Ursel, Hanna und die Mauer, die keiner errichten wollte

LÜGE, HASS UND UNTERDRÜCKUNG. DAS SIND DIE STOFFE, AUS DENEN DER KOMMUNISMUS GEMACHT IST.
(Vincent Deeg)
Zögernd stand Hanna vor der hölzernen und mit brauner Farbe gestrichenen Gartenpforte, während ihre von Tränen feuchten Augen dem schmalen und von sowohl weißen, als auch roten Rosen gesäumten Weg folgten, der zu einem sehr kleinen, weiß gestrichenen und mit roten Dachziegeln gedeckten Haus führte.
Nun endlich war er gekommen. Der Augenblick, von dem Hanna so oft geträumt, auf den sie dreißig quälende und unendlich erscheinende Jahre gewartet hatte. Nun endlich stand sie vor der Tür, hinter der, so hatte Hanna am Ende einer über Jahre andauernden Suche erfahren, ihre Mutter lebte. Die Frau, die sie vor so langer Zeit verlor.
*
Es war kein besonderer Tag, dieser 12.August 1961. Nicht für die damals zwölf jährige Hanna und auch nicht für ihr Mutter, die achtundzwanzig jährige Ursel, die sich, wie an jeden Samstagnachmittag auf ihre Arbeit vorbereitetet, die sie, um halbwegs überleben zu können, um sich einmal ein kleines Stück Fleisch in der Suppe oder ein paar neue Schuhe für Hanna leisten zu können, neben ihrer nur kläglich bezahlten Arbeit als Näherin einer Ostberliner Textilfabrik angenommen hatte.
Eine Stelle, die jedoch, wie bei vielen anderen Ostberlinern auch, nicht im Ost- sondern im Westsektor Berlins lag und für die Ursel seit einem Jahr mir ihrem Fahrrad quer durch die Stadt fuhr, um in der Nacht vom Samstag zum Sonntag kiloweise Margarine zu verpacken.
Nein. Es war nicht gut, dass Ursel ihre kleine Hanna eine ganze Nacht lang allein lassen musste. Doch was sollte sie tun? Gab es doch niemanden, der sie in irgendeiner Weise unterstützte. Weder eine Familie, von der nach dem Ende des zweiten Weltkrieges nichts übrig geblieben war, der Grund, warum Ursel in einem Heim groß werden musste und auch kein Staat, der sich, statt für sein Volk zu sorgen, nur um seine eigenen Interessen scherte und immer noch mehr und höhere Forderungen stellte.
Sicher. Ursel hätte damals einfach ihre Tochter schnappen und in den Westteil Berlins ziehen können. Doch obwohl sie immer wieder darüber nachdachte, besonders dann, wenn sie die Menschen auf den Straßen beobachtet, deren Gesichter so viel mehr Unbekümmertheit und Lebensfreude ausstrahlten, als sie es von den Gesichtern ihres Sektors kannte oder wenn sie an den Schaufenster der Lebensmittelläden vorbei ging, deren mehr als reichlich gefüllte Auslagen sie immer wieder fast zum Weinen brachten, obwohl sie sich immer wieder sagte, dass sie sich für ihre Hanna eine bessere Zukunft wünschte, als die, die das Mädchen im Osten erwartete, hatte sie doch Angst vor diesem Schritt, den sie mit den Worten „Eines Tages ist es soweit.“ immer wieder verschob.
*
Hätte Ursel damals geahnt, welch grausames Schicksal sie, ihre Tochter Hanna und viele tausend andere schon bald ereilen würde. Das Schicksal, das sich unaufhaltsam näherte und das nicht nur all ihre Träume zerstören, sondern sie auch und das ist die größte Tragik in dieser Geschichte für ganze drei Jahrzehnte von ihrem Kind trennen würde. Hätte Ursel von alledem geahnt, sie wäre an diesem Nachmittag nicht wie jeden Samstag zur Arbeit in die Margarine Fabrik gefahren. Sie hätte stattdessen alles stehen und liegen gelassen und wäre mit Hanna und das, so schnell es geht nach Westberlin geflohen.
Doch dem war nicht so. Wie all die anderen Ost und Westberliner ahnte auch Ursel nichts von dem, das man in der SED Führung und im Moskauer Kreml bereits seit langem plante. Nichts von den tausenden Tonnen Beton, nichts von den tausenden Tonnen Ziegelsteinen, nichts von dem mehrere tausend Kilometer langen Stacheldraht und auch nichts von den hunderten Soldaten und Volkspolizisten, die in ihren Kasernen hockten und nur noch auf den Befehl warteten, die Stadt Berlin, ja Deutschland in zwei Teile zu zerreißen.
Nein. Von alledem ahnte Ursel nichts. Und so kam es, dass sie sich, wie schon so oft auch an diesem Abend, dem 12.August 1961 von ihrer Tochter mit einer langen Umarmung, mit den Worten, „Ich hab Dich lieb, mein Schatz.“ und mit der Ermahnung, keine Dummheiten anzustellen und niemandem die Tür zu öffnen verabschiedete und natürlich erst, nachdem Hanna die Tür hinter ihr verschlossen hatte, mit ihrem alten Fahrrad zu ihrer Arbeit nach Westberlin fuhr.
Es sollte das letzte Mal sein, dass Ursel ihre Hanna in die Arme schließen konnte. Denn in der Nacht vom 12. zum 13.August 1961, also in einer Nacht und Nebel Aktion riegelte die DDR Führung mit Hilfe einer aus Beton und Stacheldraht errichteten und von tausenden und schussbereiten Soldaten und Volkspolizisten bewachten Grenze den Ostteil Berlins hermetisch ab, so dass es nur noch unter höchster Lebensgefahr möglich war, von einen in den anderen Teil der Stadt zu gelangen.
