"Unworte bereiten Untaten den Boden."

Meine Damen und Herren,
    30 Prozent aller Kinder an deutschen Schulen stammen aus zugewanderten oder kürzlich eingebürgerten Familien. An manchen Schulen sind es sogar 60 Prozent und mehr.
    [Im Jahre] ABCD1 und ABCD2 haben mehr Menschen aus anderen Ländern Deutschland verlassen, als Menschen neu zu uns gekommen sind.
    Von ABCD3 bis ABCD4 haben 50 % aller Asylbewerber innerhalb der Europäischen Union in Deutschland um Asyl nachgesucht. [Im Jahre] ABCD5 war es ein gutes Viertel.
    Von allen, die bei uns Asyl suchen, werden vom zuständigen Bundesamt etwa 4 % anerkannt.
    Allein Türken haben in Deutschland etwa 50.000 Betriebe gegründet und 200.000 Arbeitsplätze geschaffen.
    Der deutschen Wirtschaft werden in Zukunft qualifizierte Arbeitskräfte fehlen.

Das sind sechs ganz unterschiedliche Feststellungen über die Wirklichkeit in Deutschland - und doch stehen sie in einem großen Zusammenhang.
Zuwanderung, Einwanderung, Flüchtlingskontingente, Zuzugsbegrenzung, Integration, Green-Card, Asyl, Abschiebung, Rückführung - diese Stichworte bestimmen seit vielen Jahren immer wieder, in Schüben, die politische Diskussion. (...)
Mehr als sieben Millionen Ausländer leben in Deutschland. Sie haben unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert. Doch wir denken zu wenig darüber nach, was das für das Zusammenleben in unserem Land insgesamt bedeutet. Und wir handeln zu wenig danach. (...)
Erfolgreich können wir nur dann handeln, wenn wir zwei Haltungen überwinden, die zu weit verbreitet sind:
Wir müssen Unsicherheit und Angst überwinden, die manchmal zu Fremdenfeindschaft, zu Hass und Gewalt führen.
Wir müssen eine falsch verstandene Ausländerfreundlichkeit überwinden, die so tut, als gebe es überhaupt keine Probleme und Konflikte, wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenleben. (...)
Zunächst ist eine schlichte Tatsache anzuerkennen: Dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur in unserem Land zusammenleben, wird sich nicht mehr ändern. (...)
Sie sind geblieben - und die meisten auch zu unser aller Vorteil:
Ohne Arbeiter und Angestellte aus anderen Ländern kämen viele Wirtschaftszweige in große Schwierigkeiten. Männer und Frauen mit einem anderen Pass haben inzwischen zehntausende von kleinen und größeren Betrieben gegründet. Sie bieten Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze.
Die ganz überwiegende Mehrheit der ausländischen Bevölkerung kommt ihren Pflichten nach und trägt dazu bei, dass wir Wohlstand erwirtschaften und soziale Sicherheit finanzieren können. Sie zahlen Einkommenssteuer und Mehrwertsteuer, wie wir alle.
Sie zahlen Beiträge zur Rentenversicherung und sie finanzieren die Bundesanstalt für Arbeit genauso mit wie die gesetzliche Krankenversicherung. (...)
Am Beginn aller Diskussionen muss klar sein: "Die" Ausländer gibt es nicht. Es geht immer um einzelne Menschen: Um Menschen mit ihren individuellen Wurzeln, ob als Arbeitssuchende aus Anatolien, ob als Spätaussiedler aus einem kleinen Dorf im Herzen von Kasachstan, ob auf der Flucht vor Verfolgung und Folter im Sudan, ob als Vertriebene aus den zerstörten Städten und Dörfern des Kosovo. (...)
Wie viele von uns, nicht nur hier in Berlin oder im Ruhrgebiet, sind Nachkommen von Zuwanderern! Von Vätern und Müttern, die in der Fremde ein besseres Leben gesucht haben! Welche Aufnahme, welches Willkommen hätten wir unseren Großvätern und Urgroßvätern gewünscht?
Und wie wurden unsere Landsleute aufgenommen, die in die Fremde gegangen sind?
(...)
Auch Deutsche waren einmal Wirtschaftsflüchtlinge.
Auch Deutsche sind vor politischer Verfolgung geflohen.
Auch Deutsche haben zum Aufbau anderer Länder beigetragen.
Als Folge des Zweiten Weltkriegs haben wir in Deutschland Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen. Auch diese letztlich erfolgreiche Integration war am Anfang alles andere als leicht, obwohl Deutsche nach Deutschland kamen.
Viele werden nicht vergessen, auf wie viel Ablehnung sie nicht nur in Dörfern und Kleinstädten gestoßen sind - obwohl sie schwerstes Leid getragen hatten, obwohl sie dieselbe deutsche Sprache sprachen, obwohl sie zur gleichen Kultur gehörten, oft sogar zur selben Konfession wie ihre neuen Mitbürger.
Integration braucht langen Atem und Geduld. Sie braucht die Offenheit der angestammten Bevölkerung. Noch mehr braucht sie aber - und das gilt heute besonders - die Bereitschaft und die Anstrengung der neu Dazukommenden - die Bereitschaft, nicht nur dazu zu kommen, sondern auch dazu gehören zu wollen. (...)
Zuwanderung ist stets beides: Belastung und Bereicherung. Man kann über das eine nicht sprechen, ohne auch das andere zu sehen und zu nennen.
