(Un)glaublich schön: “Life of Pi” von Ang Lee

© Twentieth Century Fox of Germany GmbH / Piscine

© Twentieth Century Fox of Germany GmbH / Piscine “Pi” Patel (Suraj Sharma) mit dem bengalischen Tiger Richard Parker allein auf hoher See in Ang Lees Romanverfilmung “Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger”

Im Hinduismus erzählt man sich die Geschichte von Krishna, wie dieses gottgleiche Wesen, die achte Inkarnation Vishnus, der Manifestation des Höchstem, Dreck gegessen haben soll. Beim Blick Yasodas, Mutter der Krishna, in deren Mund erblickt diese schockiert das Universum mit all seinen Bestandteilen, hervorgerufen durch Zeit, Natur und Bewußtsein. Im Christentum erzählt man sich die Geschichte des Gottessohnes Jesus, der auf Erden wandelt und die Sünden der Menschheit auf seine Schultern lastet. Es gibt viele solcher Geschichten aus den unterschiedlichsten Glaubensrichtungen – und genau hier setzt Regisseur Ang Lee mit seinem bildgewaltigen „Life of Pi“ an, möchte den Glauben an Etwas wieder aufbauen. Hinduismus, Christentum, Islam. Die Moral, die am Ende des neuesten Werkes des Filmemachers steht, der schon „Brokeback Mountain“ oder „Crouching Tiger, Hidden Dragon“ inszeniert hat, ist simpel und einfach: man soll an die Schönste von allen Geschichten glauben, sich nur nicht dem Unglauben hingeben.

Um die Romanverfilmung „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“ auf die Leinwand zu bringen, bedarf es gleich vier Hauptdarsteller, allesamt in der Rolle des Protagonisten Piscine Molitor Patel, einfach nur Pi genannt. Gautam Belur und Ayush Tandon spielen die jüngsten Inkarnationen, gefolgt von Suraj Sharma, der den größten Teil des Films übernimmt. Diesen drei Debütanten steht der indische Schauspieler Irrfan Khan gegenüber, der in Rückblicken von seinen Abenteuern mit dem bengalischen Tiger namens Richard Parker erzählt. Diese Geschichte, die er im Film Yann Martel (Rafe Spall), dem Autor der Literaturvorlage schildert, beginnt in den 1970er Jahren, wo Pi im indischen Pondicherry ein gutes Leben führt. Sein Vater besitzt dort einen angesehenen und farbenfrohen Zoo mit allerlei exotischen Tieren. Doch irgendwann beschließen seine Eltern eine Reise anzutreten: Die Familie möchte ins frankokanadische Kanada auswandern, wo sie sich ein besseres Leben ausmalen. Mitsamt den Tieren besteigen sie einen japanischen Frachter um auf dem Seeweg ihr Ziel anzusteuern. Doch sie sollen niemals ankommen. Ein fürchterlicher Sturm zwingt das Schiff in die Knie, es versinkt, mit Piscines Familie und den Tieren an Bord. Es gibt nur eine handvoll von Überlebenden: Pi, der Tiger Richard Parker, ein Orang-Utan, eine Hyäne und ein Zebra entkommen auf einem Rettungsboot dem Tod. Doch nun soll das eigentliche Abenteuer für die ungleichen Weggefährten erst beginnen.

Der erwachsene Piscine (Irrfan Khan) mit dem kanadischen Schriftsteller Yann Martell (Rafe Spall)

Der erwachsene Piscine (Irrfan Khan) mit dem kanadischen Schriftsteller Yann Martell (Rafe Spall)

Wo kommen nur immer diese indischen Naturtalente her? Ähnlich wie Danny Boyle 2008 Dev Patel ein markantes Debüt in „Slumdog Millionaire“ verschaffte, hat nun Ang Lee seinen Hauptdarsteller in Suraj Sharma gefunden, der vor einer noch größeren Aufgabe stand. Nicht nur hat er kaum jemanden mit dem er interagieren kann, er muss auch noch mit am Computer erzeugten Tieren schauspielern, so echt sie im fertigen Film auch aussehen mögen. Und dennoch macht er seine Sache nicht nur gut, sondern gar glänzend. Da ist diese anfängliche Begeisterung über die vielen Geschichten der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen, die er sich nur zu gerne anhört. Die Figuren die er kennenlernt, sei es Krishna oder Jesus, sie sind seine Superhelden, von denen er von seiner Mutter, von Gläubigen Vertretern der jeweiligen Religion oder gar tatsächlich aus Comics erfährt, die er spitzbübisch nachts mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke verschlingt. Aber auch die Verzweiflung auf hoher See, wenn Tränen fließen und der eigene Tod nicht mehr fern scheint, der Kampfeswille um das eigene Überleben, die Vorherrschaft auf dem Rettungsboot, wenn er sich gegen Richard Parker beweisen muss, wie auch die Freude über festen Landboden unter seinen Füßen – immer spiegelt sich die Gefühlsebene dieses Jugendlichen in seinen Augen wieder. Die Tricktechniker hinter „Life of Pi“ stehen dem Spiel von Sharma aber in nichts nach. Wirft man einen Blick auf Richard Parker, diesen bengalischen Tiger der animalisch gerne die Zähne fletscht und mit seinen Pranken nach Pi schlägt, dann wird man sich des öfteren dabei ertappen, wie man darüber nachdenkt ob dort gerade ein künstlich am Computer entstandener oder gar ein echter Tiger auf der Leinwand zu sehen ist. Das hungrige Funkeln in den Tigeraugen, das im Wind wehende Fell, die Schnurrbarthaare – alles wurde stimmig in Szene gesetzt.

