Ach, es gibt so viele schöne Dinge auf der Welt! Und wenn man ein bisschen stöbert, fragt man sich manchmal, warum es überhaupt noch graue Hauswände gibt. Gerade bin ich eher zufällig über die Pace-bunten Papierkunstwerke der französischen Streetart-Künstlerin Mademoiselle Maurice gestolpert. In der Art des klassischen japanischen Origami faltet sie kleine einzelne Objekte aus Papier und bringt diese als Gesamtkunstwerk an Brandmauern, auf Treppen oder in Unterführungen an. Begonnen hat sie in Paris, mittlerweile verbreitet sie ihre äußerst vergängliche Kunst auf der ganzen Welt.
Copyright: Mademoiselle Maurice
Mich beeindruckt immer besonders Kunst, der es gelingt, gerade im Angesicht der Tragödie Schönheit zu erschaffen. Auch der Ursprung von Mademoiselle Maurices Werk hat so einen Hintergrund. Die heute gerade einmal 29-Jährige, die mit bürgerlichem Namen Marie Saudin heißt, lebte nach ihrem Architekturstudium für ein Jahr in Japan und wurde dort besonders von der dort entstandenen Origamikunst inspiriert. Zugleich aber beeinflussten sie auch ihre Erlebnisse vor Ort. Denn dieses Jahr in Japan war ein anderes. Es war das Jahr 2011. Am 11. März erschütterte das stärkste Erdbeben der aufgezeichneten Geschichte die Region und ein zehn Meter hoher Tsunami rollte gegen die japanische Küste. In dessen Folge ereignete sich im Kernkraftwerk Fukushima eine Nuklearkatastrophe, die die Welt erschüttert hat. Mehr als 18.000 Menschen starben, die weiteren Folgen sind bis heute nicht absehbar.
Unter dem Eindruck dieser Erlebnisse beschloss Saudin, ihre Kunst auf ihnen aufzubauen. Vielleicht geht das in einem solchen Augenblick gar nicht mehr anders. Die Künstlerin beeindruckte unter anderem auch die Geschichte von Sadako Sasaki, einem Mädchen, das infolge der Atombombenabwürfe auf Hiroshima an Leukämie erkrankte und schließlich starb. Sadako half die japanische Legende der tausend Kraniche dabei, mit ihrem Schicksal umzugehen. Darin heißt es, dass jeder, der tausend solcher Origamikraniche falte, einen Wunsch erfüllt bekomme. Sadako faltete bis zu ihrem Tod und die filigranen Papierkraniche wurden durch ihre Geschichte zum Symbol der Friedensbewegung.
Auch Mademoiselle Maurice begann zu falten, und sie tut das bis heute. Ob ihr schon viele Wünsche erfüllt worden sind? Ihre Kunst macht auf jeden Fall die Welt bunter und lässt die Menschen vielleicht sensibler werden, aufmerksamer. Dabei macht sie nicht nur Papierkunst, auch wenn diese mittlerweile wahrscheinlich am bekanntesten ist. So arbeitet sie auch mit Spitze und Stickerei, fotografiert und malt. Sie liebt es nach eigener Aussage, mit natürlichen Materialien zu arbeiten und sie zu formen. Ins Zentrum stellt sie aber auch immer die Menschen, die sie miteinander verbinden möchte. Die Menschen, auch das sieht Marie Saudin, sind nicht unabhängig von ihrer Umwelt wahrzunehmen, die sie tagtäglich umgibt. Gerades deshalb hat sie sich entschlossen, ihre Kunst auf die Straße zu bringen und die Passanten in ihre Performances mit einzubinden.
Copyright: Mademoiselle Maurice
Es ist auf jeden Fall schier unglaublich, wenn man sich bei näherer Betrachtung vor Augen führt, aus wie vielen einzelnen kleinen Elementen so ein „Gesamtkunstwerk“ zusammengesetzt ist – jedes davon in Handarbeit gefaltet. Die Farben ihrer Streetart leuchten bunt, fröhlich und lebendig, aber sie sind eben auch nicht von ungefähr die Farben des Regenbogens, der Friedensbewegung. Oft bleibt in der Mitte ein graues Loch, eine Leerstelle, die wiederum etwas formt: einen Stern oder ein Dreieck, umgeben von davonfliegenden oder davonfließenden Strukturen.
Es ist bestimmt zwanzig Jahre her, dass ich mal einen Kranich gefaltet habe. Aber vielleicht fange ich einfach mal wieder damit an – und vielleicht sollte ich einfach mal wieder nach Paris fahren.