Unter den Linden auf Bairisch

Von Jens Furtwängler @stuckinbavaria

Zehn Jahre ist es her, dass ich das Weyarner Lindl besucht habe, das erste und einzige Mal. Schon bei einer Biketour vor einigen Wochen, während einer Rast auf dem Radlweg zwischen Weyarn und Fentbach, spielte ich mit dem Gedanken an den Aufstieg zum Lindl. An jenem Freitagabend zu fortgerückter Stunde verwarf ich die Idee. Ein Update meines Besuchs ’05 landete von da an aber weit oben auf meiner To-Do-Liste und wurde in der ersten Pfingstferienwoche durchgeführt. Das Lindl steht im Weyarner Ortsteil Standkirchen nördlich der Autobahn auf einem Höhenzug, der nach Westen steil zur Mangfall abfällt und dessen Nordspitze bis vor rund 2000 Jahren das Oppidum von Fentbach beherbergte. Neben dem Logenplatz über uraltem Kulturland ist es die unmittelbare Nachbarschaft der auch als Fentbachschanze bekannten Anlage, die diesem Ort eine besondere Atmosphäre verleiht. Sehr wahrscheinlich handelte es sich um eine universelle Kult-, Gerichts- und Versammlungsstätte jener Menschen, die einst die nahegelegene spätkeltische Siedlung bewohnten. Ob sie, womöglich stilgerecht mit Flügelhelm, unter der Linde darum baten, dass ihnen der Himmel nicht auf den Kopf fallen möge? Wenn man auch nicht von einer Jahrtausendlinde sprechen kann – am 1. Juli 1897 fiel der Baum einem Unwetter zum Opfer, was sich vor nicht allzu langer Zeit, am 21. Juli 1978 wiederholte – dann doch durchaus von einem Jahrtausendplatz. 1640 nahm der Probst des Kloster Weyarn, Valentin Steyrer (der auch als Chronist immer wieder durch die Ortsgeschichte geistert) die erste urkundliche Erwähnung des Platz under der Lindn in einem Kaufvertrag von 1466 zum Anlass, in alter Tradition eine Neupflanzung anzuordnen. Anekdoten, die nahelegen, mit dem Titel Jahrtausendlinde nicht vorschnell bei der Hand zu sein. Zumal es nicht unüblich war, durch Blitz und Sturm zerstörte Linden mit Nachpflanzungen zu ersetzen. Letzten Endes sind derlei Auszeichnungen mit Vorsicht zu genießen. Das lindenbestande Plateau ist mit 712 Metern nur unwesentlich niedriger gelegen als die Irschenberger Aussicht (725m), und bietet andere, aber nicht minder interessante Perspektiven. Vermindert ist, gegenüber dem Irschenberger Vetter, allenfalls das Verkehrsaufkommen. Es existiert keine Straße zum Lindl, und dank der lausigen Beschilderung gleicht sein erstmaliger Besuch einem Orientierungsmarsch. Ein Komplott der Einheimischen, um die Ruhe zu bewahren? Als falsch angestrichener Leuchturm gibt der weithin sichtbare Maibaum die Richtung vor. Einmal auf dem eingezäunten Wiesenweg, gibt es kein Auskommen mehr; wie in einer Fahrrinne führt er ans Ziel.

Weithin sichtbar: der Maibaum am Lindenplatz.

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Dem Wiesenweg folgend, wird der Maibaum angesteuert.

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Am Ziel angekommen, wird der geneigte Besucher die erschwerenden Umstände zu schätzen wissen. Der Wind stellt die passende Klangkulisse für das malerische Ensemble aus Stein, Marterl und Bäumen (natürlichen wie künstlichen), in dem man sich für gewöhnlich mutterseelenalleine bewegt. Das Hintergrundrauschen ähnelt allerdings wieder der Irschenberger Aussicht, denn auch den Weyarner Höhenzug streift die BAB8 auf ihrem Weg zwischen München und Salzburg; wenn auch nicht in solch inniger Nähe.

Bayerisches Ensemble am Weyarner Lindl.

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Gruppenbild mit Radl.

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Die Linde

Im Gegensatz zu späteren Sakralbauten, die inmitten von Dörfern und Städten erbaut wurden, erkoren die frühen Menschen markante Landmarken wie Bäume, Felsen und Quellen abseits der Siedlungsplätze zu ihren Heiligtümern, ganz unter dem Aspekt ihrer Naturreligion. Die Linde hatte hierbei eine buchstäblich herausragende Bedeutung, denn der völkische Aberglaube schrieb ihr besondere vielfältige und magische Wirkung zu. Unter anderem sollte man unter ihr am Besten vor Blitzschlag geschützt sein. Ein Irrglaube, wie mindestens zwei zerstörte Ahnfrauen der heutigen Linde belegen. Bis in die Neuzeit genoß die Linde hohes Ansehen und oftmals eine Sonderstellung als Gerichts- oder Tanzlinde. Die Gründe, die den Baum hierfür prädestinierten, waren eher praktischer Natur: massive Eingriffe, wie den Anbau hölzerner Podeste oder gar Tanzböden in oder um die Linde überstand sie ebenso schadlos wie das Abstützen oder Umleiten von Ästen, um das Blätterdach als natürlichen Schirm zu nutzen. Ihr hoher Wuchs verlieh ihr ein stattliches, für Repräsentationszwecke geeignetes Äußeres. Welche Rolle das Weyarner Lindl innehatte, ist nicht konkret überliefert; Aufzeichnungen aber schildern, „dass sich dort viel Volk versammelte und sich vergnügte“. Ein Tun, das schwer mit einer Gerichtslinde in Einklang zu bringen ist. Andernfalls dürfte es sich um ein eher zweifelhaftes Vergnügen gehandelt haben.

