„Unrechtsstaat“ begründet eine Kampflinie zwischen denen, die auf diesem Kampfbegriff beharren, und denen, die sich ihm beharrlich verweigern. Mal wieder ist einer aus dem Osten, der es wissen muss, gegen diesen Begriff in die Bresche gesprungen: Lothar de Maizière. Und gleich keult einer aus dem Westen, Kulturstaatsminister Neumann, der es nun wirklich, schon qua Amt, besser wissen müsste, ohne jedes Maß zurück: DDR war Unrechtsstaat „durch und durch“! Es gibt da eine Mauer in West-Köpfen, und vor allem in denen, die es durch Republikflucht, innere Emigration oder Anbiederung geworden sind, die der Berliner Mauer an Betonhaftigkeit nur wenig nachsteht und ähnlicher Motivation geschuldet ist: dem Wunsch, Sieger der Geschichte zu sein. Die Mauer schützt vor der Gefahr, die Herkunft des eigenen Staates, und damit die eigene Existenzweise in Frage stellen zu müssen. Das „hier Rechtsstaat mit Fehlern und dort Unrechtsstaat, wo nicht Alles schlecht war, taugt eher als Totschlagargument denn zur Herstellung der vielbeschworenen „inneren Einheit“. Auf dieser Linie liegt auch, wenn mitunter den Einzelnen ein richtiges Leben im falschen System zugebilligt wird.
So wie sich einst beide Staaten gegenseitig ihr Existenzrecht abgesprochen haben aus berechtigter Angst, denn es ging ja immer zumindest eine ideologische Gefahr vom anderen aus, so geht es auch heute, wenn auch nun post mortem, um das Existenzrecht des verblichenen „Ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden“ – um sein Existenzrecht in den Lehr- und Geschichtsbüchern des vereinten Deutschlands. So, wie sich die Hoffnungen, dass sich „das Problem Linkspartei mit dem Ableben der letzte SED-Genossen von selbst erledigt, nicht erfüllen wird, befürchtet man auch, dass dieser „Unrechtsstaat“ positiv in Erinnerung bleibt als Versuch einer System-Alternative, wenn auch als gescheiterter. Die aggressiv-ängstliche Blockadehaltung jenseits der genannte Kampflinie ist zwar wenig produktiv, aber nicht irrational, denn: ist dem siegreichen, real existierenden Kapitalismus nicht das Menetekel längst an die Wand geschrieben, das wiederum sein Existenzrecht in Frage stellt? Könnte nicht im falschen oder richtigen Moment schon nur die Frage eines einzigen noch lesenden Arbeitslosen nach dem Recht auf Arbeit die ganze schöne Marktfreiheit-fixierte Argumentationsstruktur zusammenbrechen lassen? Und könnten nicht die Menschen irgendwann lauter zu fragen beginnen, ob nur Recht ist, was in der Verfassung steht, und wie, was drin steht zu deuten sei?
Eine andere Facette dieses Streites kommt anlässlich des zwanzigsten Jahrestages der Unterzeichnung des Einigungsvertrages an die mediale Oberfläche. Nicht irgendwer, sondern Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck spricht vom „Anschluss“ der DDR. Das weist auf eine kleine, selten beachtete Differenz: Das Ende des „Unrechtsstaates“, das man wohl auf die Tage des Mauerfalls datieren könnte oder spätestens auf den Tag der Konstituierung der ersten frei gewählten Volkskammer und das Ende der DDR fielen zeitlich nicht zusammen. Was geschah dazwischen? „Anschluss“ meint wohl mehr, als dass da auf dem Weg zur Vereinigung einiges schief gelaufen ist, und genau deshalb das Geschrei von jenseits der Kampflinie!
Die Einheit möchte ich nicht missen. Wenn ich aber auf den Vereinigungsprozess schaue, ist mir, als läse ich in einem nicht geschriebenen Kapitel: ‚Die sanfte Variante: das Ende der DDR‘ aus dem glänzend recherchierten, beklemmenden Buch „Die Schockstrategie“ von Naomi Klein.