Allzu oft sehen wir in den unbedachten Äußerungen oder Gesten anderer versteckte Angriffe auf unsere Persönlichkeit und vergeuden so wertvolle Lebenszeit. Ein Plädoyer für weniger Ich und mehr Gelassenheit.
Der widerlicher Angeber
Ein ganz normaler Mittwochmorgen: Gehetzt betrete ich das Bürogebäude, ein wichtiger Termin sitzt im Nacken. Im Gang begegnet mir der neue Kollege Meier, den ich noch nicht so richtig kennenlernen konnte. Betont fröhlich entbiete ich ihm einen Morgengruß, doch Meier bleibt betont stumm, schaut gelangweilt, vermeidet sogar bewusst den Blickkontakt und drückt sich abweisend an der Wand an mir vorbei. Was soll das denn bitte? Ist sich der neue Kollege zu fein mich morgens zu grüßen? Der hat doch schon vorgestern beim Essen in der Kantine so komisch geschaut, als ich von meinem Projekt und den vielen Problemen erzählt habe. Irgendwie hämisch hat er mich angestarrt, so als wollte er sagen: Du hast dich aber auch blöd angestellt in dieser Sache, das könnte mir niemals passieren! Dieser eingebildete Meier hält sich wohl für etwas Besseres, nur weil er in London studiert und ein Praktikum in Australien gemacht hat. So ein widerlicher Angeber, den werde ich nie wieder grüßen!
Gefährliche Gedankenspiralen
Diese aus dem Leben gegriffene Geschichte zeigt, wie sich kleine und oft unbedachte Gesten anderer in der eigenen Phantasie verselbständigen können und zu immer größeren Ärgernissen aufblähen. Vielleicht war Kollege Meier selbst gerade so sehr in seine Gedanken über eine komplexe Entscheidung vertieft, dass er den Morgengruß einfach ausgeblendet hat. Möglicherweise hat der neue Kollege eine angeborene Schwerhörigkeit, von der noch niemand etwas weiß, und er konnte den Gruß deshalb akustisch nicht wahrnehmen. Oder Herr Meier hat gerade erfahren, dass seine Tochter sich in der Schule verletzt hat und er wägt ab, ob er sofort hinfahren soll.
Fakt ist: Nur sehr wenige Personen wollen ihren Mitmenschen wirklich etwas Böses. Kein gesunder Mensch hat Freude daran andere mit Worten zu verletzten, zu demütigen oder bloßzustellen. Die meisten Menschen in unserem Lebensumfeld, im Beruf, im Freundeskreis in der Familie, sind nicht bösartig, sondern oft gedankenlos und auf ihr eigenes Leben, ihre eigenen Ziele und ihre eigene Lebenssituation konzentriert.
Zeitkiller Ich-Bezogenheit
Auch wir sind da keine Ausnahme und stellen jeden neuen Tag unsere ureigenen Ziele in den Fokus unseres Denkens und Handelns. So ist es kein Wunder, dass wir versuchen in dem Verhalten, der Sprache, den Gesten, den Witzen oder den Blicken unserer Mitmenschen offene oder versteckte Kommentare über unsere Persönlichkeit zu finden. Wie in Falcos Song “Egoist“ meinen wir überall Stimmen zu hören, die unentwegt fragen: „Was kann er denn, was macht er denn, was red er denn, wer glaubt er, dass er ist?“ Gerade in schwierigen Lebenssituationen, wie nach dem Verlust des Jobs oder der Trennung vom Lebenspartner, wittern wir hinter jeder Ecke Häme und Schmach. Ewig lange legen wir uns Sätze zurecht, die wir schlagfertig auf diese Angriffe antworten können – doch niemand will diese von uns hören.
Fazit für den Gentleman
Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, über eigene Fehler lachen zu können ist ein wichtiges Element eines Lebens als Gentleman. Zusätzlich spart eine geringe Fixierung auf das Ich wertvolle Lebenszeit ein. Bedenken Sie wofür die Zeit, in der man langatmig darüber nachgrübelt, was das Gegenüber hintergründig gemeint hat, alternativ genutzt werden könnte: spannende Gespräche, interessante Bücher, lange Spaziergänge in der Natur oder eine gute Partie Schach mit Freunden.