Viele Städter sehnen sich nach einem Leben auf dem Land, fernab von Lärm und Hektik, umgeben von saftig grünen Wiesen und dem Zwitschern der Vögel. In Dörfern grüßt man sich noch, kennt nicht nur seinen unmittelbaren Nachbarn und hält zusammen. Man lebt in einer idyllischen Gemeinschaft, braucht jemand Hilfe, so wird ohne zu zögern geholfen. Hinzu kommt die Freiheit, die jedes Dorf ausstrahlt.
„Unterleuten las keine Zeitungen, sah kaum fern, benutzte das Internet nicht, interessierte sich nicht für das Berlin, rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt – aus einem schlichten Grund: weil es die Freiheit liebte.“ (S. 450)
Doch diese vermeintliche Idylle ist trügerisch und Vorteile entpuppen sich schnell als unliebsame Nachteile. Genau dieses Bild eines romantischen Lebens auf dem Land kehrt Juli Zeh gekonnt ins Gegenteil um: Im brandenburgischen Unterleuten ist nichts mehr in Ordnung, der Bau von Windrädern droht die Gemeinschaft zu spalten.
Doch die Windräder brachten nur etwas ins Rollen, was eigentlich in jeder Dorfgemeinschaft brodelt und irgendwann zum unvermeidlichen Ausbruch: Zwischenmenschliche Konflikte. In jeder denkbaren Konstellation. Jeder überwacht das Tun und Handeln eines anderen und im Grunde genommen kann keiner den anderen wirklich leiden. Da sind diese merkwürdigen Großstädter, die aufs Land gezogen sind und doch niemals dazu gehören werden: Pferdeflüsterin Linda Franzen, die mit ihrem IT-Freund Frederik in die Villa Kunterbunt zieht, und das Haus in ein Pferdegestüt verwandeln möchte. Gerhard, ein Vogelschützer, der die Menschen mit Bauverboten nervt, seine Frau Jule und Töchterchen Sophie. Auf der anderen Seite die kauzigen Ex-DDR-Dorfbewohner: Der „fetten alten Hund“ Grombowski, der Dreck am Stecken hat, seine Frau verprügelt und mit seiner Nachbarin Hilde, eine verrückte Katzentante, eine Affäre pflegt. Grombowskis ärgster Feind Kron, ein alter bösartiger Mann, dessen Tochter Kathrin mit einem Loser verheiratet ist, und Krönchen, dessen Enkelin, sich zur verwöhnten Zicke entwickelt. Schaller, der die Luft um Gerhards und Jules Haus mit dem Verbrennen von alten Autoreifen verpestet und irgendwie unter einer Decke mit Grombowski steckt. Arne, der es als Bürgermeister allen Recht machen und Unterleuten erhalten will. Zuletzt Meiler, ein steinreicher Unternehmensberater aus München, der ja eigentlich überhaupt nichts in Unterleuten zu suchen hat.
Die Charaktere in Zehs Unterleuten sind voller Liebe und Details gezeichnet. Zeh lässt den Leser in jeden Kopf schauen, weil sie Perspektiven von Kapitel zu Kapitel wechselt. Im ersten Teil des Romans werden die Figuren besonders ausführlich eingeführt, vielleicht ein wenig zu ausführlich, gute Literatur muss nicht die Gefühlswelt jeder einzelnen Person erläutern, sondern darf gerne Platz zum Nachdenken und Reflektieren lassen. Dennoch lohnt es sich, am Ball zu bleiben: Mit dem Wechsel der Perspektiven wechseln die Sympathien mit. Beweggründe aller Personen erscheinen, erst mal aus direkter Sicht betrachtet, plausibel und richtig. Eigentlich will jeder ja nur das Richtige tun bzw. Recht haben und wird deswegen nicht von der eigenen unerschütterlichen Meinung abrücken.
„Seiner Erfahrung nach wurden die schlimmsten Übel auf der Welt nicht durch böse Menschen bewirkt. Von denen gab es erstaunlich wenige. Viel gefährlicher waren Leute, die sich im Recht glaubten. Sie waren ungeheuer zahlreich, und sie kannten keine Gnade.“ (S. 438)
Klug ist in Unterleuten ebenfalls die Thematik: Windräder werden den wunderschönen Blick auf die Landschaft von Unterleuten zerstören, vielen Tieren ihren Lebensraum nehmen und allerhand Krach verursachen. Es ist ein aktuelles Thema, von dem wohl viele Dörfer ein Lied singen können. Zeh nimmt Meinungen auseinander und zeigt, dass es gar nicht so leicht ist, eine richtige zu haben. Gesellschaftliche Strukturen und deren Schwachstellen werden von der Autorin gekonnt vorgelegt, gepaart mit Zügen eines Krimis und einer sehr feinen Beobachtungsgabe für Menschen von unterschiedlichem Schlag. All diese Eigenschaften machen Unterleuten zu einem großartigen Gesellschaftsroman, der fast etwas von Franzens Werken hat.
Ebenfalls schön: Die Anspielung auf die berühmteste Episode in Cervantes Don Quijote. Ein Kampf gegen Windmühlen zieht immer eine Niederlage mit sich – für alle Beteiligten.
Juli Zeh: Unterleuten. Luchterhand. München 2016. 635 Seiten. 24,99 Euro.
Siehe auch: masuko13, die Buchbloggerin, das graue Sofa, Sätze & Schätze
Unterleuten kann ebenfalls auf einer eigenen Homepage entdeckt werden.