Baden-Württemberg, das Ländle der Dichter und Denker: alle, die bisher glaubten, das sei nur ein selbstverliebtes Statement der Schwaben, können jetzt mit Claudia List und Andreas Steidel auf lyrische und literarische Spurensuche gehen. Für ihr neues Buch “Unterwegs zu Dichtern und Denkern”, erkunden die Autoren Archive, Rad- und Wanderwege zwischen Bad Mergentheim und Meersburg nach Lebens- und Wirkungsstätten von bekannten – und ja, auch ein bisschen weniger bekannten – Geistesgrößen der Vergangenheit.
Dr. Thomas Schmidt, Leiter der neu eingerichteten Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten im Deutschen Literaturarchiv Marbach, stellt dazu im Vorwort zuallererst fest: “Baden-Württemberg birgt die reichste historische Literaturlandschaft Deutschlands und Europas.”
Das darf man sich wirklich mal auf der Zunge zergehen lassen!
“Mehr als 90 Museen und Dauerausstellungen erzählen hier die facettenreiche Geschichte der Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Dichterinnen und Dichter von Weltruf, aber auch solche mit heute eher regionaler Bekanntheit haben …mit ihren Texten und Ideen Spuren hinterlassen, die durch die Ausstellungen anschaulich und lesbar gemacht werden. Diese vielen literarischen Orte kartieren den deutschen Südwesten als Literaturland Baden-Württemberg.”
Die Gründe für eine derart auffallende Einzigartigkeit auf dem Gebiet der Literatur führt Schmidt auf zwei Gründe zurück: in kulturgeschichtlicher Vorzeit glichen die Baden-Württemberger ihren Mangel an wirtschaftlicher Stärke mit Kultur und Bildung aus, eine Entwicklung die zweitens durch die föderale Struktur der Bundesrepublik kräftig Auftrieb bekam. Da Kulturpolitik Sache des Landes ist, konnte Baden-Württemberg beisspiellos in die “eigene literarische Topographie” investieren.
Nicht zuletzt ist es der Verdienst zahlreicher engagierter Literaturliebhaber, Kulturschaffenden und Publizisten, dass der deutsche Südwesten mittlerweile auch international als außergewöhnlich wahrgenommen wird. Um so schöner, dass Besucher und Interessierte diese Einzigartigkeit auf den in Buch vorgestellten Zielen hautnah erleben können, zum Beispiel im Fürstenhäusle der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in Meersburg: das hinreißend idyllische Gartenhäusle mit grandiosem Blick über Stadt und See hatte die Dichterin “lächerlich wohlfeil gekauft”, doch hielt sie sich dort vermutlich weniger oft auf, als man denkt – sie wohnte die meiste Zeit in der jahrhundertealten Burg ihres Schwagers, in dem heute ihr Arbeitszimmer zu besichtigen ist.
Auch Abt Walahfrids Refugium auf der Insel Reichenau ist nicht nur wegen der herrlichen Umgebung einen Ausflug wert: seine poetische Pflanzendichtung gilt heute noch als Grundlage für klösterlichen Gartenbau. In 44 Hexametern schildert der Abt “akribisch und systematisch die medizinische Wirkung und alltägliche Verwendung der Kräuter”. Zu Walahfrids Zeiten war die Abtei auf der Reichenau gar die Eliteschule des Reiches, ein Zentrum der Wissenschaft und des Glaubens. “Der berühmte St. Galler Klosterplan ist ein Werk ihrer Architektenschule und von Walahfrid selbst verfasst” und soll mit 75 Handschriften das am weiteste verbreitete Dokument aaus seiner Feder sein. Natürlich darf im neu gestalteten Museum ein Kräutergarten nicht fehlen.
Zwar bekannter doch nicht weniger reizvoll: Straßen und Wege, auf denen Schiller und teilweise auch Goethe wirkten und wandelten. Schillers Geburtshaus steht gar nicht weit von hier in der Fachwerk-Altstadt von Marbach. Besonders schön: der Schiller-Radweg am Neckar entlang, der sowohl zum Geburtshaus des Dichters als auch zum Schiller-Nationalmuseum führt, in dem das Deutsche Literaturarchiv gegründet wurde und vor dem der berühmteste Sohn der Stadt lebensgroß auf einem Sockel thront.
Weil Hermann Hesse in Calw geboren wurde und Udo Lindenberg ein großer Fan des Dichters ist, findet der Musikerwettbewerb zum Panikpreis der Lindenberg-Stiftung einmal jährlich in der Nagoldstadt statt, wo zudem das Hermann-Hesse-Museum am Marktplatz eine umfassende Schau auf die Biographie des Schriftstellers zeigt. Auch Hesse selbst trug seine Heimatstadt ein ganzes bewegtes Leben lang tief im Herzen.
Besonders bemerkenswert fand ich das Kapitel über russische Schriftsteller in Baden-Baden, die dort zum Teil nicht nur in Herz sondern im Casino auch viel vom Hab und Gut verloren haben. Russlandexpertin Renate Effern führt zu Hotels und anderen denkwürdigen Orte und sie weiß genau, warum Dostojewski und Leo Tolstoi so gerne hier waren.
Auch Hölderlins Turm in Tübingen, der Philosophenweg in Heidelberg – den übrigens auch Mark Twain gern besuchte – oder Reuchlins Heimatstadt Pforzheim sowie viele andere literarische Stationen sind eine kleine Reise wert.
Hübsche Farbfotos runden die malerischen Impressionen ab. Und wer nicht alle vorgestellten Museen und Denkmäler selbst besuchen mag, kann mit dieser unterhaltsamen wie spannenden Neuerscheinung gemütlich auf dem Sofa die Spuren der Dichter und Denker erkunden. Ein bisschen wundere ich mich gerade, dass so ein wunderbares Buch nicht schon viel früher erschienen ist…
Claudia List, Andreas Steidel “Unterwegs zu Dichtern und Denkern”, 160 Seiten, gebunden, 29 Euro 95, belser verlag