Untätig sein führt zu Untaten

„Der Marienthaler Dachs“ mit dem Untertitel „Zuletzt stirb endlich die Hoffnung“ im Volkstheater hält der westlichen Ökonomie aber vor allem der Gesellschaft einen erbarmungslosen Spiegel vor.

Sie sind arbeitslos und stehen in „Blaumännern“ auf der Bühne. Oder zumindest in Kostümen, die an „Blaumänner“ erinnern. Jene Arbeitermontur, die bis auf wenige Ausnahmen im letzten Jahrzehnt beinahe von der Bildfläche verschwunden ist. Einst mit Stolz getragen, wurde sie aufgrund der Auslagerung vieler Produktionsstätten in Billiglohnländer in unseren Breiten beinahe überflüssig.

Im Volkstheater kommen sie zu Wort. Insgesamt 20 Frauen und Männer erzählen im Chor über ihre Lebenserfahrungen, wie sie arbeitslos wurden und sich nun fühlen. Sie tun dies zu Beginn noch vor dem Vorhang. Als sich dieser hebt, zeigt das Bühnenbild einen Raum mit vielen Arbeitsplätzen an denen munter gewerkt wird. Blassrosa ist die Umgebung, Marienthal ist in einem Schriftzug zu lesen, der unverkennbar an die Firma Manner erinnert. Ein österreichisches Unternehmen, das zwar seinen Standort in Perg vor einigen Jahren schloss, sonst jedoch in Wien seine Produktion bislang kontinuierlich ausbaute. Hier wird wohl kräftig nach Identifikationsmöglichkeiten für das Publikum gesucht.

„Der Marienthaler Dachs“ von Uf Schmidt ist ein opulentes Werk. Nicht nur Laienschauspielerinnen und –schauspieler treten darin auf. Die Hauptrollen sind aus dem Ensemble des Hauses und Gästen mit weiteren 17 Leuten besetzt. 3 Stunden dauert der Abend, alles in allem ein wenig zu lang. Kürzungen wären möglich, eine geraffte Version würde sicher sehr guttun. Das ist schon der einzige anzubringende Kritikpunkt. Denn sowohl der Inhalt als auch die Regie von Volker Lösch und nicht zuletzt das Können aller Beteiligter auf der Bühne ist sehens- und beachtenswert.

Schmidt schuf mit seinem Stück eine beißende Kapitalismuskritik, die zuvorderst jedoch nicht die Kapitalisten selbst an den Pranger stellt. Der Autor zeigt mit dem Finger auf die Bevölkerung, die sich nach Strich und Faden verführen lässt, wie es die Machthaber und ihre weiblichen Pendants brauchen und die trotz der Möglichkeit, das System gemeinsam zu ändern, verblendet einem Neoliberalismus die Stange halten. Obwohl der sie mit Haut und Haaren aufzufressen droht.

Die Figuren tragen sprechende Namen. Dieter Oben ist der Bürgermeister der Stadt. Martin Schwanda spielt ihn zornig-despotisch mit einem Hitler-Bärtchen und einer blauen Lederhose. Angesiedelt zwischen einer Witzfigur mit Machtfülle und einem tragischen Propheten erlebt er zur Halbzeit ein gar nicht feines Ende. Kaspar Locher an seiner Seite verkörpert als Hauptmann Bleibrecht eine Exekutive, die sich den jeweiligen politischen Leadern in Windeseile anzupassen weiß. Günter Franzmeier als Vater Staat und Claudia Sabitzer als Mutter Konzern schwimmen bis zum bitteren Ende immer ganz oben. Sie verraten schließlich sogar ihre Kinder, die kesse Gesellschaft (Nadine Quittner) und den tollpatischen „Kleinen Mann“ (Thomas Frank), der letztlich aus seinen Windeln herauswachsen muss, ob er will oder nicht. Die Wirtschaft – auch dieses Nomen ist in Schmidts Arbeit zweideutig zu verstehen. Als treibende ökonomische Kraft eines Landes einerseits, aber auch als Gastwirtschaft andererseits. Sie entwickelt sich mit ihren beiden Erfüllungsgehilfen dem Milchmädchen (Evi Kehrstephan) und Herrn Knecht (Sebastian Klein) zu einem seine Kinder fressenden Monster. Dabei erklärt das Milchmädchen an einer Stelle anschaulich, wie das System der Schuldverschreibungen und Belehnungen Banken zu Reichtum verhilft.

Gábor Biedermann spielt in einem glitzer-goldenen Anzug jenes Medium, das die Bevölkerung darüber informiert, welche Voraussagen der von allen angebetete Dachs wieder gemacht hat. Von Anfang an ist klar, dass die tierische Allegorie nichts anderes als den DAX meint, den Deutschen Aktienindex. Jenes Messinstrument, um das die Menschheit seit Jahrzehnten wie um ein goldenes Kalb tanzt. Auch die Marienthaler. Als es mit ihrem Wohlstand zu Ende geht, verfallen sie in die Depression. Opa Rosemarie und Oma Gustav bleibt zu Beginn nichts anderes als eine sentimentale Rückschau. Ihre Namen sind nicht verkehrt herum mit den Artikeln versehen, sondern entsprechen eher dem eigentlichen Rollenverständnis der beiden Alten (Haymon Maria Buttinger und Lilly Prohaska). Später werden sie zu jenen gehören, die am lautesten nach schuldigen Köpfen schreien.
Die sind ohnehin schnell gefunden. Ob die vier arbeitslosen jungen Männer, die sich als Outlaws den Zorn der Gemeinde zuziehen, „untätig sein führt zu Untaten!“, oder ob als Andi Arbeit (Jan Thümer), der versucht, heilsbringend ein neues Gemeinschaftsgefühl zu beschwören. Spätestens als schließlich auch Siegrid aus Hagen (Steffi Krautz), Hauptproponentin des neoliberalen Wirtschaftssystems, nicht in der Stadt bleiben will, weil sie dort keine Gegner mehr findet, müssten sich die Marienthaler neu erfinden. Aber sie tun das, was Gesellschaften für gewöhnlich tun. Besser an alten Schimären hängen bleiben und diese bis in den Tod verteidigen, als neue Lebensentwürfe zu suchen.

Der Chor darf zwar jene Faktoren deklamieren, die man allgemein für notwendig hält, um in den nächsten Jahrzehnte große Bevölkerungsschichten am Leben zu erhalten. Senkung der Pensionszeit, bedingungsloses Grundeinkommen, Verteilung von Gewinnen. Aber am Schluss ist es das Kapital, das siegt und all jene vertilgt, die nutzlos und ohne Arbeit das System belasten. So drastisch dargestellt hat die logische Konsequenz des ökonomischen Irrsinns bis jetzt noch kaum jemand. Die Verzahnung zwischen dem originalen Text und jenen Passagen, die von den Laien ganz im postdramatischen Theaterverständnis selbst eingebracht wurden, funktioniert bestens, ja höchst kunst- und kraftvoll.

Carola Reuthers Bühnenbild-Ideen und Teresa Grossers Kostüme müssen gesondert hervorgehoben werden, sie machen einen großen Teil der insgesamt sehr stimmigen Inszenierung aus. Dass das Publikum hierfür nur zögerlich ins Volkstheater findet, ist bedauerlich. Vielleicht hilft, wie schon angesprochen, eine Kürzung.


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