Viele Vorteile, die uns die Zuwanderung und der Kontakt mit anderen Kulturen gebracht haben, nehmen wir gar nicht mehr wahr, weil sie für uns inzwischen selbstverständlich sind.
Ohne die damals so genannten Gastarbeiter hätte die Bundesrepublik nicht den wirtschaftlichen Aufschwung gehabt, den sie tatsächlich erlebt hat. Wir haben dringend benötigte Arbeitskräfte gerufen und sie sind gekommen. Sie haben wesentlich zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beigetragen. (...)
Es hilft nichts, vor Problemen die Augen zu verschließen oder allein schon ihre Beschreibung als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen. (...)
Wo Sorgen und Ängste berechtigt sind, muss versucht werden, Abhilfe zu schaffen. Wir müssen erklären und erklären können, warum es nicht anders geht, jedenfalls nicht besser. (...)
Im Leben ist es oft wie in der Schule: Das falsch Verstandene behält man leider am Besten.
Fehler setzen sich am hartnäckigsten fest.
Damit Vorurteile sich nicht festsetzen und weiter verbreiten, muss man ihnen immer wieder widersprechen.
Ich sehe hier eine besondere Aufgabe und eine besondereVerantwortung der Medien.
Aufklärung und Information tun Not.
Ein Beispiel: Menschen ärgern sich über Asylbewerber, die in den Innenstädten sitzen und den Eindruck vermitteln, sie ließen sich für Nichtstun vom Steuerzahler aushalten. Viel zu wenige Menschen wissen, dass es Asylbewerbern in den ersten drei Monaten gesetzlich verboten ist zu arbeiten, und dass sie danach von den Arbeitsämtern als Arbeitssuchende abgelehnt werden. Wer das weiß, mag am Sinn dieser Vorschrift zweifeln. Aber er wird den Asylbewerbern nicht mehr mangelnden Arbeitswillen unterstellen. (...)
Es gibt in unserer Gesellschaft Ausländerfeindlichkeit, ja Fremdenhass. Es gibt Gewalt bis hin zu Mord.Gefährlicher noch als einzelne Gewaltakte ist ein gesellschaftliches Klima, das Ausländerfeindlichkeit mit klammheimlicher oder sogar mit offener Sympathie begleitet.
Es gibt eine aggressive Intoleranz gegenüber Ausländern. Sie wird gefördert, wenn eine Mehrheit schweigt. Wer schweigt, macht sich mitschuldig. (...)
Kein politisch Verantwortlicher darf der Versuchung nachgeben, aus fremdenfeindlichen Stimmungen Kapital zu schlagen. Der sorgfältige Umgang mit dem Wort gehört dabei an die erste Stelle. Ich erwarte von allen Selbstdisziplin und Fingerspitzengefühl.
Wer sich über die Untaten aus Fremdenfeindlichkeit empört, der darf die Unworte nicht überhören oder gar selber gebrauchen, die viel zu häufig die Runde machen.Unworte bereiten Untaten den Boden.
Wir dürfen freilich niemanden mit seinen Vorurteilen und Ressentiments alleine lassen. Wie oft sind Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass das Ergebnis von Unkenntnis und mangelnder Erfahrung! Nur so ist zu erklären, dass es Gegenden in Deutschland gibt, in denen nur ganz wenige Ausländer leben, Fremdenfeindlichkeit aber stark verbreitet ist. (...)
Alle müssen sich an die Regeln halten, die sich unsere Gesellschaft gegeben hat:
Zugewanderte und Einheimische.
Integration kommt nicht von allein. Man muss etwas dafür tun. Das ist oft anstrengend. Wir dürfen diese neue Anstrengung nicht missverstehen als einen mildtätigen Akt, mit dem wir Ausländern einen Gefallen tun. Wenn wir etwas für bessere Integration tun, dann tun wir das nicht nur aus Mitmenschlichkeit oder christlicher Nächstenliebe, sondern in unserem aufgeklärten Eigeninteresse. (...)
Den Gegensatz zwischen "Wir hier" und "Die da" verträgt eine demokratische Gesellschaft auf Dauer nicht.
Wenn wir von der Gefahr sprechen, dass unsere Gesellschaft auseinander fällt, dann dürfen wir nicht nur mit den Fingern auf andere zeigen. (...)
Zu den schädlichen Folgen von Ghetto- und Cliquenbildung, von misslungener Integration, von Aussichtslosigkeit auf dem Arbeitsmarkt, von sozialer Randständigkeit gehören Gewalttätigkeit und Kriminalität.
Mit Zahlen und Statistiken darüber wird oft Missbrauch getrieben. Sie müssen sorgfältig gelesen werden. Dann erweist sich manches Urteil als Vorurteil.
Es stimmt aber, dass vor allem jüngere, männliche Ausländer und Aussiedler überdurchschnittlich an Straftaten und Gewalttaten beteiligt sind. Sie müssen, wie alle anderen Straftäter auch, nach Recht und Gesetz - und möglichst schnell - bestraft werden.Die Statistik zeigt aber auch ganz deutlich: Wo Integration - durch Bildung, Ausbildung und Arbeit - gelungen ist, da sind Gewalt und Kriminalität bei jungen Ausländern nicht stärker verbreitet als bei jungen Deutschen. (...)
Es kommt nicht auf die Herkunft des einzelnen an, sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft gewinnen."
Berliner Rede von Bundespräsident Johannes Rau. 12.05.2000

