Wenn die Tage kürzer werden und es schon vor Arbeitsschluss dunkel wird, drängt sich jedes Jahr unweigerlich die Frage auf: Was mache ich eigentlich an Silvester? Und dann sinniert man darüber, dass schon wieder 365 Tage einfach so vorbeigegangen sind: 2010, 2011, wieder ein Jahr vorbei… Moment! Ein Jahr? Nein, gleich ein ganzes Jahrzehnt hauchte schon letztes Neujahr sang- und klanglos sein Leben aus – und ich merk’s erst jetzt.
Ja, das war es, das Jahrzehnt, das ganz allein meiner Generation gehört. Aber was haben wir daraus gemacht? Ich für meinen Teil habe kaum gemerkt, dass es vorbeigegangen ist. An die 90er kann ich mich noch lebhaft erinnern, ein transsexuelles Jahrzehnt zwischen Boybands und Girlie-Look, transmusikal zwischen Scooter und Lou Bega, transzendent zwischen Kabbalah-Trend und Öko-Welle und außerdem erschreckend transparent: der Einblick zwischen String Tanga und Hüfthose, vollen Fokus auf das Hüftgeweih.
Die 2000er hingegen? Ein Jahrzehnt mit einer ausgewachsenen Identitätskrise will man meinen. Das fing schon bei der Namensgebung an. Da stolperte so manche Zunge über die Dreifachnull. Die Nuller? Nein, das hält was es verspricht – nämlich nichts. Was übrigblieb, sind die einzelnen Jahre, die wir brav nacheinander benannt haben. Kein Wunder, dass keiner das gesamte Jahrzehnt als Ganzes wahrgenommen hat. Was war denn bei der Benchmark 1900? Und 1910? Nachdenkliches Am-Kopf-Kratzen. Erst danach ging die Sause, Prohibition, die Goldenen Zwanziger, zwei verrückte Schnurrbartträger (einer mit Humor, einer mit einem mächtigen Knall), Wirtschaftswunder, Mondlandung, Bud Spencer und Terence Hill, Mauerfall und Scooter.
Haben wir unser Jahrzehnt nur abgesessen, weil wir gelernt haben, dass das Spannende erst danach kommt? Das erinnert mich irritierenderweise an den Reim von den zehn Afroamerikanerlein. Und kaum sind sie vorbei, da war’n sie alle futsch.
Wenn man an den Beginn des Jahrzehnts zurückdenkt, ist das eigentlich kein Wunder, erst die große Vorfreude auf die drei Nullen, die Panikmache vor dem Millenium-Bug, die Hamsterkäufe, die letzten hastig geschriebenen “Apocalypse now”-Hinweisschilder. Und dann…..nichts.
Die Uhr tickte nach dem großen Knall gemütlich weiter und die Rechner verhielten sich auffallend unauffällig. Es war fast so, als hätten wir uns alle riesig auf ein Mädchen gefreut, die Hebamme kam jedoch heraus und schnaubte trocken in das Wartezimmer: “Es ist ein Junge.” Hmpf.
Was machen wir jetzt mit dem unerwarteten Kind? Erstmal ignorieren, beschloss die Gesellschaft. Dann, das Kindheitstrauma 9/11, kein schöner Anfang und gefolgt von Terroranschlägen und Amokläufen. Erst schreien alle in Orson-Welles-Manier “Future, future!” und dann so etwas Hässliches - fehlgeleitete Energie (hätten die mal lieber Gewaltspiele gespielt, um ihre Aggressionen abzubauen).
Und außerdem, was hat es mit all den toten A-Promis auf sich? Heath Ledger, Michael Jackson, Farrah Fawcett, Nicole Smith. Da hat sich wohl jemand gedacht: Hey, da muss mal aufgeräumt werden, jetzt, wo es den Popstar-Bausatz von DSDS gibt.
So wollen wir unser Jahrzehnt doch nicht in Erinnerung behalten!
Gab es denn etwas Gutes, frage ich euch? Führungspolitisch war auf jeden Fall “Bäumchen-wechsel-Dich” angesagt: Ein neuer Papst, ein schwarzer Präsident (nicht mehr nur Filmmaterial für moralisierende USA-Blockbuster), eine deutsche Frau mit deutscher Frisur in deutscher Führungsposition und ein echter Franzose (klein, charmant, singendes Model als Frau) leitet nun die Baguette-Nation.
Etwas vergessen? Ah, den Euro! Echtes eigenes Geld, cool! Nein? Doch nicht?
Komisch, bei all diesen Errungenschaften macht sich kaum mehr als ein sauertöpfisches “Hmpf” auf den Gesichtern breit. “Haben wir uns alles spannender vorgestellt. Sah gut aus, läuft aber nicht.”
Ein zweiter Versuch, ich rufe in die Gesellschaftsrunde: Wir haben alle tragbare Handys (nicht mehr in unhandlicher Kofferform)!
Funktioniert auch nicht. Der Reiz des Neuen verflog allzu schnell. Wer hat heute denn kein Handy? Unverständiges Kopfschütteln und desinteressierte, leere Blicke.
Stattdessen sind alle damit beschäftigt, mit ihren Smartphones ihren Status auf Facebook zu aktualisieren sich gegenseitig die Hucke vollzutwittern. Genau da klingelte es bei mir – nein, nicht das Handy sondern tatsächlich mein Verstand. Ich hatte den Markenkern der 2000er dingfest gemacht.
Wir hatten das Jahrzehnt der Communities! Noch bevor Facebook als moderne Sozialhilfe in unser Leben trat, breiteten sich schon hier und da Communities in den Weiten des modemangetriebenen Internet aus, die aus anonymen Chaträumen Profilbildung machten. Zuckerberg setzte dem Ganzen nur noch ein Sahnehäubchen auf, indem er die simpelsten Kommunikationsmechanismen in die Onlinewelt adaptierte. Ein Beispiel aus dem realen Leben, am Kaffeetisch beobachtet:
Ich habe neue Schuhe an. (Post)
1. Kollegin: Eva hat heute schöne Schuhe! (Kommentar)
2. Kollegin: Stimmt! (Like)
3. Kollegin: Die hab ich auch. (Gruppe)
Die Communities der 2000er sind nichts anderes als die Kommunen der 60er. Ein bisschen größer, ein bisschen gefakter, ein bisschen weniger bio. Aber im Großen und Ganzen haben wir auch ein bisschen Woodstock.
Eins verrate ich noch zum Schluss: Auf die Idee mit dem Community-Jahrzehnt kam ich gar nicht durch meine Silversterplanung sondern bei einem Treffen mit zwei Freunden, die ich, wo? ja richtig!, vor gut 10 Jahren in einer Internet-Community kennengelernt hatte. Das waren noch Zeiten.