Aber worüber man noch weitaus mehr ins Staunen geraten kann, sind die Bilder die Ang Lee – ganz gleich ob in 3D oder 2D – hier zum Leben erweckt. Die Kamera blickt von unter dem Wasserspiegel in den Himmel hinauf, es sieht aus als ob ein Mensch im Universum fliegt oder das Boot im Sternenhimmel schwimmt. Blickt die Kamera dann von oben hinab, spiegeln sich die Wolken auf der Wasseroberfläche und Pi findet sich im Himmel wieder. Dann ist da dieser Wal, der insofern Schaden anrichtet, dass er das kleine Floß fortschwemmt, auf dem Pi seine verbliebenen Vorräte verstaut hat, dafür aber in einer Masse von luminiszierenden Quallen für ein träumerisches Bildspektakel sorgt. Eine Gruppe von durch das Wasser tollenden Delphinen, ein Schwarm von fliegenden Fischen, eine ganze Insel voller Erdmännchen, die Schönheit tritt hier immer in Massen auf und weiß umso mehr zu überwältigen.

Pi Patel (Suraj Sharma)

Pi Patel (Suraj Sharma)

Überwältigend wird auch schon der Beginn von Piscines unfreiwilliger Reise inszeniert. Der Untergang des gigantischen Frachters mit all den Tieren und Menschen an Bord – darunter Nashörner, Giraffen und Gérard Depardieu als französischer Schiffskoch – gleicht dem Untergang der Titanic. Nicht so sehr in die filmische Länge gezogen, aber ähnlich spektakulär. Schon fast möchte man ins Träumen geraten, wenn der untergetauchte Pi vor dem Wrack schwimmt, dann muss man sich aber doch wieder der Traurigkeit und Bedeutung dieser Begebenheit hingeben – und sich von der eigenen Seekrankheit erholen, die zuvor durch die stürmischen Bilder hervorgerufen wurde. Die See schwankt, der Sturm tobt, der Regen peitscht um sich. Pi mag das anfangs gefallen, er steht an Deck und erlebt diese Naturgewalt, wird über das Schiff geschleudert und behält sich dennoch sein freudiges Lachen. Man selbst scheint direkt an seiner Seite zu sein, so sehr wird man hier in den Film hinein gezogen.

Dann gibt es in „Life of Pi“ aber auch noch die andere Geschichte. Diese wird von den verantwortlichen Behörden eingefordert, die nach dem Grund des Untergangs ihres Schiffsfrachters recherchieren. Diese mögen natürlich nicht an die phantastische Geschichte um den Jungen und einen Tiger glauben, an ein seltsames Band der Freundschaft, an Inseln die alles Leben fressen, an glückliche Fügungen, an das Unmögliche. Für diese Menschen hat Pi dann am Ende noch eine trockene Geschichte seines Erlebnisses auf Lager und unweigerlich mag sich der Zuschauer fragen, an was er denn glauben soll. Alles nur ein Hirngespinnst dieses indischen Jungen – leicht wäre es als Einbildung zu identifizieren, hat er doch so lange allein auf hoher See verbracht – oder stimmt es wirklich was er erzählt? Da fordert Ang Lee den Zuschauer heraus: An was mag man selbst wohl glauben?

Denis Sasse



Life Of Pi_Hauptplakat

“Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“

 

Originaltitel: Life of Pi
Altersfreigabe: ab 12 Jahren
Produktionsland, Jahr: USA, 2012
Länge: ca. 127 Minuten
Regie: Ang Lee
Darsteller: Suraj Sharma, Irrfan Khan, Ayush Tandon, Gautam Belur, Adil Hussain, Tabu, Rafe Spall, Gérard Depardieu

Deutschlandstart: 26. Dezember 2012
Offizielle Homepage: lifeofpimovie.com


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