Diese Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Rau fand ich zuerst auf dieser Seite:
Uni Münster: Projekt Fremdenfeindlichkeit
Die Daten und Analysen, die dort für den Unterricht aufbereitet wurden, sind meiner kurzen Sichtung nach nicht mehr aktuell.
Aber manchmal schärft es den Blick, wenn man mal einige Jahre zurückschaut, um zu sehen, ob sich etwas änderte. So sich auch mal die dortigen Analysen anschaut, denn zahlreiche Effekte und vor allem Erklärungen sind heute noch gültig.
Und im Zitieren der Rede habe ich auch extra die Zahlen verschlüsselt und am Ende des Textes erst aufgelöst, damit vielleicht der Eindruck entstehen kann, diese Rede wäre hochaktuell.
Ist es nicht erstaunlich, welcher Eindruck sich dadurch für die Leser ergibt? Und wie ähnlich einige Teile der Rede von Bundespräsident Wulff zu dieser 10 Jahre alten Rede sind?
Hat sich in den 10 Jahren etwas geändert? Wird ein "Tabu" gebrochen z.B. durch das Buch von Sarrazin? Wurde vorher nie über die Integration gesprochen, auch über Probleme der Integration? (Die Rede geht noch intensiver auf Integrationsprobleme ein, und auf die Forderungen gegenüber Migranten, als ich es zitierte, da diese Forderungen in den letzten Wochen schon zur Genüge thematisiert wurden.)