Eine Gefahr, der sich Ursel, als sie, auf dem Weg zu ihrer Tochter am nächsten Morgen vor dieser von Stacheldraht und Waffen strotzenden und unüberwindlich scheinenden Grenze stand, als sie geschockt in die hasserfüllte Gesichter der Bewacher und in die verzweifelten Gesichter der gerade ein oder ausgesperrten Menschen blickte, auf keinen Fall aussetzen konnte.
Nein. Das durfte sie nicht. Wer sollte sich denn, wenn sie nicht mehr war um ihre Hanna kümmern? Das gerade mal zwölf jährige Mädchen, das nun völlig allein in der Wohnung war und weder von dieser Welt, noch davon ahnte, dass ihre Mutter nicht zu ihr kommen konnte.
*
Der 13.August 1961. Der Tag, an dem sich der eiserne Vorhang zwischen Ost und West für ganze 28 Jahre schloss. Der Beginn einer Zeit, in der man den Menschen der DDR, die man hinter einer, sich ständig weiter entwickelnden und dadurch immer undurchdringlicher werdenden Grenze sperrt, einen großen Teil der Menschenrechte nahm. Der Beginn einer dunklen Aera, in der tausende Familien zerrissen, in der Kinder ihre Eltern, Brüder ihre Schwester, Frauen ihre Männer und viele hundert Mutige ihr Leben verloren.
Der Beginn einer Zeit, in der Ursel alles menschenmögliche versuchte, um zu ihrer Tochter zu kommen. In der sie das Rote Kreuz, ja sogar die Westberliner Presse um Hilfe bat, ihr und ihrer kleinen Tochter, die nun ganz allein war zu helfen. In der sie täglich zur Grenze lief, dort, wo Ursel jedes Mal über Stunden versuchte, die erbarmungslosen Soldaten und Polizisten dazu zu bringen, sie zurück zu ihrer Tochter zu lassen. Versuche, die beinahe immer darin endete, dass man sie mit den Worten „verfluchte GI Hure“ und „kapitalistische Verrätersau“ beschimpfte, bevor man sie mit vorgehaltener und durchgeladener MP davon jagte.
*
Die Jahr vergingen. Doch Ursel kämpfte weiter um ihre Tochter. Ein Kampf, in dem sie unter anderem, auch wenn sie nie eine Antwort auf all ihre Briefe bekam beinahe täglich an den Staatsrat der DDR schrieb. Und in dem sie, trotz des ständigen Kopfschüttelns und trotz der ihr entgegen gebrachten Verachtung immer wieder zur Ständigen Vertretung der DDR nach Bonn fuhr, um dort um die Herausgabe ihrer Tochter zu bitten.
Und Hanna? Was wurde aus ihr?
Drei Tage hatte es gedauert, bis man das leise Weinen der kleinen Hanna bemerkte, die sich völlig verängstigt und sich um den Verbleib ihrer Mutter große Sorgen machend, in der noch immer verschlossenen Wohnung versteckte. Das kleines Mädchen, für das nun ebenfalls eine neue Zeit begann.
Eine Zeit, in der man Hanna ins Heim steckte. Dort, wo man ihr immer wieder erzählt, das ihre Mutter eine Verräterin wäre, die nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch ihre kleine Tochter für einen amerikanischen GI und ein paar Westkaugummi verraten hatte. Dankbar solle sie sein, auf der sicheren Seite der Sieger leben zu dürfen. Statt auf der Seite der kapitalistischen und zum Scheitern verurteilten Ausbeuter und Kriegstreiber.
Eine permanente Gehirnwäsche, die ihre Wirkung jedoch in jeder Hinsicht verfehlte. Denn Hanna, die diesen Lügen keinen Glauben schenkte, zeigte sich weder dankbar dafür, in der DDR leben zu dürfen, noch dafür, dass ihr diese die Mutter genommen hatte. Ein Verhalten, das schlussendlich dazu führte, dass sie im Laufe ihrer Kindheit gleich mehrere Kinderheime und im Lauf ihrer Jugendzeit, in der sie die Fragen nach ihrer Mutter noch immer nicht aufgeben wollte, in der sie immer kritischer wurde und damit begann, die DDR in Frage zu stellen, nicht nur den einen oder anderen Jugendwerkhof* sondern auch das Gefängnis kennen lernte.
*
Zeit heil alle Wunden, sagt man. Sie trennt Menschen von einander und führt sie wieder zusammen. Die Wunden von Ursel und Hanna werden zum Heilen noch etwas brauchen. Ihre Trennung jedoch fand 1991 ein Ende.
**
Hanna zog damals nach einem herzlichen und tränenvollen Wiedersehen zu ihrer Mutter in das kleine Haus am Rande Berlins. Dort, wo sie noch heute leben und wo sie versuchen, diese schreckliche Zeit zu vergessen und wo sie jede freie Minute nutzen, die sie gemeinsam verbringen können.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von Hanna erzählt. 
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.
*Jugendwerkhöfe: waren in der DDR spezielle Heime für Kinder und Jugendliche von 14 bis 18 Jahren, die als verhaltensgestört und schwererziehbar angesehen wurden. Die Kinder und Jugendlichen sollten dort nach den Geboten der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit umerzogen werden. Untergebracht wurden insbesondere Jugendliche, die aus Sicht verschiedener staatliche Organe nicht in das Gesellschaftsbild der DDR passten.
(Quelle: Wikipedia)

Hier ein paar Bilder, die keine Erklärung benötigen.
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