Unsinn übers Internet

Von Stefan Sasse
Vor drei oder vier Jahren wusste noch kaum jemand abseits gewisser geschlossener Communitys mit dem Begriff "Web 2.0" etwas anzufangen oder hätte ein "social network" definieren können. Jetzt wird das Internet mit einer Selbstverständlichkeit zur Erklärung der Welt herangezogen, die ins Lächerliche übergleitet. Gewaltbereitschaft der Jugendlichen? Internet. Schlechte Schulnoten? Internet. Mobbing? Internet. Terror? Internet. Kinderpornos? Internet. Probleme, die seit Jahrzehnten existieren, werden plötzlich mit einem Wort erklärt. "Hey, da gibt es doch dieses fiese, geheimnisvolle Internet! Ich kenn mich zwar nicht aus, aber mit ein paar Buzzwords kriegen wir das schon hin!" So muss der Gedankengang eines durchschnittlichen Redakteurs zur Zeit aussehen, jedenfalls kann man sich anders kaum erklären, dass ausgerechnet ein Egomane wie Sascha Lobo zum Aushängeschild des neuen Internet wird, der selbst kaum Ahnung hat, das aber erfolgreich hinter einem grellroten Iro verbirgt. Das neueste Phänomen aus "mit dem Internet die Welt erklärt" ist der aktuell laufende Zensus und die aktuell nicht laufende Aufregung darüber.
Egal, wer sich den Zensus zum Thema nimmt, es gibt dabei eine klare Grundregel zu beachten: auf gar keinen Fall vergessen zu erwähnen, dass es im Gegensatz zu den 1980er Jahren keinen Protest dagegen gibt und als Erklärung dafür das Internet hernehmen. Es erscheint ja auch bestechend logisch: wer seine Daten in den Social Networks einstellt, der kann ja auch kein Problem damit haben, wenn der Staat sie sich holt. Dieser grandios simple Gedankengang, der sich gerade wirklich überall findet, hat aber zwei eklatante Schwachstellen. 
Zum Einen ist die Gruppe derer, die Social Networks benutzen, gemessen am Anteil der Gesamtbevölkerung, relativ klein. Die Leute, die in den Achtzigern gegen die Volkszählung protestiert haben leben doch größtenteils noch! Hängen diese (bald) Rentner etwa alle den ganzen Tag auf Facebook herum und chatten mit ihren Enkeln? Und was ist mit der Generation der zwischen 1960 und 1970 Geborenen, die auch eher weniger internetaffin sind? Warum protestieren die nicht? Weil sie ihre Bausparverträge auf Facebook vergleichen und Eigenheimfotos auf Flickr! einstellen? Die Vorstellung ist einfach lächerlich. 
Zum Anderen aber unterschlagen die vermutlich in der Materie nicht übermäßig Bewanderten, dass das Einstellen persönlicher Informationen für seine "Freunde" (ein in Social Networks etwas inflationärer Begriff) ein ganz anderes Paar Stiefel als das Zur-Verfügung-stellen dieser Informationen für den Staat ist, ganz besonders, wenn man überhaupt nicht weiß welche Informationen der sich überhaupt holt, läuft der Hauptteil des Zensus doch über Zusammenlegung diverser Datenbanken. 
Die platte Erklärungsphrase, dass niemand mehr Probleme mit der Weitergabe solcher Informationen hat, weil er es auf Facebook tut, ist einfach nur nervig. Sie ist schlicht Blödsinn. Sie unterstellt zum Einen einfach, dass Millionen Nutzer sich bewusst dazu entschließen, diese Informationen auch der Datenkrake Facebook selbst zur Verfügung zu stellen, gewissermaßen als Bezahlung für den Dienst oder einfach nur, weil die junge Generation aus lauter Exhibitionisten besteht. Wie viele Nutzer werden sich überhaupt darüber im Klaren sein, was mit ihren Infos da potentiell passiert? Sie haben ihre Partybilder ja nur für ihre Freunde freigegeben, oder?
Nein, das Desinteresse am Zensus hat sicher viele Ursachen, aber die verbreitete Nutzung von Facebook dürfte nicht dazugehören. Es ist wohl vielmehr der verbreitete Mangel an Information. Dass der Zensus überhaupt kommt, wird von den Medien erst thematisiert, seit die Proteste ausbleiben, und ausbleibende Proteste regen nicht unbedingt dazu an, sie überhaupt erst anzufangen. Dazu weiß man ja kaum, was überhaupt gemessen wird und wie das funktioniert. Nur 10% werden in Stichproben abgefragt, die Chance dass man selbst belästigt wird ist also recht gering. Der Abgleich von staatlichen Datenbanken ist die potentiell viel gefährlichere Sache und wird praktisch gar nicht thematisiert; wenn man überhaupt vom Zensus liest und es nicht um Facebook geht erfährt man von den Fragebögen. Der Zensus kommt außerdem sehr freundlich daher, mit einer netten "Aufklärungskampagne", und passt zeitlich super - nach S21 und Fukushima ist das Protestpotential erst einmal ein wenig erschöpft. 
All das, vor allem aber die Abstraktheit des Vorgangs, sind gute Gründe für ein Ausbleiben des Protests. Sie ergeben aber natürlich keine so gute Geschichte wie die Theorie von einer vom Zensus sowieso kaum berührten Jugend, die ihre Freizeit auf Facebook verbringt. Facebook ist neu und unbekannt, so etwas wie Rock'n Roll in den 1950er Jahren. Jeder kann ein bisschen mitreden, sind die Chancen doch gut, dass das Gegenüber keine Ahnung von Tuten und Blasen hat. "Social Networks" bzw. "Facebook" wird immer mehr zu einer Chiffre. Ein gravitätisches "Aha", wissend mit dem Kopf nicken, willkommen im Club. Aber dass das so ist, liegt ziemlich sicher an Facebook.

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