Nach etwas über fünfzig Stunden Zugfahrt in vier Tagen haben wir Varanasi erreicht, die heilige Stadt am Ganges. Seit ich mir Indien vorstellen kann, seit ich Indien denken kann, wollte ich diese Stadt kennenlernen. Nun sind wir in Varanasi. – Und was ich sehe, was mir hier begegnet, ist so heftig, so intensiv, dass es einem Schock gleichkommt.
Indien ist nicht Indien. Indien sind viele Indien: Reiche und arme, hässliche und bezaubernde, einschmeichelnde und schockierende Indien sind Indien – und noch viele mehr … Und in Varanasi wird Indien noch auf die Spitze getrieben. Nirgendwo erlebe ich Gegensätze so nahe beieinander – und so krass wie in Varanasi. Eben noch roch es nach menschlichen Fäkalien; doch nun ist die Luft von Jasminduft erfüllt. An der Umfriedung eines Palastes, dessen Gelände ein ganzes Quartier umfasst, lehnt eine primitive Hütte, das Dach aus Fetzen von Plastikplanen zusammengebaut. Darin lebt eine ganze Familie. Oder auch das: Auf der Fahrradrikscha eines überschlanken Fahrers sitzen drei (!) wohlbeleibte bessere Herren, die sich angeregt unterhalten, während dem Fahrer fast der Schnauf ausgeht. Zugegeben: Es ist auch nicht die beste Idee, während des Strampelns ein Zigarette zu rauchen.
Wie eine Haluzination
Varanasi ist schmutzig, sehr schmutzig. Der Staub hängt über der Stadt wie eine Drohung, als würde ihn einzig der unerträgliche Lärm daran hindern, ganz und gar und auf einmal auf die Menschen niederzufallen und sie so endgültig zu begraben. Vielleicht wird es deshalb nie still in dieser Stadt. Der Verkehr brüllt wie ein wildes Tier in Not. Zu jeder Tag- und Nachtzeit ist zudem mit Feuerwerk und lauten, wirklich lauten Knallern zu rechnen. Oder es nähert sich – es ist zwei Uhr morgens, du hast schon drei Stunden geschlafen – ein Trupp trommelnder Männer, von weit her hörbar. Ihr vorwärts treibender Rhythmus wird immer lauter und umgarnt dich im Halbschlaf. Hinzu kommt ein unbestimmtes Summen wie von grossen Bienen. Auch das rhythmisch erzeugt. Zwischendurch aufgeregtes Rufen. Und auf einmal – der Trupp ist nun unter deinem Fenster – hast du das Gefühl, in eine andere Welt zu gleiten, in eine Parallelwelt zur sogenannten Wirklichkeit, grad so als hättest du LSD geschluckt und verlörest dich nun in Halluzinationen. Doch du bist nüchtern, liegst im Bett, bist inzwischen ganz wach und hoffst, der Rhythmus, der dich in Trance versetzt, höre nie wieder auf.
Du bist in Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges. Viele Hindus kommen nach Varanasi, um hier zu sterben. Ich habe einen Sterbenden gesehen. Er lag im Strassengraben, auf Abfall gebettet. Er lebte noch, doch die Fliegen hatten bereits von ihm Besitz ergriffen. Woran er starb, war nicht zu erkennen, dass er starb, hingegen schon. Und die Menschen nahmen kaum Notiz davon … Sind sie so verroht, fragte ich mich, so ausschliesslich mit dem eigenen Überleben beschäftigt, dass sie sich nicht einmal mehr um einen Sterbenden kümmern können? Oder bin ich voreingenommen, schaue mit allzu westlichen Augen auf ein Geschehen, das seinen natürlichen Lauf geht, das genau so seine Richtigkeit hat? Ich bin verwirrt, weiss nicht mehr, was vorne und hinten ist.
Wo die Toten verbrannt werden
Am «Burnig Ghat» werden die Toten verbrannt – Tag und Nacht. Auf Bahren und eingehüllt in rote und golden glänzende Tücher werden sie auf Kopfhöhe durch die Gassen der Altstadt getragen, nur von wenigen Männern begleitet, die fast rennen und einen rhythmischen Sprechgesang vollführen. Rund um das «Burning Ghat» sind die Holzhändler angesiedelt, das wichtigste Gewerbe hier. Kunstvoll schichten Sie das wertvolle Brennmaterial auf. Pro Toten braucht es mehr als eine halbe Tonne gutes Brennholz, je nach Körpergewicht und Grösse des Verstorbenen. Nach der Verbrennung wird die Asche mit Hilfe von dicken Schläuchen und viel Wasser in den Ganges gespült. Die Treppenstufen und der ganze Uferbereich des Ganges sind schwarz.
Varanasi ist voller hinduistischer Mönche und Saddhus ((Link)), voller abenteuerlicher Figuren, die hier ihr Auskommen oder ihre Erleuchtung suchen. In all dem schmutzigen Chaos entdeckst du plötzlich eine Gestalt in tiefer Versenkung, daneben und unter deren Schutz ein Kind, das sich auf dem Boden zum Schlafen eingerollt hat. Die Strassen sind voller Kühe, Bullen und Wasserbüffel – und voller Kuhfladen. Im Gegensatz zu den Hunden sind die Kühe wohlgenährt und wohlgelitten. Die Strassenhunde hingegen haben ein schweres Dasein. Manche sind bis auf die Haut abgemagert und voller Räude, so dass kaum mehr Fell vorhanden ist. Und die Hunde werden geschlagen und vertrieben. Sie sind unter den Strassentieren die Dalits, die Unberührbaren der untersten Kaste: ungeliebt und ohne Daseinsberechtigung …
Varanasi ist eine Pilgerstadt, das Mekka der Hindus. Wer hier gewesen ist, kann mit göttlichem Wohlwollen rechnen. Wer hier stirbt, hat karmisch aufgeholt und muss nicht mehr so oft zur Welt kommen. Scharenweise und ganz aufgeregt rennen die Pilger die langen und breiten Treppen zum Ganges hinunter und nehmen ein rituelles Bad. Danach geht es zum Tempel, von denen es in Varanasi nur so wimmelt. Die Pilger sind besonders gefährdet, in die Hände von Dieben und Betrügern zu geraten, die ihnen ihr weniges Geld stehlen oder abknüpfen. Nie wurde ich so oft vor Dieben und Halunken gewarnt wie in Varanasi. Ausgerechnet in dieser heiligen Stadt!
Und doch hüte ich mich davor, die heftige Stadt zu verurteilen. Sie ist, wie sie ist. Es gibt hier nicht mehr Halunken als in jeder anderen Stadt – und auch nicht mehr Heilige. Varanasi ist wohl nicht besser und nicht schlechter als jede andere Stadt. Varanasi ist vielleicht bloss ehrlicher.
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