Von Jürgen Voß
Nach langer Zeit habe ich mal wieder einen kleinen Leserbrief an die Hüterin des neoliberalen Grals, die Süddeutsche Zeitung, geschickt. Der Vollständigkeit halber sei er hier abgedruckt:
Zu „Generation 50 plus“ in SZ v. 18/19. DezemberDagmar Deckstein, seit Jahren eine der führenden Protagonistinnen des neoliberalen Systemwechsels, legt in Zusammenarbeit mit ihren beiden Kolleginnen ín Sachen „Rente mit 67“, die allen Fakten zum Trotz längst beschlossen ist, noch einmal affirmativ nach (warum eigentlich, die Schlacht ist doch geschlagen?) und dies in völliger Verkennung ihres journalistischen Auftrags mit geradezu peinlicher Verbeugung vor regierungsamtlichen Argumenten, die trotz mannigfaltiger Wiederholung auch nicht richtiger werden.
Frau van der Leyen, deren Zahlen das Autorengespann hier unkritisch referiert, hat sich des Kunstgriffs „Erwerbstätigenquote“ bedient, um die Rente mit 67 zu rechtfertigen. Selbst bei dieser völlig unzulässigen Methode (mitgezählt wurden Beamte (!), Selbstständige, mithelfende Familienangehörige und Minijobber (!!)) musste die Ministerin eingestehen, das 60 % der 60-64-jährigen gar nicht mehr beschäftigt sind. Der einzige seriöse Indikator, die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten, wurde natürlich nicht benutzt, weil die Ergebnisse katastrophal gewesen wären. Im März 2010 waren nur noch 24,5 % der 60-64jährigen vollzeitbeschäftigt, bei den 64 jährigen selbst waren es nur noch 8,6%. Mit anderen Worten: Fast 92% der Menschen, die in Rente gehen, tun dies vorzeitig: aus einer (Alters-) Teilzeitbeschäftigung, oder, das ist der häufigste Fall, aus der Arbeitslosigkeit heraus.
Umrahmt wird die Mär von der Unausweichlichkeit der Rente mit 67 wie üblich durch den bekannten Katalog von Beschwörungen und Beteuerungen, dass sich schon bald alles ändern wird und die „Alten“ umworben sein werden wie nie zuvor. Als Beweis dienen, neben eindrucksvollen Einzelbeispielen (nach denen man wohl lange gesucht hat), wie üblich der Rückgriff auf den demografischen Wandel (wozu der alles herhalten muss!) und den Fachkräftemangel (den vor allem die arbeitslosen Fachkräfte täglich spüren!) sowie die Berufung auf die so genannten Experten, die wie Thomas Straubhaar natürlich nur rein zufällig aus dem neoliberalen Kernlager kommen.
Es ist geradezu unglaublich, mit welcher Chuzpe die Wirtschaftsredakteure der SZ an ihrem kruden Weltbild gegen alle Fakten und alle Empirie festhalten, wo sie doch gerade miterleben müssen, wie das Dogma von der unbeschränkten Effizienz der Märkte ein Desaster nach dem anderen produziert.
Im Vordergrund steht also gar nicht die Frage, warum der gesamte journalistische Mainstream die Rente mit 67 lauthals begrüßt und es eine ergebnisoffene Diskussion gar nicht gegeben hat (dies war sogar dem Moderator einer der typischen sonntäglichen Laberrunden so peinlich, dass er sich entschuldigen musste, keinen Gegner der Rente mit 67 gefunden zu haben!), sondern die Grundfrage, warum das Totaldesaster, das der neoliberale Wahn auf den Finanzmärkten (und nicht nur da) angerichtet hat, offensichtlich weder bei unseren politischen „Eliten“, noch in der herrschenden ökonomischen Lehre und schon gar nicht bei der Nachplapperjournaille, so wie sie sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte herausgebildet hat, nur eine Sekunde der Besinnung und des Nachdenkens ausgelöst hat.
Doch einen überzeugten Neoliberalen ficht das offensichtlich alles nicht an.
Unbeeindruckt von jeglicher Plausibilität der Gegenargumente flötet er das Lied von den schrecklichen Folgen des demographischen Wandels (als wenn uns eine demographische Entlastung des Arbeitsmarktes nicht sehr zu Paß käme!), dem drohenden Fachkräftemangel (als relativ neue Melodie) und der Notwendigkeit eines längeren Arbeitslebens wie einen Gassenhauer weiter vor sich hin. Für ihn steht die Finanzkrise isoliert da. Sie ist nicht die unausweichliche Folge seines Weltbildes, mehr noch: Damit hat er nichts zu tun. Das Spekulanten- und Zockerunwesen, die künstlich aufgeblähten Immobilienmärkte und die nicht in den Griff zu kriegenden Banken – klar: alles Probleme, die international gelöst werden müssen. Aber sie als Anlass zu nehmen, sein Weltbild zu überprüfen – warum? Er denkt und sagt: „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und müssen sie weitermachen: Die zu teuren und nicht mehr finanzierbaren sozialen Sicherungssysteme, der immer noch zu unflexible Arbeitsmarkt, das komplizierte Steuerrecht und die zu hohe Steuerbelastung, diese Probleme bleiben auf der Agenda“.
Der Neoliberale hält es eben mit Karl Valentin: Die Realität? Gar nicht erst ignorieren!Offensichtlich kann da nur noch die Psychoanalyse, also die Couch, weiterhelfen! Denn was sollte da noch kommen, um das neoliberale Weltbild zu erschüttern? Erst ein Krieg?