David Torrence als Lems Vater: Die Rolle seines Lebens
CITY GIRL
USA 1930
Mit Charles Farrell, Mary Duncan, David Torrence, Edith Yorke, Anne Shirley, Tom McGuire, Richard Alexander, u.a.
Regie: F.W. Murnau
Drehbuch: Marion Orth & Berthold Viertel nach Elliott Lesters Theaterstück The Mud Turtle
Deutschsprachige Kinoauswertung 1930 unter dem Titel Unser täglich Brot; imdb.com nennt als weiteren deutschen Titel Die Frau aus Chicago; es sieht so aus, als wäre dies eine Art “Zusatztitel” zum Haupttitel gewesen
Dauer: 90 min
Vorspann:
Inhalt: Der Farmerssohn Lem (Charles Farrell) reist im Auftrag seines Vaters in die Grossstadt, um die Jahresernte an Weizen zu verkaufen. Doch die Wirtschaftslage ist schlecht, die Preise fallen, der erhoffte Gewinn kann nicht erzielt werden. Niedergeschlagen begibt sich Lem in ein Café, wo er sich in die Kellnerin Kate (Mary Duncan), das “City Girl” aus dem Titel, verguckt. Da sie die Gefühle des bald zum Stammgast avancierenden Bauernjungen erwidert und das Stadtleben eh’ satt hat, heiraten die beiden überstürzt. Auf der elterlichen Farm wird das “Stadtflittchen” vom gestrengen Vater aber als Eindringling behandelt und abgelehnt. Lem vermag sich gegen den übermächtigen Vater nicht durchzusetzen. Das Verhalten des Alten wiederum ermutigt einen der Farmarbeiter, sich dem “Flittchen” Kate auf ungebührliche Weise zu nähern und sie zu bedrängen…
Der Film:
Zunächst einmal erstaunt das Erstaufführungsdatum in Verbindung mit der Tatsache, dass es sich hier um einen Stummfilm handelt: 1930, im Erscheinungsjahr von City Girl, wurden in den USA gar keine Stummfilme mehr produziert. Es gab zwar noch kleine Kinos, welche aus finanziellen Gründen noch nicht auf das neue Tonsystem umrüsten konnten – sie spielten noch Stummfilme älteren Produktionsdatums – aber der Tonfilm hatte einen derartigen Riesenerfolg, dass innerhalb von nur drei Jahren nach Erscheinen von The Jazz Singer kein Studio mehr Filme ohne hörbare Dialoge herstellte.Anhand von City Girl lassen sich die Umstände und Mechanismen rund um den Siegeszug des Tonfilms im amerikanischen Film fast exemplarisch darstellen.
Der Tonfilm auf dem Vormarsch
Murnaus Stummfilmprojekt City Girl war eines von vielen, das von der rasanten Umstellung auf den “tönenden Film” buchstäblich üb
Murnau und Fox
Die Geschichte dahinter ist allerdings etwas komplizierter, und um sie zu verstehen, müssen zunächst einige falsche Vorstellungen aus dem Weg geräumt werden, welche Murnaus Zeit im Fox-Studio hartnäckig anhaften. Filmhistoriker David Kalat konnte mit Hilfe zeitgenössischer Quellen die landläufige Meinung widerlegen, William Fox hätte Murnau nach dem Misserfolg des teuren Sunrise künstlerische Einschränkungen aufgezwungen, es hätte deshalb während der Dreharbeiten zu Four Devils und City Girl ständig Streitigkeiten gegeben, William Fox hätte sich in den künstlerischen Prozess eingemischt, weshalb Murnau schliesslich den Hut genommen und die Fertigstellung von City Girl den Fox-Leuten überlassen hätte.
Das Gegenteil ist der Fall: Murnau und Fox verstanden sich hervorragend; Fox’ Einwände betrafen – nach dem exzessiv teuren Sunrise – ausschliesslich finanzielle Einschränkungen, womit sich Murnau offenbar problemlos arrangierte, weil er deren Notwendigkeit einsah, wie Janet Bergström in ihrem Buch “Murnau in America” darlegt. Künstlerisch hatte der deutsche Regisseur weiterhin alle Freiheiten, und die nutzte er unter anderem dafür, sich die amerikanische Art des Inszenierens anzueignen und neue Techniken auszuprobieren. In der Tat stehen die viel kürzeren Takes und die viel häufigeren Schnitte in deutlichem Gegensatz zu den langen Einstellungen der deutschen Murnau-Filme, zudem gibt es viel mehr Grossaufnahmen. Aber diese “Neuerungen” waren Murnaus Entscheidung, nicht das Diktat von Fox, wie immer wieder kolportiert wird. Murnau wollte sich die amerikanische Art des filmischen Inszenierens aneignen und damit sein Repertoire erweitern. Das ist ihm hervorragend gelungen – und zwar ohne sich selbst und seinen charakteristischen Stil zu verleugnen, wie City Girl beweist. Der Film und seine Figuren leben und beziehen ihre Tiefe aus inszenatorischen und psychologischen Details, die sich aufs Wesentliche beschränken und ganze Bände erzählen. Die Szene etwa, in der Lem im Restaurant nach dem Mahl sein Geschirr zusammenstellt, sagt nicht nur Wesentliches über seinen Charakter aus, sie antizipiert auch die Stimmung in Lems Elternhaus und bereitet die Zuschauer somit bereits auf das Drama vor – und plausibilisiert dieses zudem – das in der zweiten Filmhälfte über die Liebenden hereinbricht. Zudem tragen die Einstellungen und Bildfolgen, ja sogar die Bauten in City Girl Murnaus starke, unverkennbare Handschrift.
