Ganz bis nach Hause kommen die Geschichten dann allerdings doch nicht. Ich muss mich schon ein bisschen bewegen. Allerdings , wenn ich mich bewege und über die herbstlich belaubten Alleen radel, durch die Innenstadt der Inselhauptstadt hinein in die Läden und wieder hinausstürme, mich am Ufer der Steilküste niederlasse und dem Tag nachschmecke, da passieren sie; die amüsanten und wirklich netten Anekdoten. So fein, erlesen und speziell wie Fehmarn selbst sind sie.
In wenigen Tagen fahre ich in den wohlverdienten Jahresurlaub. Eine Angewohnheit die ich schon als Nichtinsulaner hatte, ist der Umstand, das ich den hiesigen Sommer, und sei er noch so verregnet und frisch, in hiesigen Gefielden und an heimischen Stränden verbringe. Werden die Tage kürzer, die Nächte kühl und gar frostig, die Stürme trüber und manchmal auch schon einen Hauch eisig, dann lenke ich allzu gerne meine Wege Richtung Süden. In diesem Jahr habe ich mich für die hoffentlich erholsame Kombination aus Surfen, Wellness und Lifestyle entschieden. Für die windarmen Tage in der Hängematte muss ein Buch her. Den Tipp bekam ich dieses Mal von meiner Mutter, die dasselbe Buch morgens im Laden gekauft hatte. Die Lektüre wurde mir so schmackhaft gemacht, das ein Warten bis nach dem Urlaub und bis sie das Werk ausgelesen hat nicht denkbar ist. Also ab aufs Fahrrad und in den Buchladen meines Vertrauens. Während ich also in den verwinkelten Gängen die Regale entlangschleiche und das Buch, welches ich gerne hätte natürlich nicht auf Anhieb finde, schellt unaufhörlich die Glocke an der Ladentür. KlingKlong,KlingKlong. Diese Gemütlichkeit in den dunklen Gängen schmeckt hervorragend. Späte Herbsturlauber auf der Suche nach einem guten Krimi für den Kaminabend, fröhlich plappernde Hausfrauen, die bestellte Lektüre abholen und ein: „Tach- kennen Sie Frahms?“
„Welchen von den sechs hier auf der Insel meinen Sie denn?“ antwortet die Frau an der Kasse hundert Prozent gelassen mit einer Gegenfrage. Erstaunt schaue ich aus dem Krimi, dessen Rezension ich gerade angefangen habe zu studieren, auf und lausche in den weiteren Dialog.
Ein adretter Opi mit Schiebermütze und Nickelbrille auf der Nase hat sich vor der Kasse aufgebaut. Die Mütze, hier auf der Insel zählen noch Manieren, knetet er in der Hand. Auf den Füssen nach vorne und nach hinten wippend schaut er konzentriert in das Gesicht der Buchändlerin.
„Na- den vom Meerblick Camping.“
„Ach den Hinnerk. Klar kenn ich Hinnerk Frahm.“
„Ja das ist ja gut.“ Der Opi weicht keinen Millimeter von seiner Position ab. Ich habe den hinteren Gang mit den Kriminalromanen verlassen und streife geschäftig tuend und nach dem Fortgang der Geschichte lechzend durch den vorderen Raum. Das von meiner Mutter empfohlene Buch habe ich noch immer nicht entdeckt. Da es die kommunistische Vergangenheit einer Grossfamilie im ehemaligen Ostteil des Landes behandelt denke ich mir, das die Insulaner dieses Meisterwerk deutscher Literatur möglicherweise nicht zwingend zur Pflichlektüre in diesem Herbst gewählt haben. Warum sonst fehlte das Buch des Jahres im inseleigenen Buchhandel? Statt geistiger Meisterwerke tummeln sich norddeutsche Kriminalgeschichten und lokale Liebesromane jeglicher Coleur in den Aufstellern. Mir steht nach dem Studium von ungefähr der Hälfte dieser Krimis der Sinn nach mehr geistigem Input.
„Ja was liest er denn der Hinnerk?“ – fragt der Opi aufgeregt. Noch immer knetet er die Schirmmütze. „Er hat doch Geburtstag und seine Frau hat gemeint wir sollen ihm ein Buch für den Urlaub schenken.“ Sicherlich ist der Herr von seiner geliebten Ehefrau in den Buchladen geschickt worden, um das Präsent für Hinnerk zu erstehen und ganz gewiss hat sie ihren Ehemann mit den Worten losgeschickt: ‚Wenn Du nicht sicher bist, welches Buch Du kaufen sollst, dann frag im Buchladen nach. Und komm auf keinen Fall mit einem Gutschein wieder. Der Hinnerk fliegt nämlich einen Tag nach der Feier schon nach Thailand. Da findet er keine Zeit mehr lange im Buchladen nach einem Urlaubsroman zu suchen.’
„Was liest der Hinnerk?“ Flehentlich fast schaut er die Kassiererin an.