Wenn ich mir die mediale Landschaft seitdem und besonders seit dem 11. September 2001 anschaue, dann habe ich subjektiv den Eindruck, dass die Medien mehrheitlich nicht ihrer Verantwortung gerecht wurden, dass der Appell zur Information und Aufklärung von Alt-Präsident Rau nicht beherzigt wurde. Wenn ich hingegen (wissenschaftliche) Analysen, besonders seit ca. 5 Jahren anschaue, wie z.B. die Integration verläuft, dann stelle ich fest, dass es aufwärts geht, dass einige Problemfelder, die schon Rau ansprach erkannt wurden, z.B. das Erlernen der deutschen Sprache, und dort schon beachtliche Fortschritte gemacht wurden.
In den Medien hingegen gewinnt man eher den Eindruck, dass es seit 10 Jahren "abwärts" geht.
Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Nur damit, dass "Bad News" meistens finanziellen Gewinn für die Medienunternehmen generieren? Mag sein.

Die Erklärungen und Problembeschreibungen zum Thema Integration und Fremdenfeindlichkeit sind ja schon seit 10 Jahren und länger bekannt. Die Politik hat teilweise aber bis heute nicht energisch genug reagiert. Erkennbar gerade in jüngster Zeit, dass z.B. die Integrationskurse mit zu wenig finanziellen Mitteln ausgestattet wurden und sie den Ansturm an Integrationskursteilnehmern nicht mehr bewältigen können, so dass Interessenten bis zu drei Monate warten müssen und de facto heute ein Stopp an neuen Teilnehmern gefördert wird. Also das Gegenteil dessen ist, was die Politiker wohlfeil mit ihren Forderungen an sogenannte Integrationsverweigerer immer gerne in die TV-Kameras sagen. Wo sie auf der erneuten Welle, die Sarrazin losgetreten hat um die Wählergunst buhlen. Das ist Heuchelei oder absolute Unkenntnis.

Und ja, es ist eine erneute Welle von Sarrazin, im Prinzip gibt es jedes Jahr mehrmals dieselbe Debatte, mal ist es das Lettre-Interview von Sarrazin, mal ist es ein Buch von Necla Kelek, mal ist es ein Wahlkampfauftritt vom türkischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan in Köln, meistens jedoch stereotype Darstellungen von Ehrenmorden, Zwangsheirat und Drogendealern im muslimischen Milieu. Dadurch erhält der der Medienkonsument ein völlig falsches Bild der Integration im Allgemeinen und über die Muslime im Besonderen. Vorurteile werden geschürt, Ablehnung nimmt meiner Meinung nach zu, Rückzug der Migranten in ihre Heimatkultur, oder was sie dafür halten nimmt ebenfalls in einigen wenigen Stadtvierteln zu, bis hin zur "Deutschenfeindlichkeit" als Reaktion auf die Mehrheitsgesellschaft. Unworte bereiten Untaten den Boden. Gegenseitig.
Die Medien müssen sich endlich ihrer Verantwortung bewusst werden! Dieses merkte übrigens Alt-Präsident Rau seinerzeit auf seiner Rede beim Netzwerk Recherche mahnend an.
Das Gegenteil ist eher eingetreten!
Erfolge in der Integration auf der einen Seite, die Annahme bei weiten Bevölkerungsschichten, die vielleicht selber und persönlich nie oder seltenst Kontakt zu Migranten haben, dass die Integration nicht gelingt und Probleme eher größer werden auf der anderen Seite.
Diese Diskrepanz aufzulösen ist unter anderem eine Verantwortung der Medien, ohne dabei auf das Hinweisen von Problemen zu verzichten. Es genügt oft schon gründliche Recherche über die Ursachen von Integrationsphänomenen, die man bei Berichten kurz einfließen lässt, damit der Leser nicht den Eindruck gewinnt, es liege an der Religion, an der Kultur, also letztlich ein neorassistischer Ansatz sich beim Leser festsetzt, wie Umfragen belegen.

Rau hatte so recht mit seiner Rede, wie Wulff recht hat. Das manchmal kommunikative Versagen der Medien aufzuzeigen sehe ich als eine Aufgabe dieses Blogs.

Zum Abschluss ein noch weiterer Blick zurück, in die 80er Jahre, wie damals schon über Integration gesprochen wurde, und wie dort schon Assimilation durch die Mehrheitsgesellschaft gefordert wurde, und man dennoch nie Deutscher werden konnte, trotz aller Bemühungen.

Dieses Lied ist von Cem Karaca aus seinem 1984 erschienenem Album Die Kanaken. Sind wir heute viel weiter gekommen?


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