... und sind so klug als wie zuvor

Wie mittelalterlich geprägte Unfreie in der sich formierenden Frührenaissance benehmen wir uns. Lauschen den Berichten, die uns Abenteurer aus der Neuen Welt vermitteln und staunen bass darüber. Kopfschüttelnd meist, manchmal ratlos. Denn es sind Meldungen über Wilde, über Gesellschaften, die wir als primitiv erachten. Wie einst unsere Ahnen sitzen wir in der Stube, horchen dem, was uns jemand erzählt, was der erzählt bekam von einem, der es erzählt bekam von jemanden, der einem echten Seefahrer begegnet war. Heute übernehmen diese vermittelnde Funktion meist Journalisten.
Damals horchten sie den Geschichten von dunklen, gegerbten Männern, die in ihrer Wildheit jede Kulturleistung versagten - sie spitzten tollkühnen Märchen von Gemeinwesen, die keine Struktur, keine Organisation kannten, in denen die ungezügelte Sittenlosigkeit täglich vorstellig wurde - sie vernahmen Erzählungen von brachialen Riten und brutalen Traditionen. Es waren Reiseberichte über Menschen - dessen war man sich bewusst. Schon 1537 wurden sie in einer Bulle Papst Pauls III. als veros homines bezeichnet. Sie wurden als Menschen erkannt. Und exakt dieser Umstand machte die Geschichten ja so spannend, so bestürzend und zu einem fast schon boulevardesken Ringelreigen. Wie konnte man als Mensch nur so leben?

Es waren Geschichten aus einer fernen Welt. Einer Welt, die der Europäer nicht kannte, die man ihm als Erzählung darbrachte. Mit dem Kommunikationsmittel jener Zeit - und das war nun mal hauptsächlich die mündlich überlieferte Erzählung. Aus fernen Welten bekommen wir noch heute Geschichten von Wilden ohne Kultur, ohne sittliches Gemeinwesen vorgesetzt. Damals kamen sie aus der Neuen Welt - heute kommen sie aus dem Mittleren Osten. Früher Indianer - heute Muslime. Einst vermengte man Kariben mit Azteken mit Algonkin - heute sind Sunniten und Ismailiten und Wahhabiten derselbe Brei. Es gibt keine Unterscheidung, nur die eine Gemeinsamkeit: als Schauermärchen fungieren zu dürfen.

"Seit drei oder vier Jahrhunderten haben die Einwohner von Europa alle übrigen Teile der Welt zu überschwemmen angefangen und immer neue Sammlungen von Reisebeschreibungen und Reisegeschichten herausgegeben. Dennoch, glaube ich, sind uns keine anderen Menschen bekannt als die Europäer. Ja, die lächerlichen Vorurteile, die sogar bei gelehrten Leuten nicht selten gefunden werden, daß fast jeder mit der Prahlerei, den Menschen zu studieren, nichts mehr als seine Landsleute studiert", schreibt Rousseau in seiner Preisschrift "Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen". Es ist die zungenfertige Erklärung für das, was wir heute Eurozentrismus nennen.
Schauermärchen erzeugen gegenteilige Radikalismen. Rousseau hat einen solche fabriziert. Die Legende des bon sauvage, des edlen Wilden, an der heute noch mancher Naturalist und Wurzelsepp ideologisch festpappt. Doch das ist ein Irrtum, wie auch die Gegenseite an Irrtümlichkeit litt. Bessere Gesellschaft, schlechtere Gesellschaft - Ethnologie ist keine Morallehre. Und Moral ist stets die Essenz sozio-ökonomischer Gegebenheiten; Moral und/oder Religion ist der geistige Überbau hierzu. Gleichwohl hat das Entgegensetzen gegen den schadhaften Radikalismus des Schaudernmachens, indem man ein allgemeines Lob entwirft, durchaus seine Berechtigung. Tacitus hat schon den Römern ein verklärtes Germanenbild geschenkt.
Die Grundlage der Unterjochung der "Wilden" war der Schauder. Für kategorische Imperative war da kein Platz mehr. Wer gegen die rohe Wildheit, gegen Gesellschaften ohne sittliche Grundtendenzen und archaische Ritenpflege zu Felde zieht, benötigte vermutlich keinen humanistischen Ansatz. Nur aus der Ferne wurden die Konquistatoren kritisiert - Leute wie Martyr, Las Casas oder Oviedo äußerten sich kritisch gegen die Machenschaften der Eroberer. Was unter letzteren natürlich nicht wohl gelitten war. Schreibtischgelehrte können leicht kritisch sein, schimpften sie beim Konquistatoren-Treff in Hispaniola, die Klugscheißer wüssten nicht, wie es in der Neuen Welt wirklich sei, wieviel Angst man erleiden müsse, dieser teuflischen Fremdheit so nahe zu sein. Wie ähnlich sie uns waren - damals in der Neuen Welt; heute sind sie in Afghanistan, im Irak.
Damals kramten die Konquistatoren beim Erstkontakt ein Schriftstück hervor. Requerimiento, Mahnung also, nannte sich das. Man verlas es ohne Dolmetsch. Die "Mitteilung" an die Indianer war, dass sie nun Untertanen der spanischen Krone und des Papstes seien - Unbotmäßigkeit würde grausam bestraft. Der Kolonialhistoriker Friederici zum requerimiento: "Auf das Seltsam-Lächerliche und Erstaunlich-Törichte dieses Manifestes Leuten gegenüber, die man zum ersten Male sah, mit denen man sich gegenseitig in keiner Weise verständigen konnte und die keinerlei Gefühl oder Ahnung von des andern Weltanschauung und Gedankengang hatten, braucht nur hingewiesen werden." Wie ähnlich wir uns waren - auch wir haben unsere requerimientos. Auch wir verlesen Schriftstücke ohne auch nur zu ahnen, wie "des andern Weltanschauung und Gedankengang" gestrickt ist, woher er geistesgeschichtlich kommt, welche Prämissen die dortige Zivilisation aufweist. Ein Stück westliche Welt für alle Weltregionen - wie damals, als ein Stück Spanien und Katholizismus, später dann auch ein Stück England oder Holland und Protestantismus für die Welt geplant war.
Fortschritte haben wir zweifelsohne gemacht. Briefe benötigen keine Wochen mehr in die "Zivilisation" - wir haben sogar Bilder, die direkt aus den Landen der Fremdheit zu uns kommen - und wir hören deren Stimmen, wenn wir sie mal zur Sprache kommen lassen. Technische Fortschritt - intellektuelle wenige. Wir sitzen wie mittelalterliche Gestalten vor unserer Technik, lauschen und spähen - und orakeln. Wir sind so klug als wie zuvor - und das technisch besser ausgestattet. Fortschritt ist vermutlich nur, die ständig gärende intellektuelle Rückständigkeit technologisch zu modernisieren...
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