Wie so häufig hat Uwe Lehnert einen guten und langen Kommentar hier hinterlassen, den ich als eigenen Artikel einstelle, damit das nicht verlorengeht:
Uwe Lehnert
Seit 94 Jahren besteht der Verfassungsauftrag, die sog. Staatsleistungen an die Kirche abzulösen. Bisher wurde dieser Auftrag konsequent missachtet. Seit Freitag, den 28. Juni 2013 kann man sagen, dass dieser Artikel unseres Grundgesetzes vorsätzlich gebrochen wurde. Nicht nur, dass man für einen so gewichtigen Tagesordnungspunkt sich gerade mal 40 Sekunden Zeit ließ – eine Hektik, die den dafür verantwortlichen Volksvertretern bei ihrem schamlosen Verhalten regelrecht entgegenkam – nein, man würdigte diesen absolut verfassungskonformen Antrag nicht einmal mit irgendeinem Argument, das diesem Bruch wenigstens den Anschein irgendeiner Legalität gegeben hätte. Der Antrag wurde ohne Aussprache abgelehnt. Nur noch wenige Abgeordnete waren zu diesem Zeitpunkt im Parlament anwesend. Die anderen können sich dann später einmal damit herausreden, dass sie an diesem Verfassungsbruch nicht teilgenommen hätten.
Gewöhnt haben sich weite Teile unserer Gesellschaft, insbesondere unsere führenden Politiker, offenbar daran, dass es in Deutschland Menschen mit unterschiedlichen Grundrechten gibt. Zwar sind in unserer Verfassung Glaubensfreiheit, Streikrecht, Koalitionsfreiheit garantiert, andere Gesetze schützen vor Diskriminierung und Bruch der Privatsphäre. Diese Rechte gelten jedoch nicht für Menschen, die in kirchlichen Unternehmen arbeiten, Menschen, die sich aus existenzieller Not heraus oft genug bei der Kirche verdingen müssen, bilden doch kirchlich betriebene Institutionen wie Krankenhäuser oder Kindertagesstätten in vielen Teilen der Republik bereits monopolartige Strukturen. Man kann oft gar nicht mehr anders, als sich in einem konfessionellen Betrieb zu bewerben, das heißt, man ist – Glaubensfreiheit hin oder her, was soll’s – zum Kircheneintritt gezwungen.
Im sog. 3. Reich war es die NSDAP, in der DDR die SED, heute ist es die Überpartei Kirche, die alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche im Griff hat und nach ihren Regeln formt: die Spitzen der Parteien sind alle Mitglied in den Kirchen (bei ca. 35% Konfessionslosen!), die führenden Posten in Rundfunk- und Fernsehen sind ebenfalls praktisch alle durch »überzeugte« Christen, und auch die obersten Gerichte sind durchweg mit kirchennahen Vertretern besetzt. Alle diese Besetzungen vollziehen sich unbemerkt von der Öffentlichkeit und können direkt nicht als undemokratisch in ihrem Zustandekommen bezeichnet werden, bilden dennoch kein Abbild mehr der tatsächlichen Einstellung der Menschen, für die sie eigentlich gedacht sind. Sie vollziehen sich in Grauzonen, werden »ausgekungelt« und erfolgen in der Erwartung politisch-konfessionellen Wohlverhaltens. Es besteht ganz offenkundig eine gesellschaftsspaltende Diskrepanz zwischen den Einstellungen und Absichten der führenden Kräfte und den Ansichten und Bedürfnissen der Menschen dieser Republik. Wir Älteren sind einst angetreten in der Überzeugung, dass die Verfassung über alles geachtet würde und die Prinzipien Rechtsstaatlichkeit und demokratische Teilhabe nicht nur schöne Worte darstellen.
Wo bleibt das Gewissen jener, die uns ständig einredeten, dass nie wieder eine Macht sich anmaßen dürfte, ohne demokratische Legitimation über die Gesellschaft zu bestimmen? Wo sind jene Politiker, Anwälte und Richter, die aufgerufen wären, mit Wort und Tat die Verfassung vor Aushöhlung und Missachtung zu schützen? Die Widersprüche zwischen Verfassung und kirchlichem Arbeits(un)recht hätten längst das Bundesverfassungsgericht beschäftigen müssen. Aber die Abstimmung zwischen Kirche und Verfassungsgericht scheint so zu sein, an dem bestehenden Zustand so wenig wie möglich zu ändern. Die enge Zusammenarbeit zwischen Bundesverfassungsgericht und Kirche – schließlich treffen sich beide Institutionen seit Jahren regelmäßig im Arbeitskreis »Foyer Kirche und Recht« – lässt jedenfalls diese Vermutung aufkommen. Schließlich hat auch das Bundesverfassungsgericht seinerzeit der durch die Kirche selbstherrlich vorgenommenen Umwandlung des im Grundgesetz festgelegten Selbstverwaltungsrechts der Kirche in ein massiv kompetenzerweiterndes Selbstbestimmungsrecht nachträglich einfach zugestimmt.
Es ist offenbar so, dass bedrohliche Entwicklungen nie den Mechanismen folgen, die die Geschichte hervorgebracht hat und denen wir daraufhin unsere politische Aufmerksamkeit widmen. Es kommt offenbar immer ganz anders, als wir uns vorstellen können. Denn die Verächter von Demokratie und Verfassung sind uns im Denken und Handeln immer ein Stück voraus.