Als ich heute morgen das “Unser Vater” betete, fragte ich mich plötzlich, wieso ich in diesem Gebet als Einzelner stets im Namen einer Gruppe bete? Es heisst “unser Vater”, nicht “mein Vater”; für “mein tägliches Brot” zu beten, käme mir irgendwie komisch vor. Aber dann kommt die Bitte um Vergebung: “Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.” Es klänge ja durchaus sinnvoll, wenn ich beten würde: “Und vergib mir meine Schuld, wie auch ich vergebe meinen Schuldigern.” Ich habe mich gefragt, ob es zwischen den beiden Varianten einen inhaltlichen Unterschied gibt?
Nach meinem Empfinden gibt es diesen. “Meine Schuld” bezeichnet meine persönliche Schuld: das üble Wort, die verpasste Liebestat, der gehässige Blick usw. “Unsere Schuld” scheint mir kollektiv begangene Schuld zu bezeichnen: dass wir unseren Wohlstand auf schmutzigem Fluchtgeld bauen; dass wir uns als Gemeinschaft um Randständige aller Art nicht kümmern, wie Jesus es tun würde; dass wir Produkte konsumieren, die von Kinderhand in Sklavenarbeit gefertigt wurden, uws. – Man nennt das “strukturelle Sünde”.
Es fällt mir immer wieder und immer mehr auf, wie gerade in frommen Kreisen der Fokus stark, zuweilen exklusiv, auf individuellen Sünden liegt. Von aussen betrachtet, zeichnen sich die Frommen (zu denen ich mich auch zähle) dadurch aus, dass sie “gegen Homosexualität”, “gegen Abtreibung” oder “gegen Sex vor der Ehe” sind. Es ist natürlich ein Armutszeugnis, wenn wir uns nur dadurch profilieren, “für was wir dagegen sind”. Bemerkenswert ist jedoch auch, dass dies alles Sünden sind, die vom Individuum begangen werden.
Natürlich soll nun das Kind nicht mit dem Bad ausgeschüttet werden. Individuelle Heiligung ist wichtig. Aber der grössere Zusammenhang soll und darf nicht vergessen werden. “Vergib uns unsere Schuld.” Es gibt eine Schuld, die wir gemeinsam haben.
