“Junge Welt”, 09.01.2012
Zwergenaufstand gegen IWF und EU: Budapest verärgert potentielle Geldgeber und pokert zugleich um neue Kredite
Ungarn taumelt erneut am Rand eines Staatsbankrotts. Die sich rapide verschlechternde Haushaltslage ließ die ungarische Währung, den Forint, Mitte vergangener Woche auf einen neuen historischen Tiefstand gegenüber dem Euro absacken. Für einen Euro mußten 319,8 Forint hingelegt werden – im Dezember waren es noch knapp 300, vor rund vier Monaten kostete ein Euro sogar nur 270 Forint. Dieser Verfall ließ den schweizerischen Bankkonzern UBS Anfang Januar öffentlich vor einer drohenden Staatspleite des hochverschuldeten mitteleuropäischen Landes warnen.
Die vorerst letzten Verkaufsversuche ungarischer Schuldverschreibungen verliefen desaströs. Im Dezember mußte Budapest eine Auktion dreijähriger Staatsanleihen wegen mangelnder Nachfrage absagen, während zehnjährige Papiere inzwischen zu astronomisch hohen Zinsen von mehr als zehn Prozent gehandelt werden. Diese dramatische Lage am Anleihemarkt ist für Ungarns Regierung selbst mittelfristig unhaltbar. Mit inzwischen 82 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP – Gesamtwert aller pro Jahr produzierten Waren und Dienstleistungen) weist Ungarn die höchste Staatsverschuldung aller östlichen EU-Länder auf. Noch zu Beginn des dritten Quartals 2011 hatte diese Quote »nur« bei 75 Prozent des BIP gelegen.
Konfrontationskurs
Die Eskalation der Krise ist auch dem Verfall des Forint geschuldet, denn Ungarn ist gezwungen, sich im Ausland zu verschulden. In diesem Jahr werden alleine gegenüber der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) Verbindlichkeiten von rund 4,3 Milliarden Euro fällig. Dabei handelt es sich um die Refinanzierung der Krisenkredite, mit denen das Land bereits 2008 vor dem Bankrott bewahrt werden mußte. Damals erhielt Budapest von EU und IWF rund 20 Milliarden Euro, mußte im Gegenzug drakonische Sparmaßnahmen durchführen, die einen Einbruch der Wirtschaft verursachten.
Die 2010 an die Macht gelangte nationalistische Regierung um Premier Viktor Orbán ging dann auf Konfrontationskurs zum IWF. Mittels zusätzlicher Bank-, höherer Konsum- und Sonderabgaben für westliche Konzerne – sowie einer Renationalisierung des teilprivatisierten Rentensystems – hofften die Parteigänger Orbáns, genügend Finanzmittel mobilisieren zu können, um den Haushalt erfolgreich zu sanieren. Das Scheitern dieses neoliberalen Wirtschaftsnationalismus, der den Ungarn die europaweit höchste Mehrwertsteuerrate von 27 Prozent einbrachte, offenbarte sich bereits am 18. November. Da sah sich die Regierung gezwungen, den verhaßten IWF erneut um Krisenkredite zu ersuchen.
Doch die offiziellen Verhandlungen zwischen Budapest, IWF und EU sind ergebnislos abgebrochen worden. Das trug zur weiteren Verschärfung der Lage in Ungarn – und auch im gesamten europäischen Finanzsektor – bei. Hintergrund der Eiszeit zwischen Budapest auf der einen, Brüssel und Washington auf der anderen Seite sind die Versuche der ungarischen Regierung, die Kontrolle über die »unabhängige« Notenbank des Landes zu erlangen. Die war zuletzt mit einer Leitzinserhöhung auf Konfrontationskurs zum Kabinett Orbán gegangen, das Zinssenkungen favorisiert hatte. Die EU-Bürokratie hatte lange Zeit beide Augen geschlossen, als Ungarns Regierung die Aushöhlung bürgerlicher demokratischer Mindeststandards betrieb. Nachdem ein neues Zentralbankgesetz dem Regime Orbáns jedoch weitreichende Mitspracherechte bei der Geldpolitik einräumte, zogen EU und IWF die Daumenschrauben an: Die Gespräche über erneute Krisenkredite wurden abrupt abgebrochen. In öffentlichen Schreiben forderte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso das Kabinett Orbán auf, »konstruktiv zu werden« und »jede Eskalation zu vermeiden«.
Verhandlungen erzwungen
Angesichts leerer Staatskassen und aufflackernder Proteste gegen die autoritäre Transformation in Ungarn scheint Budapest inzwischen bereit, teilweise einzulenken. Der Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei Fidesz, János Lázár, erklärte in einem Fernsehinterview, daß Ungarn zu »Konzessionen« bei den Verhandlungen mit dem Währungsfonds bereit sei. Bislang hatte man sich geweigert, im Gegenzug für Kredite des IWF dessen Politikvorgaben – die gewöhnlich aus drakonischen Kürzungsauflagen bestehen – zu akzeptieren. Zugleich hieß es zuletzt aus Budapest, daß man bereit sei, die »Empfehlungen der Europäischen Zentralbank« in das ungarische Zentralbankgesetz einzubringen. Orbáns Verhandlungsposition ist aber nicht gänzlich aussichtslos, da ein unkontrollierter Staatsbankrott auch den ohnehin angeschlagenen westeuropäischen Finanzsektor in Mitleidenschaft ziehen würde. Vor allem österreichische Finanzhäuser sind auf dem ungarischen Markt stark exponiert, der ohnehin fast ausschließlich in westlicher Hand ist. Die EU hat somit ein vitales Interesse an der Entschärfung der Lage.
Zu den Verlierern dieser Auseinandersetzungen werden die Lohnabhängigen Ungarns gehören, die in jedem Fall die Hauptlast der kapitalistischen Systemkrise tragen: Sowohl aufgrund neuer, von EU und IWF geforderter »Sparprogramme« als auch im Gefolge des Wirtschaftseinbruchs, der beim Scheitern eines Kreditprogramms zu erwarten ist. Der bornierte wirtschaftliche Nationalismus Orbáns, der Ungarns ökonomische Souveränität wiederherstellen sollte, ist bereits jetzt gescheitert.