Dem Großen ging es letzte Woche sehr schlecht. Wir wussten erst überhaupt nicht, was mit ihm los ist. Er spricht ja nicht über Dinge, die ihn bedrücken, auch auf Nachfrage nicht. Die Nachmittage verliefen außer ein Mal noch recht friedlich. Abends zuhause schien dann aber sein Akku komplett leer zu sein. Er zog sich ins Kinderzimmer zurück, verweigerte jegliche Mahlzeit und fing beim geringsten Anlass (z. B. wenn die Kleine weinte) an zu schreien und zu toben. Hielt sich die Ohren zu, schrie, er wolle allein sein und seine Ruhe haben und beruhigte sich ewig nicht mehr. Er ließ niemanden an sich heran, alles war ihm zuviel und er stand komplett neben sich. Er wirkte total verzweifelt und aufgelöst. Es war ganz schlimm für mich zu sehen, zumal ich überhaupt nicht ahnte, was ihn quälte. Die Hilflosigkeit der Schreibabyzeit wiederholte sich. Erst befürchtete ich, dass es Nachwirkungen der Eiterflechte seien. Erst nach Tagen merkten wir, dass er komplett überreizt ist und dringend Zeit und Gelegenheit zum Abschalten braucht. Als mein Mann am Freitag die Bezugserzieherin des Großen darauf ansprach und herausfand, dass er die ganze Woche weder Mittagsschlaf noch Mittagspause in der Kita gemacht hatte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich grämte mich wahnsinnig, dass ich darauf nicht schon früher gekommen war. Er hatte einfach seine dringend benötigten Pausen nicht bekommen.
Seit August ist er ja in der oberen Etage der Kita, bei den großen Kindern. Dort herrscht ein offenes Konzept vor, es gibt 5 Räume für 50 Kinder und 6 Erzieher. Er ist mit seiner Kerngruppe und seiner Bezugserzieherin komplett nach oben gewechselt, kannte auch die Räumlichkeiten schon sowie die älteren Kinder und Erzieher aus dem Garten sowie gemeinsamen Kitaaktivitäten. Wir wussten, dass zwar oben kein Mittagsschlaf mehr gemacht wird, aber die müden Kinder gefragt werden, ob sie unten bei den Kleinen mit schlafen wollen. Außerdem war ich ganz sicher davon ausgegangen bzw. es war uns so vermittelt worden, dass auch auf der oberen Etage zumindest eine Mittagspause gemacht wird, mit Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten und einer Pause vom anstrengenden Kitatag. Unter diesen Voraussetzungen hatte ich in dem Wechsel eigentlich kein Problem gesehen. Als wir aber mit dem jeden Tag schlimmer überreizten Großen konfrontiert waren, wusste ich, dass ich ihn unbedingt schützen musste.
Am Wochenende versuchte ich, ihm mehrmals kindgerecht zu vermitteln, dass er sich Pausen nehmen und zurückziehen muss, wenn es ihm zuviel wird und er gern mittags in der Kita schlafen kann, wenn er das braucht. Er schläft ja nachts nur ca. 9,5 h und braucht zwar nicht mehr unbedingt einen Tagschlaf, aber dringend eine Pause zum Runterkommen,Verarbeiten und Regenerieren. Wenn er am Wochenende oder im Urlaub mittags nichts schläft, dann achten wir sehr darauf, dass er diese Gelegenheit hat. Er ist dann zwar abends sehr müde, aber war noch nie so überreizt wie in der letzten Woche.
Gestern bat ich dann auch seine Bezugserzieherin um ein kleines Gespräch und so setzten wir uns heute, bevor ich die Kinder abholte, kurz zusammen. Ich fragte nach den Gewohnheiten auf der oberen Etage und sie bestätigte mir, dass es bisher zu keiner richtigen Ruhepause gekommen war. Gestern und heute haben sie den Großen zum Schlafen hinuntergeschickt, heute habe er das wohl sogar selbst so gewünscht. Gestern und heute war keine Überreizung und Überreaktion zu erkennen. Ich machte deutlich, dass er nicht unbedingt schlafen muss, weil er sonst abends noch später müde ist, und zwar auch gut ohne Mittagsschlaf durchhält, aber unbedingt eine Mittagsruhe braucht. Da er kein Kind ist, das sich diese selbstständig holt, um die Akkus aufzuladen, sondern alle Bewegungen, Geräusche und Reize etc. in sich aufsaugt, müssen wir, d.h. wir Eltern und die Erzieher, ihm dabei helfen, sich diese Pause zu nehmen. Ich bat sie eindrücklich darum, ihn zu unterstützen und dies auch an die anderen Erzieher weiterzutragen. Ich schilderte ihr seinen Zustand in der letzten Woche, seine Schwierigkeiten abzuschalten, die Parallelen zu mir selber und sie erkannte meine und seine Not deutlich. Zum Glück ist sie eine erfahrene Erzieherin und weiß, wie unterschiedlich Kinder sind. Das eine braucht keine Auszeit, das nächste nimmt sie sich selbst und das dritte braucht Hilfe. Der Große gehört zu letzteren Kindern, das war schon als Schreibaby der Fall, als wir ihn sozusagen zum Abschalten durch Schlaf "zwingen" mussten" und setzt sich bis heute fort. Ich selbst, da ich genauso gestrickt bin, versuche immer wieder, ihm Strategien zum Abschalten zu vermitteln. In einer neuen, unbekannten Situation wie nach dem Gruppenwechsel allerdings kann er so ein Wissen noch nicht anwenden. Das geht mir ähnlich, ich kann nur in vertrauter Umgebung gut für mich selbst sorgen. All das habe ich ihr vermittelt und sie war wie immer sehr verständnisvoll und lösungsorientiert. Es war ein gutes Gespräch und ich hoffe, dass es jetzt besser läuft.
Irgendwie müssen sie den Spagat hinbekommen zwischen der Tatsache, dass sich jetzt so langsam der Mittagsschlaf ausschleicht (die meisten seiner gleichaltrigen Freunde schlafen schon länger nicht mehr) und einer in dem Alter und von bestimmten Charakteren dringend benötigten Mittagspause. Ich hoffe, dass es sich nun bessert. So wie letzte Woche möchte ich den Großen nicht wieder erleben müssen. Und er selbst würde das auch nicht lange durchhalten. Der Wechsel scheint doch ein größeres Problem als gedacht zu sein. Er ging zwar morgens nie gern in die Kita, aber im Moment ist es besonders schlimm, er will eigentlich immer zuhause bleiben. Das ist traurig, weil er sich dort vor Ort immer wohlfühlt und nachmittags wiederum nicht weg will. Seine Abneigung gegenüber Veränderungen kennen wir ja, aber zur Zeit ist es morgens wirklich extrem schwierig mit ihm.
In solchen Zeiten denken wir mit Schrecken daran, wie das dann erst in der Schule werden soll. Bis dahin sind zwar noch 2 Jahre Zeit und viel Gelegenheit, seine Selbstwahrnehmung und Schutzstrategien zu schulen. Aber das Grundgerüst bleibt natürlich bestehen. Das ist bei mir nicht anders, nur dass mich niemand angeleitet hat, mit meinen Besonderheiten positiv umzugehen. Insofern hat er einen großen Vorsprung vor mir, die sich das alles erst mühselig selbst erarbeiten musste. Ich hoffe, das kommt ihm einst zugute.