bewegungen, die jedoch nichts Menschliches an sich haben, sondern Bewegungen, die in ihrem ununterbrochen wiederkehrenden Ablauf Maschinen ähneln. Von rechts nach links von links nach rechts wird der Rumpf bewegt, immer und immer wieder. Die Arme dabei einmal an den Körper geschmiegt, dann wieder hoch aufgerichtet. Bald wird eine zweite Gestalt schemenhaft sichtbar, ebenfalls in diffuses, rotes Licht getaucht. Schwer zu fokussieren, mit aufgelösten Umrissen, nur völlig unscharf wahrzunehmen. Und plötzlich ist es da, das Gefühl und die Erkenntnis: Verdammt, das ist die Hölle! Dantes Inferno drängt sich als historischer Vergleich auf. Aber auch die Qualen des Sisyphus. Denn die nach und nach sichtbar Gewordenen befinden sich alle in einem Dauerzustand der Bewegung. In einem Getriebensein ohne Unterlass, begleitet von einer höllischen Lautuntermalung. So bedrückend die Szenerie wirkt, man kann doch keinen Augenblick von ihr lassen. Das Stampfen, das die Handlung unaufhörlich begleitet, nimmt konstant zu. Die Traumsequenz dauert an und dauert an und dauert an. Und die Frage: Wie geht das wohl aus? stellt sich irgendwann zwingend.

Am schlimmsten sind jene Momente, in welchen die Maschinenmenschen innehalten und sich langsamen Schrittes von ihrem Platz bewegen, stehen bleiben, um wieder mit ihren Bewegungen in den Maschinentakt eingezwängt zu werden. Das kurzfristige Wissen um die eigene verdammte Existenz, das zwischen den ewig gleichbleibenden Bewegungsmustern hier aufblitzt ist das, was so extrem berührt.Van Dinther schafft es, die körperliche Anstrengung, welcher die Tanzenden dabei ausgesetzt sind, über den Bühnenrand hin zu den Zuseherinnen und Zusehern zu transportieren. Man hat das Bedürfnis Luft zu holen, mit dem eigenen Körper aus der Wiederholungsmaschinerie auszubrechen, sich zu schütteln und aufzustehen. Dennoch gibt es noch eine Steigerung des Grauens bis hin zu jenem Augenblick, in dem sich einer nach dem anderen zum Publikum wendet, bis alle geschlossen auf dieses zugehen. Am Spannungshöhepunkt verebbt die Geräuschkulisse und so unvermutet, wie die einzelnen Gestalten auftauchten, driften sie jetzt wieder ins Dunkel ab. Schaffen Platz einer enigmatischen Frau, die plötzlich aus dem Nichts ganz vorne, mittig, ganz nah am Boden beim Publikum sitzt. Sie formt das Bild einer Augurin in einem ausufernden Pelzmantel mit roten Haaren und einer brüchigen Stimme. Ins Dunkel der Bühne eingebettet, erweckt ein schwacher Lichtschein im hinteren Bühnenteil den Eindruck eines figürlichen Widerhalles. Platons Höhlengleichnis drängt sich auf, während die Gestalt, beinahe unbeweglich, über das Arbeiten mit einer Gruppe am Theater schwadroniert. So wie sich zuvor der Bühnenvorhang fast unmerklich hob, so rückt die Frau nun Zentimeter für Zentimeter in den Bühnenraum nach hinten. Fließend, fast unbemerkt geht jene Bewegung vor sich. Bis man realisiert hat, dass das Wesen langsam verschwindet. Mit der Zunahme der Entfernung zum Publikum beginnt sich seine Stimme immer stärker zu verzerren, bis schließlich sowohl die Augen als auch die Ohren dieses mystische Etwas verlieren.

Es fällt schwer, sich aus der verstörenden und betörenden Verzauberung dieses Abends zu lösen. Das, was gerade an einem vorbeigezogen ist, hat so viele Interpretationsansätze, dass es keine letztgültige Aussage und schon gar keine einzig wahre Deutung gibt. Was Jefta van Dinther hier mit seinen fünf Tänzerinnen und Tänzern schuf, ergibt keine lineare Erzählung, sondern viel mehr. Es ist ein lebendig gewordenes Kompendium aus Geträumtem, gemeinsam Erarbeitetem, aus einer Illusion, wie sie nur das Theater atemberaubend in Echtzeit bereithalten kann. Das magische Licht von Minna Tiikkainnen und das betörende Sounddesign von David Kiers stehen in ihrer Qualität völlig gleichberechtigt neben der außergewöhnlichen Choreografie. Das eine ist ohne das andere in dieser Aufführung nicht denkbar. Und alles zusammen ergibt ein fulminantes Ganzes.

Die Koproduktion des Tanzquartiers Wien mit einer Reihe von Tanzveranstaltern in Europa ist mehr als gerechtfertigt und wohl auch Garantie dafür, dass möglichst viele Menschen diesen Abend noch sehen werden. Sehen dürfen. Sehen sollen.


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