Das wahre Desaster
Mitten in der Schlussphase des Projekts verunglückte Murnaus Mentor – ein Autounfall mit beinahe tödlichem Ausgang, der das “City-Girl-Desaster” einleitete.
Es gab durchaus Diskussionen bezüglich der Ausstattung von Four Devils und City Girl mit Ton – William Fox war einer der ersten, die uneingeschränkt in die neue Technologie investierten – und Murnau war daran beteiligt. Es existieren Vorschläge aus Murnaus Feder, wie Ton in einzelnen Sequenzen hätten eingebaut werden sollen, der Star-Regisseur aus Deutschland war durchaus offen für die Neuerung. Doch mit Fox’ Ausscheiden war’s mit der künstlerischen Freiheit vorbei. Mitten in der Schlussphase des Projekts verunglückte Murnaus Mentor – ein Autounfall mit beinahe tödlichem Ausgang, der das “City-Girl-Desaster” einleitete.
Fox fiel für Monate aus, was zur Folge hatte, dass die Studioaktien ins Bodenlose fielen; nach langen Querelen übernahm ein Bankenkonsortium die Kontrolle. Als neuer Studioleiter wurde Sidney Kent eingesetzt, ein Ignorant. William Fox war danach weg vom Fenster, er hatte sein Studio verloren. Murnau wurde von den neuen Herren behandelt wie ein zweitklassiger Angestellter und musste zusehen, wie die Tonspezialisten sich dranmachten, seine Vision zu zerstören; Szenenfolgen wurden umgestellt, eliminiert und eventuell durch neu inszenierte ersetzt; die neu gedrehten Dialogsequenzen waren starr abgefilmt und nahmen sich wie Fremdkörper im fertigen Film aus.
Nach einem erfolglosen Rückkehrversuch zur UFA nach Berlin reiste Murnau nach Polynesien, wo sein letzter Film, Tabu, entstand.
City Girl – das Original
Als City Girl 1930 ohne viel Werbung in die amerikanischen Kinos gebracht wurde, war der Film ein Bastard, sowohl formal (als Zwischending zwischen Stumm- und Tonfilm) und auch in künstlerischer Hinsicht. Europa hingegen kam in den uneingeschränkten Genuss von Murnaus Originalversion. Da der Siegeszug des Tonfilm hier viel gemächlicher vonstatten ging – nicht zuletzt dank eingeschränkterer finanzieller Mittel – gehörten Stummfilme nach wie vor zur alltäglichen Kinokultur. Die Version von City Girl, die das Fox-Studio nach Europa schickte, war die von Murnau konzipierte Originalfassung. Sie verschwand nach der Premiere allerdings lange Zeit von der “Bildfläche”; bis Anfangs Siebzigerjahre galt sie als verschollen und erst 1970 wurde sie in den Tiefen des Fox-Archivs wiederentdeckt.
Murnau hatte für City Girl eigentlich kein Happy End vorgesehen, doch seine beiden Mit-Autoren überzeugten ihn davon, dass der Film so nicht gezeigt werden könne. In der Tat wäre das vorgesehene Ende unerträglich gewesen; so, wie es sich nun präsentiert, wirkt es zwar nicht ganz befriedigend und psychologisch unglaubwürdig, doch die Schlussequenz ist, wie der ganze Film, optisch reinster Munau – und stört deshalb nicht wirklich.
Murnaus Vorgänger Four Devils ist noch immer verschollen. Man darf gespannt sein, wann und wo es wieder auftaucht – und was es uns als Bindeglied zwischen Sunrise und City Girl enthüllt.
Nachspann:
– F.W. Murnau verstarb ein Jahr nach der Premiere von City Girl an den Folgen eines schweren Autounfalls in Los Angeles.
– Charles Farrell war offenbar der Hauptgrund, weshalb der Film überhaupt in die Kinos kam – die Studioverantwortlichen trugen sich offenbar mit dem Gedanken, ihn in der Versenkung verschwinden zu lassen. Dank Farrells damaligem Star-Status erhoffte man sich doch noch einen gewissen Gewinn. Farrells Stern sank übrigens bereits ab 1934 rapide, als Janet Gaynor, mit der er ein Leinwand-Traumpaar bildete, eine Solokarriere verfolgte. 1940 zog er sich aus dem Filmgeschäft zurück und hatte als Manager eine Clubs in Palm Springs Erfolg. In den 50er-Jahren war er sieben Jahre Bürgermeister von Palm Springs.
–Mary Duncan, der weibliche Star des Films, zog sich ebenfalls früh aus dem Filmgeschäft zurück. Ihre Filmografie zählt nur gerade 16 Filme.
–David Torrence, der als Lems gestrenger Vater brilliert, war der ältere Bruder des ungleich bekannteren Schauspielers Ernest Torrence. David war bis Ende Dreissigerjahre in unzähligen Filmen zu sehen, doch sein Talent wurde in der Besetzung von oft winzigen Nebenrollen vergeudet. Auch er verschwand Ende der Dreissigerjahre aus dem Filmgeschäft.
–Elliott Lester, der Autor der Bühnenvorlage, war der Vater des späteren Filmregisseurs Richard Lester, der die beiden Beatles-Filme A Hard Day’s Night und Help! inszenierte und wohl deshalb immer wieder für einen Briten gehalten wird.
-In Deutschland kam City Girl 1930 als Unser täglich Brot in die Kinos. Interessanterweise war genau dies Murnaus Arbeitstitel: Das Projekt lief im Fox-Studio von Beginn weg als Our Daily Bread.