Sie sitzt in einem blauen Nachthemd in einem vergitterten Bett. Die Decke an die Brust gezogen, den Blick angstvoll und misstrauisch ins Publikum gerichtet, das nach und nach Platz nimmt. Nichts deutet darauf hin, dass die junge Frau eine Königstochter ist. Nichts, dass sie die Fähigkeit hat, in die Zukunft zu sehen. Langsam beginnt sie zu sinnieren. Dass die Trümmer von Troja das Letzte sind, das sie in diesem Leben sieht, stellt sie emotionslos fest. Und nach und nach gleitet sie in einen Erinnerungsvorgang, an dem sie das Publikum teilhaben lässt.
Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“ bildet die Grundlage zum gleichnamigen Theaterstück, in dem Katharina Haudum mit starker Präsenz nicht nur in die Rolle der trojanischen Seherin schlüpft. Sie verkörpert zugleich einige wichtige Nebenrollen, indem sie diese mit stimmlich unterschiedlichen Attitüden ausstattet. Allen voran Priamos, den König,ihren Vater. Mit exaltierter Fistelstimme, seiner Familie und dem Volk entfremdet, macht er zu Beginn alles lächerlich, was Kassandra als Mahnungen ausspricht. Im Laufe des Abends schraubt er seine Eskalation so weit nach oben, dass am Ende seiner Zurechtweisungen keine Fistelstimme mehr steht. Vielmehr ein aus tiefster Seele hasserfüllt herausgeschleuderter Befehl, seine Tochter festzunehmen und wegzubringen. Seinen Gegner Achill, den Kassandra als Vieh bezeichnet, färbt Haudum mit lautem Timbre und rüdem Sprachauswurf. Er, der Bezwinger der Stadt, soll unter Zuhilfenahme einer List den Tod finden. Kassandra lehnt sich dagegen mit aller Wucht auf, vor allem, weil ihre Schwester dabei ungefragt als Beute herhalten muss. Dieser Widerstand wird ihr zum Verhängnis.
Katharina Haudum hat Wolfs Erzählung von den Nebenschauplätzen gereinigt und erscheint als eine reflektierte, wenngleich zeitweise dem Wahnsinn anheim fallende, aber dennoch starke Persönlichkeit. Durch das Nachdenken über ihr Schicksal im vergitterten Bett, durch die extreme räumliche Einschränkung, die auch schauspielerisch eine große Herausforderung ist, gelingt es ihr schließlich, das eigene Schicksal nicht zu verfluchen, sondern anzunehmen.
David Stöhr, der Regie führte, Kommilitone von Haudum aus dem Fach Regie, ist selbst ausgebildeter Psychologe und mit den Untiefen der menschlichen Seele wohl vertraut. Er regte den beschränkten Aktionsraum an, in welchem Haudums Kassandra in ungezählten emotionalen Facetten agiert. Ängstlich, verstockt, verstört, aufmuckend, flehend, resigniert aber auch romantisch verliebt in jenen Momenten, in welchen sie sich an ihre Stunden mit Aineias erinnert.
Die Max Reinhardt Absolventin hat diesen Text ursprünglich als Diplomarbeit vorgetragen. Im Brick 5, im Rahmen der Reihe „FensterNachMorgen“ des Salon5, präsentierte sie ihn in szenisch veränderter Fassung. Christa Wolfs Text dient Haudum als eine Art Vehikel. Erlaubt er doch der jungen Schauspielerin, ihre persönliche Stärke, die man auch im privaten Gespräch sofort spürt, ungebremst auf die Bühne zu transportieren. Klein beigeben – das ist weder Kassandras Ding, noch scheint es Haudums Charakter zu entsprechen. Und so spielt sie nicht die personifizierte antike Emanze, ausgestattet mit einem scharfen Intellekt und einer analytischen Fähigkeit, die menschlichen Schwächen aber auch Beziehungen zu erfassen. Sie ist Kassandra in jedem einzelnen Moment. Diese trägt keine Schuld an ihrem Schicksal. Vielmehr ist es der göttliche Fluch Appolos, den sie verschmähte und der ihren Weissagungen den Fluch auferlegte, kein Gehör zu finden. Aber nicht zuletzt auch die patriarchalischen Machtverhältnisse, die es nicht zulassen, dass die Hellsichtige schließlich einen gebührenden Platz in der Gesellschaft findet.
Dennoch ist in Haudums Interpretation Kassandra in keiner Sekunde fremdbestimmt. Wenn ihr etwas im Wege steht, dann nur ihr eigener Geist, aber selbst diesen weiß sie zu überlisten. Sogar dem Tod, den sie ins Auge blickt, begegnet sie mit einer unglaublichen Stärke und einem selbstindizierten Trost. Eine starke Performance, die Schauspielerin und Publikum gleichermaßen forderte und gerade deswegen einen bleibenden Eindruck hinterließ.