„Tja, das weiß ich nicht. Ich bediene den Herrn Frahm immer nur in Schreibwaren. Bücher macht meine Kollegin bei ihm. Aber wir fragen sie einfach.“
Ich traue meinen Ohren kaum. Hier brauche ich also nur in den Buchladen gehen, fragen ‚Kennen sie den und den?’ Und schon wird mir geholfen? Geht Paul auch in die Parfümerie und fragt nach meinem Lieblingsduft, wenn er mich beschenken will? Kaum- hoffe ich. Dafür wohne ich noch nicht lange genug hier. Aber die Bäckersfrau könnte unseren Wochenendbesuchern genauestens Auskunft über die Vorlieben beim Frühstücksbrötchen in der Villa Schmidt geben. Am liebsten die großen und ein Mehrkorn muss dabei sein- höre ich im Geiste die nette Bäckersgehilfin unseren Freunden auf die Frage antworten, was denn der Paul gerne zum Frühstück isst. Der Paul vom Leuchtturm.
Inzwischen hallt eine glockenhelle Stimme von der Kasse in Richtung Ladeninneres.
„Ilsekind? Ilsekind? Weißt Du was der Hinnerk vom Mehrblick gerne liest?“
„Momeheeent,“ trällert es aus dem Hintergrund. Eine rundliche junge Frau mit passender Hornbrille kämpft sich von irgendwo ganz hinten im Laden nach vorne. Ich selbst habe zwar noch immer ein Buch in der Hand, starre allerdings anstatt in die Zeilen fasziniert auf die Szene an der Kasse.
„Ja bitte?“ Schnauft Ilsekind ein wenig aus der Puste.
„Der Kunde hier möchte gerne ein Buch für den Hinnerk Frahms vom Mehrblick Camping zu dessen Geburtstag kaufen.“
„Ja und bitte nichts Gebundenes.“ Wirft Opi mit der Schirmmütze in das Gespräch ein. „Etwas gebundenes das versaut er sich doch im Urlaub nur- ein Taschenbuch reicht vollkommen aus.“ Müssig zu denken das da für den Hinnerk vom Mehrblick Camping gespart werden soll. Praktisch sind sie die Inselbewohner. Zu gut wissen sie einzuschätzen das ein Gebundenes Buch viel zu wertvoll für den vielen Sand an einem Strand ist- egal ob in Meeschendorf oder Kao Lak.
Ilsekind stapft eifrig davon und kommt mit einem Stapel Taschenbücher zurück.
Im selben Moment als ich neugierig lauschen will, was der Opi nun für Hinnerk vom Mehrblick kauft, klopft mir jemand auf die Schulter.
„Entschuldigen Sie. Entschuldigung. Tut mir leid das ich mich jetzt erst um sie kümmere, aber sie sehen ja was hier los ist heute. Alle wollen Bücher kaufen. Das trübe Wetter, die anstehenden Ferien der Insulaner nach der Hauptsaison und Weihnachten ist ja auch bald. Also! Was kann ich für sie tun?“ Die Kassiererin steht vor mir und blickt mir erwartungsvoll direkt ins Gesicht.
Ich muss lächeln. „Ja also, ich fahre in Urlaub und wollte ein schönes spannendes Buch kaufen. Meine Mutter hat mir da was empfohlen.“ Ich reiche den Zettel, auf den ich heute morgen eilig den Namen des Autors und den Buchtitel gekritzelt habe ,weiter.
„Ach das Erfolgsbuch der letzten Messe. Ein wunderbarer Roman über die Familie und die Geschichte der DDR. Ein Roman der mit vielen Klischees aufräumt.“ Munter plappert die Frau auf mich ein, während sie meine Wege in den Eingangsbereich zurück lenkt, wo Opi gerade das Geschenk von Hinnerk vom Mehrblick Camping bezahlt, sich die Schiebermütze aufsetzt, zurechtrückt und erhobenen Hauptes den Laden verlässt.
„Hier bitte schön haben wir das gewünschte Buch.“
„Gibt es das nicht als Taschenbuch? Ich fahre in Urlaub und so ein gebundenes Buch am Strand mit dem vielen Sand nimmt doch leicht Schaden.“
„Nein. Es ist ja gerade erst erschienen. Die Taschenbuchausgabe kommt erst in einem oder zwei Jahren. An Taschenbüchern haben wir dort einiges an munterer Lektüre für die Ferien.“ Sie weist in einer ausschweifenden Geste auf das Regal, welches die Ostssegrab- und Deichmordbücher beherbergt. „Ach nein- ich weiß nicht genau.“ Kurz überfliege ich die Kritiken auf dem Einband und entscheide aus dem Bauch. „Ich nehme die Empfehlung meiner Mutter. Vielen Dank.“
Minuten später trete ich auf die sonnenüberflutete Strasse hinaus, noch immer schmunzelnd über den Opi und diese weitere Episode, die so typisch für diese wunderbare Insel ist.
Kam ich vor 10 Monaten hierher, um irgendwie auf der plattgedrückten Insel hier im Norden mit der Brücke dran zu überleben und zurechtzukommen, so stelle ich heute fest, das genau diese Opiepisoden es sind, die mir Fehmarn immer mehr ans Herz wachsen lassen. Sprach ich noch vor wenigen Tagen davon einem Inselkoller zu erliegen, so weiß ich, das ich mich auf den stürmischen Herbst und den frostigen Winter freue. Dann, wenn der gemeine Insulaner sich anschickt wieder am sozialen Gefüge zu basteln und aus den Pensionen, Hotels und von den Campingplätzen hinaus in das pralle Leben eintaucht.