Unter Pultdächern

Von Robertodelapuente @adsinistram
Sascha Lobo meinte mal sinngemäß irgendwo, es habe ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Was früher zunächst privat war, für das öffentliche Auge erst freigegeben werden musste, ist heute durch den unbedarften Gebrauch sozialer Netzwerke erst öffentlich, bis man per Wink verordnet, es möge doch lieber privat bleiben. Die Facebookisierung hat bewirkt, dass das Label Privatsphäre nicht a priori herrscht, sondern erst angebracht werden muss. Alles ist öffentlich, bis es privatisiert wird - wir sprechen hier natürlich ausschließlich vom Normalbürger.

Schemata eines Sciapuno;
Quelle: Geschichte der Architektur

Dieser umgekehrte Umgang mit den jeweiligen Räumen kann als Rückschritt ins Primitive gesehen werden. Die Yanoama-Indianer, die im Orinoco-Gebiet angesiedelt sind, leben beispielsweise in einem Zustand, der das Private nicht kennt - oder besser gesagt: das Private ist dort Allgemeingut und für jeden sichtbar. Die architektonische Ausformung der für alle zugänglichen Privatheit nennt sich Sciapuno. Das sind Mehrfamiliensiedlungen, die kreisförmig angeordnet sind und nur aus Pultdächern bestehen. Es ist eine primitive Siedlungsform, die ähnlich in vielen Weltgegenden üblich war, bis der Fortschritt trennende, verbergende Wände entwarf, hinter denen bestimmte soziale Umgänge für die Betrachter ohne unmittelbaren Bezug zum Geschehen, privatisiert wurden.

Diese Metapher mit den Pultdächern trifft nicht übel ins Schwarze. Soziale Netzwerke werden wie ein Sciapuno verwendet - dafür sind sie gemacht; es ist eine Form öffentlichen Hausens, in dem es Begrenzung neugieriger Blicke nur dann gibt, wenn man sich Wände unter sein Dach zieht. Maurerarbeiten sind die Sache der Nutzer aber eher selten. Sie beschreiten lieber den Weg der Primitivierung - wobei primitiv hier nicht falsch, als Überheblichkeit verstanden werden soll, sondern etymologisch, sich von primarius ableitend, "zu den Ersten gehörend" - wie das Sciapuno primitiv war, so ist der Umgang und die Kultivierung sozialer Netzwerke von einer Primitivität gekennzeichnet, die wie das Einreißen von Wänden wirkt.

Sciapuno der Yanoama;
Quelle: Geschichte der Architektur

Der Unterschied zu den Yanoama ist nicht nur, dass sie höhere Formen der Siedlung kaum kennen - es gibt nämlich Ausnahmen, Sciapunos mit Häuptlingshütten, die den Egalitarismus aufheben und hierarchisch verordnete Privatsphäre monumentalisieren -, der Unterschied ist, dass sie sich gegen Eingriffe und Bespitzelung ihrer Privatheit nicht wehren, weil sie faktisch keine kennen. Sie leben gut sichtbar unter Pultdächern und fristen ihr Leben vor aller Augen - die Pultdächer in der digitalisierten Welt nutzt man ungeniert, mosert aber immer dann, wenn in die persönliche Privatheit eingegriffen wird, wenn man sie beobachtet und ausspioniert. Der Umgang mit sozialen Netzwerken hat primitive Gestalt angenommen, die moderne Denkweise, die etwas wie Datenschutz im Hinterkopf hat, passte sich aber nie an.
Das Dilemma ist, dass archaisches Hausen im Internet für eine Vielzahl von Menschen zur Normalität geworden ist, während sie in ihrer Denkweise modernen Anschaffungen wie dem Datenschutz weiter verhaftet bleiben. Wohngefühl ist Lebensgefühl, insofern hat der Werbeslogan dieses Herstellers frugalen und uncharmanten Mobiliars völlig recht. Wohnt man ohne schützende Wände, so weichen auch Ideen auf, die in dieses Wohnumfeld nicht mehr passen; Datenschutz als Gut hat keine Chance, wenn man selbst unter digitalen Pultdächern haust; wenn man primitiv logiert, ziehen fortschrittliche Standpunkte aus ...