Und plötzlich war Krieg

Warum syrische Flüchtlinge im Libanon Bargeld erhalten und was sie sich damit leisten können.
Chouf, eine kleine Stadt im Norden des Libanons. Es schüttet in Strömen, der Regen plätschert in unregelmäßigem Rhythmus auf die Plane des Zeltes, in dem rund fünfzig syrische Flüchtlinge auf Plastikstühlen sitzen und einem jungen Mann zuhören. Ali Sandeed trägt eine Jeans und einen roten Pulli, aus dem ein weißer Kragen hervorschaut.

An die Wand hinter ihm ist das Foto eines Geldautomaten projiziert. Er erklärt seinen Zuhörern Schritt für Schritt, wo und wie man mit einer EC-Karte Geld abheben kann. Der 27-Jährige ist studierter Bauingenieur und hat einige Jahre in Dubai und auf Zypern gearbeitet. Dann brach der Krieg aus, sein Visum in Zypern wurde nicht verlängert. Nach Syrien, in seine Heimat, konnte er nicht mehr zurück. Er weiß, wie es ist, alles zu verlieren.

„Du hast Geld, du hast einen guten Job. Dann hast du plötzlich gar nichts mehr.“

care.de

Zwanzig Minuten später beendet Ali seine Präsentation und geleitet die Flüchtlinge in den nächsten Raum, in dem sie darauf warten, ihr Bargeld zu erhalten. Als die „34“  aufgerufen wird, steht eine alte Dame mit krummem Rücken und vom Wetter gegerbten Gesicht auf. Sie heißt Basilah, ist 62 Jahre alt und kommt aus Idlib, im Nordwesten Syriens. Sie nimmt an einem runden hölzernen Tisch Platz, an dem ein Kollege von Ali ihr eine EC-Karte überreicht. Kurz wiederholt er noch mal, was Ali in seiner Präsentation vorgetragen hat: dass sie ihren PIN-Code niemandem sagen soll, wie sie die Karte nutzen und dass sie das Geld an jedem Automaten abheben kann. Er erklärt, an wen sie sich wenden kann, wenn sie weitere Hilfe braucht. Er  überreicht Basilah einen Zettel, auf dem alles zusammengetragen und mit Fotos veranschaulicht ist. Es ist nur ein Stück Plastik, glattes Material, weiße Farbe, ein goldener Magnetstreifen. Aber Basilah hält die EC-Karte wie einen Schatz in ihren knochigen, faltigen Händen. Sie streift mit ihren Fingerspitzen über die Ecken und streichelt die glatte Fläche mit ihren weichen Kuppen

Und plötzlich war Krieg

In Syrien hat sie mit ihrem Mann zusammen Felder bewirtschaftet – Weizen im Sommer und Mandeln im Winter. Dann begann der Krieg. Und das Leben, das sie kannte und liebte, nahm ein jähes Ende. 25 Jahre lang hatte sie ihr Haus aufgebaut – Stein für Stein. Fünf Raketen und ein paar Minuten brauchte es, alles zu zerstören. Die letzten Monate hat Basilah in einem aus Planen und Stöcken zusammengezimmerten Zelt verbracht, in dem sie sich um ihre Enkel kümmert, während ihr Sohn versucht, Arbeit zu finden.

„Den Sommer zu überleben war schon schwierig. Aber jetzt wache ich jede Nacht auf und schaue nach meinen Enkeln. Wenn sie sich nicht direkt bewegen, werde ich panisch. Ich habe Angst, dass sie erfroren sein könnten.“