Der Stein

Unwahrscheinlich, dass dieser als Opferstein bekannte Fremdkörper nur zum Aufhübschen der Szenerie hier nach oben gehievt wurde. Mutmaßlich handelt es sich um einen sogenannten Schalenstein, einen Felsblock, in den von früher Menschenhand schalenförmige Vertiefungen getrieben wurden (daher der Name). Schalensteine sind über ganz Europa verstreut und archäologischen Untersuchungen zufolge überwiegend in der Bronzezeit entstanden, ihr Sinn liegt aber im Dunkeln. Und da im Dunkeln bekanntlich gut Munkeln ist, reichen die Theorien von der spirituellen Nutzung bis hin zu eher profanen Zwecken als Feuerbohrstelle oder Mörser zum Zerstoßen von Mahlgut. Zugegebenermaßen sind die Vertiefungen am Weyarner Lindl nur schwach ausgeprägt; Laien könnten auch die alkoholisierte Dorfjugend hinter den Löchern, Rillen und Rinnen im Stein vermuten.

Opferstein unter dem Blätterdach des Weyarner Lindl." />Opferstein unter dem Blätterdach des Weyarner Lindl." />Opferstein unter dem Blätterdach des Weyarner Lindl." />Opferstein unter dem Blätterdach des Weyarner Lindl." title="Unter den Linden auf Bairisch" />Opferstein unter dem Blätterdach des Weyarner Lindl." srcset="http://i1.wp.com/www.foehnsturm.net/wp-content/uploads/2015/06/CIMG3427.jpg?resize=300%2C225 300w, http://i1.wp.com/www.foehnsturm.net/wp-content/uploads/2015/06/CIMG3427.jpg?w=1024 1024w, http://i1.wp.com/www.foehnsturm.net/wp-content/uploads/2015/06/CIMG3427.jpg?resize=809%2C607 809w" class="size-medium wp-image-1129" />Der Opferstein unter dem Blätterdach des Weyarner Lindl. Animalische Grimasse im Stein.

Das Marterl

Das Marterl, obligatorisch und zum Inventar eines jeden oberbayerischen Aussichtspunktes gehörend, bewahrt die spirituelle Kontinuität des Ortes, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Mit diesem Hintergedanken wurden nicht wenige Kirchen zur Zeit der Missionierung auf heidnischen Kultstätten errichtet. Gleichzeitig ist das Feldkreuz Ausdruck der tief verwurzelten Religösität, die bis zum heutigen Tag das südliche Oberbayern durchdringt.

Marterl am Weyarner Lindl.

Die Sichtverhältnisse zum Zeitpunkt meines Besuchs hätten jeden Piloten im Cockpit Jubelarien anstimmen lassen. Überhaupt komme ich mir vor wie im Werbespot einer (beliebigen) bayerischen Brauerei: unter weiß-blauen Himmel räkele ich mich in voller Radmontur auf der Bank, umringt von Linde und Maibaum, im satten Immergrün des Hügels. Es mangelt nur am Weißbierglas in der Hand. Einst Himmel der Kelten, nun der Himmel der Bayern!

Das satte Grün des Hügels: Blick über die Ebene nach Mitterdarching.

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Go West: rechts die markante Silhouette des Blomberg, in der Mitte scheint die Zugspitze wie eine Fata Morgana; links im Dunst die Allgäuer

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Olympiaturm & Co.: übersichtliche Skyline eines Millionendorfes.

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Im Osten nichts Neues: das Mangfallgebirge…

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…und die Chiemgauer Alpen. In der Bildmitte das Dorf Irschenberg, rechts

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Quellen:

  • Scherm, Andreas: Unterwegs im Gestern. Kulturhistorische Wanderungen im Oberland und Umland von München. 2. durchgesehene Auflage. Miesbach: Maurus Verlag, 2007
  • Janschek, Thomas: Radtouren und Baumgeschichten von Baum zu Baum im „Miesbacher Land“. Ferienregion Tegernsee- Schliersee- Wendelstein. Kiefersfelden: Kartographischer Verlag Huber & Steuerer GbR

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Anfahrt:

Enge Straßen und abgezäunte Wiesen machen das Parken im Bereich Standkirchen zur Hölle; wer also mit dem PKW anreist, dem empfehle ich, selbigen entweder auf dem P&R-Pendlerparkplatz (gegenüber der Autobahnauffahrt Richtung Salzburg/ -ausfahrt von München kommend) oder in Weyarn abzustellen. Auf dem Fuß-/Radweg, der neben der Fentbacher Straße verläuft, geht es bis zum Bushäuschen. Ihr folgt den selbstgemachten Hinweisschildern Hundeschule und Alpaka-Laden und erklimmt den Höhenrücken auf der Straße Zum Lindl. Im Dorf Standkirchen angekommen, biegt ihr bei erster Gelegenheit links auf den asphaltierten Stadlweg ab, dem ihr ca. 150m in westlicher Richtung folgt. Auf dem Scheitel des Höhenzugs zweigt nun rechts in die Wiese ein landwirtschaftlicher Fahrweg ab, der, von Weidezäunen flankiert, im weiteren Verlauf unausweichlich zum Lindenplatz führt.

Für Radfahrer:

Steiler Antritt und rutschiger Wiesenuntergrund auf den letzten 70m zum Weyarner Lindl. Ich empfehle ein Mountainbike mit ausreichend profilierten Reifen und sportlicher Sitzposition sowie einen Helm! Ansonsten: wer sein Rad (und sich selbst) liebt, der schiebt!