Under Gottsunda

Erstellt am 1. Dezember 2014 von Pressplay Magazin @pressplayAT

Im Heile-Welt-Idyll Schweden brannten wiederholt die Vorstädte. Eine Doku begibt sich nun auf Spurensuche und lässt sozial vernachlässigte Jugendliche ihre eigene Geschichte erzählen.

Die Risse an der Oberfläche sind erst kaum zu erkennen. Unter der friedlichen Sonne eines Sommertages schleichen sich nach und nach Irritationen ein. Die Musik stottert, jugendlicher Spieltrieb wird konterkariert mit Übermut, Zerstörung und Zerfall. Die Wunden der Stadt sind dezent in die Eröffnungssequenz verwoben. In Gottsunda, wie auch in anderen sozial schwachen Randbezirken von Stockholm, kam es wiederholt zu Krawallen, bei denen Randalierer Autos anzündeten. Der schwedische Autor Viktor Johansson nimmt dies zum Anlass, in seiner ersten Regiearbeit von den Leerstellen einer Welt zu erzählen, in der nicht nur die Autos, sondern vor allem die Bewohner ausgebrannt sind.

Unter Gottsunda brodelt es. Der Wunsch zu verschwinden lässt den Untergrund als Sehnsuchtsort erscheinen. Im Gegensatz zu Alice eröffnet sich hier jedoch kein Wunderland – die Abenteuer sind ganz profaner Natur, und dennoch entrückt von einer soliden Wirklichkeit. Es ist eine Dokumentation der Vernachlässigung von Jugendlichen, die nicht nur von ihren Eltern, sondern dem gesamten sozialen Umfeld aufgegeben oder schlichtweg vergessen wurden. Sie beklagen das Dilemma, dass die Polizei zwar ständig Befragungen durchführen würde, aber niemand je wirklich zuhöre. „Everyone’s a fucking Rockefeller, behaving like a prick.

Der Film ist aus dem Sozialprojekt Gottsunda Stories entstanden, bei dem Johansson unterrichtet hat. Die Teenager konnten die einseitige Mediendarstellung der Krawalle in Schweden durch ihre eigene Erfahrung zurechtrücken. Die Skepsis gegenüber der Mehrheitsgesellschaft wird anhand von Initiationsriten oder abwegigen Hobbies spürbar. In ihrer Perspektivlosigkeit übt sich eine Familie von Aussätzigen etwa in der russischen Kampfkunst Systema. Palästinensische Flüchtlinge, die Steinschleudern basteln, erzählen von den Verstörungen, die Kriege und Entfremdung hinterlassen. Mithilfe des Soundtracks aus abgehackten Versatzstücken, gedehntem Brüllen oder süß-klingenden Melodien entsteht eine Parallelmontage von Erinnerungen, Träumen und Realität(en).

Johansson erzählt in exemplarischen Bildern von Abwegen und Umwegen. Ein einzelner Fahrradreifen bewegt sich verloren durch die Landschaft. Longboards, die eine lange ersehnte Bewegungsfreiheit einräumen, rollen durch das Bild. Die eindrückliche Bildsprache erzeugt ein Kaleidoskop von Verzerrungen, erzählt von Menschen, die sich an diesem Ort nicht entfalten können. Die Ästhetik der ständigen Bewegung erinnert an Gus Van Sants Paranoid Park; die immanente Hoffnungslosigkeit lässt die Schicksale der gestrandeten, sich selbst überlassenen Protagonisten aus der Filmlandschaft Kelly Reichardts anklingen. Der Film ist die logische Fortsetzung einer ganz grundsätzlichen Voraussetzung gemeinschaftlichen Zusammenlebens: sich auf einen Dialog einzulassen. So ausschnittartig und polarisierend wie auch das Gefüge der dargestellten Welt zu sein scheint.

Life is a bitch, but sweet.“ – Für alle Interessierten: die Dokumentation des Projekts findet man online unter http://eng.gottsunda.com/

Regie und Drehbuch: Viktor Johansson
Darsteller: Kerim Ashkar, Ibrahim Farran, Vanco Nakev, Lovisa Justusson Lahti
Filmlänge: 73 Minuten, VOD-Premiere: 01. Dezember 2014
https://vimeo.com/ondemand/24321

Kritik von Susanne Peter