Mehr als drei Millionen Menschen aus Syrien sind inzwischen offiziell bei den Vereinten Nationen als Flüchtlinge registriert. Laut Schätzungen sind es insgesamt bereits mehr als 4,5 Millionen Menschen, die vor Krieg und Gewalt aus ihrer Heimat in Nachbarländer wie den Libanon, Jordanien oder die Türkei geflohen sind. Allein im Libanon, einem kleinen Land mit vier Millionen Einwohnern, leben über eine Million syrische Flüchtlinge. Das wäre so, als ob alle Einwohner der Niederlande und alle Bürger der Städte Zürich und Wien – rund zwanzig Millionen Menschen – nach Deutschland fliehen würden. Wie Basilah haben die meisten Syrer alles verloren. Ihre Häuser sind niedergebrannt, ihr Hab und Gut liegt in Schutt und Asche, sie haben ihre Arbeit verloren, häufig auch Familienangehörige und nach fast vier Jahren Flucht sind alle Ersparnisse aufgebraucht.

„Wir sind in den Libanon gekommen mit nichts als der Kleidung, die wir während der Flucht im Hochsommer trugen“, erzählt Basilah. „Meine Enkel haben keine Socken, keinen Pullover, keine warmen Jacken. Wir versuchen, einander warmzuhalten. Aber wir kommen nicht gegen den Schnee und den Hagel an.“

Basilahs Mann wurde im Krieg verletzt und ist krank, der Boden ihrer Unterkunft kalt und es gibt keine Fenster. Die Kälte macht ihre Arthritis und ihr Rheuma noch schmerzhafter. Wo sich Basilahsandere sechs Kinder aufhalten, weiß sie nicht.

„Irgendwo in Syrien. Ich weiß nicht, ob sie noch leben.“

Mit der EC-Karte, die sie von CARE erhalten hat, kann die Syrerin vier Monate lang jeden Monat umgerechnet rund 120 Euro abheben. Davon will sie warme Kleidung, Heizöl und Wolldecken kaufen, Medikamente für ihren kranken Sohn und sich selbst sowie Nahrungsmittel. Es ist nicht viel Geld, aber es macht für Basilah einen großen Unterschied. Es ist Geld, das Familien nicht tiefer in die Armut abrutschen lassen soll. Geld, das verhindert, dass Mädchen zwangsverheiratet werden, Kinder arbeiten, Mütter sich prostituieren oder wichtige medizinische Behandlungen nicht bezahlt und Kinder sterben müssen. Dass Familien nicht von einem Tag auf den anderen ihr Dach über dem Kopf verlieren und auf der Straße leben müssen. Es ist Geld für Notfälle. Wer Geldkarten und damit finanzielle Unterstützung bekommt, wird anhand eines strengen Kriterienkatalogs festgestellt. CARE erhält von den Vereinten Nationen und den Gastgemeinden Listen mit den Namen von besonders armen Familien. Helfer besuchen sie in ihren Zelten, in alten Fabrikgebäuden, in ihren Zimmern mit schimmligen Wänden, in denen sie mit manchmal mehr als 20 Personen unterkommen. Die Hilfe erreicht besonders bedürftige Familien. Dazu zählen vor allem Frauen, die allein mit ihren Kindern fliehen mussten, sowie behinderte, verwundete, ältere oder kranke Menschen. Fast alle Familien benötigen dringend Unterstützung. Aber das Geld, das von der internationalen Gemeinschaft für die Hilfe zur Verfügung gestellt wird, reicht nicht. Momentan erhalten nur rund 3 Prozent der ärmsten 25 Prozent aller Flüchtlinge im Libanon finanzielle Unterstützung. Etwa 70 Prozent bekommen Essensgutscheine von den Vereinten Nationen: 22 Euro pro Monat pro Person. Basilah sagt, dass das hinten und vorne nicht reicht in einem Land, in dem Lebensmittel, wie Mehl, Salz und Zucker im Durchschnitt etwa so viel kosten wie in Deutschland.

Am Freitag hier auf FrauenBlog lesen: ” Basilahs Angst vor dem Winter”

 Beitrag von Johanna Mitscherlich, care.de, Referentin für Medien und Kommunikation

Aus: care_affair  / care.de


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