Uwe Tellkamp – Der Turm

Land in seltsamer Krankheit, Jugend war alt, Jugend wollte nicht erwachsen werden, Bürger lebten in Nischen, zogen sich im Staatskörper zurück, der, regiert von Greisen, in todesnahem Schlaf lag. [...] Die seltsame Krankheit zeichnete die Gesichter; sie war ansteckend, kein Erwachsener, der sie nicht hatte, kein Kind, das unschuldig blieb. Verschluckte Wahrheiten, unausgesprochene Gedanken durchbitterten den Leib, wühlten ihn zu einem Bergwerk der Angst und des Hasses. Erstarrung und Aufweichung zugleich waren die Hauptsymptome der seltsamen Krankheit. In der Luft lag ein Schleier, durch den man atmete und sprach. Die Konturen wurden undeutlich, Dinge wurden nicht mehr beim Namen genannt. Die Maler malten ausweichend, die Zeitungen druckten Reihen schwarzer Buchstaben, aber nicht sie dienten der Verständigung, sondern der Raum dazwischen: weiße Schatten von Worten, die zu wittern und zu interpretieren waren. Auf den Bühnen sprach man in antiken Versmaßen. Beton… Watte… Wolken… Wasser… Beton… aber dann auf einmal… Seite 890

Uwe Tellkamp – Der TurmIch habe lang überlegt, ob ich und wenn, dann was aus diesem Buch zitieren kann und möchte. Ähnelt es doch einem Sammelsurium der Stile, der Stilmittel. Das nun Zitierte ist nicht der Stil des gesamten Buches; es ist einer der vielen, die dieses Buch bemerkenswert machen; auch wenn mich manchmal diese seitenlangen, kursiv gesetzten Passagen der inneren Einkehr ihrer Langatmigkeit wegen langweilten.

Doch erscheint mir diese Passage aus dem Schlussteil des Buches bezeichnend für die dem Buche innewohnende Melancholie; der Melodie des Abschiedes; dieses Abgesanges der Hoffnung, Utopie und des Sonnenlichts.

Tellkamp ist ein unglaublich guter und genauer Beobachter. Die graue Tristesse des Alltags in der DDR ist in jeder Zeile allgegenwärtig. Auch wenn die Sonne scheint und man aufatmet in vom Regen erfrischter Luft bleibt doch das Bild der vergammelnden, der verfallenen Städte. Wer Dresden gesehen hat vor ’89 kennt diesen depressiv stimmenden Anblick sterbender Orte, kennt die Menschen, die grau wie die Häuserwände zwischen eben denen leben.
Oft sind es bei Tellkamp nur winzige Halbsätze, die bei mir vieles an Erinnerungen wachrufen; Dinge, die ich bereits vergessen glaubte. Ich konnte beim Lesen sowohl die Abgase der Trabbis und Wartburgs riechen als auch den Geruch eines schwer erhältlichen Buches, die Freude über eine seltene Schallplatte nachleben.

Wenn ihm etwas vorzuwerfen wäre – aber das ist es vermutlich nicht, denn die Definition kam von der Literaturkritik – dann das, dass dieser bildungsbürgerliche Kosmos, in dem sich die Romanfiguren bewegen, eben nicht den Großteil der Bevölkerung ausmachten. Diese ist noch vielmehr kleinbürgerlich und wurde es sofort wieder, nachdem die D-Mark im Lande war. Kurz und heftig war die Bewegung… (aber das ist nicht Thema das Buches).

Vielleicht noch ein Kritikpunkt: zu wenig hat der Autor herausgearbeitet, weshalb sich die Eltern des (autobiographischen?) Hauptheldens letztlich dafür entscheiden, an der “friedlichen Revolution” mitzuwirken, Die inneren Konflikte bleiben meiner Meinung nach ungesagt, ungeklärt. Auch verabschiedet sich die Hauptfigur ziemlich stillschweigend aus der Geschichte; als hätte es in der NVA (der Nationalen Volksarmee) die Konflikte, die das Land erschütterten in den Jahren 88/89, nicht gegeben. Oder nicht in dem Maße.
Und dabei schreibt Tellkamp doch gerade auch in der Szene, in der sein Hauptheld in der Dunkelhaft des Armeestrafvollzuges sitzt, darüber, dass der “ganz innen” ist; in einem Land, dass seine Bürger zwischen Mauern sperrt, in einer Armee, die ihre Soldaten in Kasernen sperrt, im Armeeknast, der seine Gefangenen hinter Stacheldraht, Mauern und Wachtürme sperrt, in einer Dunkelzelle, die ihn von Allem abschließt.

Und so sehe ich, dass die NVA ein Staat im Staate war,in dem sich genau die “draußen” vonstatten gehenden Veränderungen der Gesellschaft potenziert widerspiegelten.

Doch genug gemeckert; ich denke, das Der Turm sicherlich nicht der Roman des Endes der DDR ist; dazu ist das Personal zu eng gefasst; zu klein in all seiner bildungsbürgerlichkeit. Zu wenig ausgearbeitet die andere Position; die derer, die noch immer “an das Gute glauben”.

Aber es zeichnet ein gutes, in den Szenen des täglichen Lebens hervorragend beobachtetes Bild eines absterbenden Landes. Und sich – zumal wenn man östlich der Elbe aufgewachsen ist – daran ab und an zu erinnern ist das Schlechteste nicht.


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