Vera Buck - Runa
Die Karriere des jungen Schweizer Arztes Jori Hell steckt fest. Seit Jahren lebt er in Paris, studiert an der berühmten Klinik Salpêtrière unter dem großen Neurologen Dr. Jean-Martin Charcot und kümmert sich um Patient_innen - doch die Doktorarbeit, für die er einst nach Paris zog, ist noch nicht geschrieben. Schlimmer noch, Dr. Charcot kennt nicht einmal seinen Namen, obwohl Jori regelmäßig die berüchtigten Dienstagsvorlesungen besucht, in denen Hysterikerinnen zu Unterrichtszwecken publikumswirksam hypnotisiert und vorgeführt werden. Erst als eines Dienstagabends ein junges Mädchen präsentiert wird, ändert sich Joris ziellose Routine schlagartig. Runa passt in keines der bekannten Krankheitsschemata, nicht einmal Dr. Charcot weiß, was dem Mädchen fehlt. Nur, dass sie verrückt ist, darin sind sich alle einig. Wäre sie gesund, würde sie sich kaum wie ein wildes Tier gebärden. Jori sieht seine Chance gekommen, sich zu profilieren und endlich seinen Doktortitel zu ergattern. Spontan schlägt er eine Hirnoperation vor, die Runas Verhalten korrigieren soll. Überraschenderweise erteilt ihm Dr. Charcot die Erlaubnis dazu und bietet sich sogar als Doktorvater an. Ein Rückzieher ist nun nicht mehr möglich. Jori hat keine andere Wahl, als seinen überhasteten Worten Taten folgen zu lassen. Je intensiver er sich mit Runa befasst, desto tiefer werden die Einblicke in den erniedrigenden Alltag der Patient_innen in der Salpêtrière. Er lernt die Schattenseiten einer Klinik kennen, die sich damit brüstet, weltweit als fortschrittlich zu gelten und muss sich fragen, ob seine Zukunft tatsächlich dort liegt. Doch seine Selbstzweifel sind nicht Joris einziges Problem. Runa ist der Schlüssel zu einem dunklen Geheimnis seiner Vergangenheit, das ihn nun heimsucht...
Was ist das nur mit fiktiven Romanen, die sich auf historische Fakten stützen? Wieso sind diese oft hervorragend recherchiert und überzeugen in der Darstellung der zeitgemäßen Umstände, erzählen jedoch eine Geschichte, die mangelhaft und unglaubwürdig wirkt? von Vera Buck ist eine vorbildliche, realistische Schilderung der Verhältnisse in psychiatrischen Einrichtungen Ende des 19. Jahrhunderts (1884) und den damals üblichen Behandlungsmethoden, erreichte mich auf der fiktiven Ebene allerdings überhaupt nicht. Jeder eindrucksvoll ausgearbeitete Fakt wird durch die misslungene Geschichte geschmälert. Das ist einfach schade und enttäuschte mich herb, denn die ersten 80 Seiten des Buches versprachen Großes. Buck konfrontiert ihre Leser_innen zu Beginn mit Joris Alltag in der Salpêtrière und lässt sie an seiner Seite einer Dienstagsvorlesung beiwohnen. Was dort ablief, ist keine Übertreibung, diese Veranstaltungen sind geschichtlich dokumentiert. Dr. Charcot präsentierte seinen Studenten dort tatsächlich relevante Fälle. Ich war zutiefst abgestoßen von der Zurschaustellung und Demütigung kranker Frauen in einem vollen Vorlesungssaal. Mit Unterricht hatte das für mich nicht das Geringste zu tun, vielmehr sah ich darin Charcots persönliche Bühne zur Selbstdarstellung. Es ist nicht zu glauben, dass das Publikum gierig mit morbider Faszination die öffentliche Erniedrigung Schutzbefohlener verfolgte. Männer, die einen Eid zu helfen leisteten, ergötzten sich an der Hilflosigkeit ihrer Patientinnen. Es war widerwärtig und doch zogen mich Bucks Beschreibungen in ihren Bann. Der Konkurrenzdruck, der damals in der Medizin und der Wissenschaft allgemein herrschte, war deutlich zu spüren. Ärzte lagen im Wettstreit miteinander, als erste neue Methoden auszuprobieren und mit dem nächsten großen Durchbruch in die Geschichte einzugehen. Es ist vorstellbar, dass das Wohl der Patient_innen zu dieser Zeit nicht immer im Vordergrund stand. Diese Lektion muss auch Jori lernen. Seine Begegnung mit Runa verändert ihn und lässt ihn begreifen, dass einige seiner Kollegen bereit sind, für ein bisschen Ruhm über Leichen zu gehen. Hätte sich Vera Buck auf diesen Erzählstrang beschränkt und nicht versucht, ihrer Geschichte eine Aura von Mystik zu verleihen, hätte das Buch sicherlich eine bessere Bewertung von mir erhalten. Aber nein, sie musste ja unbedingt eine Mordermittlung ins Spiel bringen. Meiner Ansicht nach war dies eine unglückliche Entscheidung, weil sie dadurch unnötigerweise gezwungen war, weitere Erzählperspektiven zu involvieren, die das Handlungskonstrukt zerfasert und holprig wirken ließen. Jegliche Handlungsstränge abseits von Jori erschienen mir überflüssig und wertlos für die Geschichte, sodass ich mich beim Lesen dieser Abschnitte immer wieder fragte, warum Buck mir all das erzählte. Ich zweifelte an ihrer Autorität als Autorin und hatte Schwierigkeiten, ihren hin und wieder sprunghaften Gedankengängen zu folgen, sowie die Übersicht über die Chronologie zu behalten. Wie oft habe ich schon von Bescheidenheit gepredigt und betont, wie wichtig es ist, sich nicht mehr aufzubürden, als man händeln kann - ich wünschte, Vera Buck hätte sich diesen Ratschlag zu Herzen genommen.
schießt meiner Meinung nach weit übers Ziel hinaus. Wenn es Vera Buck darum ging, einen realistischen Blick auf die Geschichte der Psychiatrie zu werfen, hätte sie es auch genau dabei belassen sollen. Ihre Versuche, eine geheimnisvolle Mordermittlung und verschiedene Erzählperspektiven zu integrieren, halte ich für gründlich misslungen; sie werfen einen Schatten auf die meisterhaft recherchierten Fakten des Buches, der hätte vermieden werden können. Sie wollte zu viel und riss daher alles, was sie erst gewissenhaft aufgebaut hatte, mit dem Hintern wieder ein. Vielleicht darf man von einem Debütroman keine Wunder erwarten, doch alle Großzügigkeit ändert leider nichts daran, was ich während der Lektüre empfand. Ich kann es nicht oft genug sagen: Schuster, bleib bei deinen Leisten.