“Unbehagen in der Kultur” – Leidensschutz und Leidverhütung

LEIDENSSCHUTZ UND LEIDVERHÜTUNG.
SIGMUND FREUDS „UNBEHAGEN I N DER KULTUR“
Kulturwissenschaftlicher Essay von Richard Albrecht

TROUBLE – HOW TO PREVENT & HOW TO PROTECT AGAINST. SIGMUND FREUDS THEORY OF CULTURE

This scholarly piece presents the ´late´ Sigmund Freud as a reflexive psychologist basically interested in all features of human culture & culturalized humans. Religion & its very social function is put within the general social context as well as specific forms of protecting against agony, harm, and sorrow coping with whenever the individual is suffering.

,,Eine Wertung der menschlichen Kultur zu geben liegt mir … sehr ferne. Ich habe mich bemüht, das enthusiastische Vorurteil von mir abzuhalten, unsere Kultur sei das Kostbarste, was wir besitzen oder erwerben können, und ihr Weg müsse uns notwendigerweise zu Höhen ungeahnter Vollkommenheit fuhren. Ich kann wenigstens ohne Entrüstung den Kritiker anhören, der meint …, man müsse zu dem Schlüsse kommen, die ganze Anstrengung sei nicht der Mühe wert und das Ergebnis könne nur ein Zustand sein, den der einzelne unerträglich finden muß.

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Kultur, Leid, Freud – Foto: © CFalk / pixelio.de

Meine Unparteilichkeit wird mir dadurch leicht, dass ich über all diese Dinge sehr wenig weiß, mit Sicherheit nur das eine, dass die Werturteile der Menschen unbedingt von ihren Glückswünschen geleitet werden, also ein Versuch sind, ihre Illusionen mit Argumenten zu stützen. Ich verstünde es sehr wohl, wenn jemand den zwangsläufigen Charakter der menschlichen Kultur hervorheben und z. B. sagen würde, die Neigung zur Einschränkung des Sexuallebens oder zur Durchsetzung des Humanitätsideals auf Kosten der natürlichen Auslese seien Entwicklungsrichtungen, die sich nicht abwenden und nicht ablenken lassen und denen man sich am besten beugt, wie wenn es Naturnotwendigkeiten wären. Ich kenne auch die Einwendung dagegen, dass solche Strebungen, die man für unüberwindbar hielt, oft im Laufe der Menschheitsgeschichte beiseite geworfen und durch andere ersetzt worden sind. So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, dass ich ihnen keinen Trost zu bringen weiss, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen.”[1]

“Menschliche Kultur“
Soweit die allgemeine Schlußpassage aus Sigmund Freuds psychoanalytischer Deutung des „Unbehagens i n der Kultur” (1930): erstaunlich, dass diese Hinweise gerade so wenig von jenen Psycho- und Kulturwissenschaftlern beachtet und produktiv aufgearbeitet wurden, die Freud erweislich so viel verdanken: Alfred Lorenzer etwa bezieht sich gar nicht auf dieses „Unbehagen” bei der Begründung seines tiefenhermeneutischen Programms einer Kulturanalyse. Es blieb dem Klagenfurter Sozialpsychologen Klaus Ottomeyer 1992 vorbehalten, in einer zweiteiligen Text-Aussagen-Montage „Freud und Marx” an Freuds so skeptische wie demütige Grundhaltung als Kulturtheoretiker zu erinnern. Sieht man von seiner „anderen Sozialpsychologie” ab, so scheint aktuell Freuds „i n der Kultur” ein Anathema und der gleichnamige Freud-Essay derzeit wissenschaftlich non receptable. Dies verwundert mich in doppelter Weise: Einmal und wie hier exemplarisch aufzuzeigen sein wird vom generellen Inhalt und weiten kulturalen Ansatz her. Denn, so lautet meine Kernthese: Freuds Essaytext spricht zentrale Fragen unserer conditio humana im globalen Prozess von Enttraditionalisierung und Entbindung, von Rationalisierung und Verweltlichung (Säkularisierung), schließlich von „Entzauberung” der Welt (im Sinne des Soziologen Max Weber) und der schon 1930 erkennbar drohenden Tendenz zum Homicide, zur Selbstvernichtung der menschlichen Gattung an. Zum anderen halte ich formal/publizistisch gerade den „Kultur”-Essay des Autors Sigmund Freud, immerhin 1929/31 ein Mittsiebziger, dem 1930 der Frankfurter Goethepreis zugesprochen wurde, für den von der wirkungsstrategischen Anlage her gerade in seiner Altersabgeklärtheit und selbstbewußten Toleranz wohl lesbarsten Essay Freuds, der auch einen guten Zugang zum Gesamtwerk dieses Mentors der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts bieten kann, auch im Vergleich mit früheren Abhandlungen des Autors zur „Psychopathologie des Alltagslebens” (1898), „Traumdeutung” (1901) und „Sexualtheorie” (1905). Verglichen mit dem gefälligeren Material (nebst zahlreichen erzählten Beispielen) im Essay „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten” (1905) ist der viel sprödere späte Essay „Das Unbehagen i n der Kultur” (1929/31) auch wegen der vielen literarischen Anspielungen und gelegentlichen Zitate flüssiger geschrieben und leichter lesbar als die anderen genannten wissenschaftlichen Abhandlungen.

Nun will ich hier dieses doppelte Paradox, die Aufnahme und Wirksamkeit von Freuds spätem Kultur-Essay betreffend, nicht ausdeuten. Gleichwohl bleibt staunend anzumerken, dass und wie locker der Gelehrte Sigmund Freud seinen Grundgedanken des (auch zeitlich begrenzten) Charakters des Lustprinzips bei Goethe wiederfindet und in einer Fußnote notiert: „Goethe mahnt sogar: ‘Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen.’ Das mag immerhin eine Übertreibung sein” (43).

Ganz ähnlich, wenn Freud nicht nur abstrakt-allgemein auf einen speziellen Sorgenbrecher, den Alkohol genannten flüssig-oralen, eingeht und ironisch an Wilhelm Buschs Aphorismus aus der „Frommen Helene” erinnert, der bekanntlich die Sorgen dialektisch angeht: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör” (41). Und dass der Gelehrte Freud nicht nur theoretisch um die Vernichtungskraft leidenschaftlichen Hasses wußte, sondern den Destruktionstrieb auch bei Heinrich Heine literarisiert wiederfand, veranschaulicht seine eigene kulturelle Spannbreite und Gelassenheit, wenn er in einer weiteren Fußnote schreibt: „Ein großer Dichter darf sich gestatten, schwer verpönte psychologische Wahrheiten wenigstens scherzend zum Ausdruck zu bringen. So gesteht H. Heine: ‘Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt – ja, man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden.’ (Heine, Gedanken und Einfälle)” (75).

Menschenbild/er
„Die Technologie”, so Karl Marx in einer Anmerkung im Abschnitt zur Produktion des relativen Mehrwerts infolge der Herausbildung von Maschinerie und Industrie, “enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen … Alle Religionsgeschichte, die von dieser materiellen Basis abstrahiert, ist – unkritisch. Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztere ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode“ („Das Kapital“ I; MEW 23, 393)

So wie sich der ‘frühe’ Karl Marx (1818 bis 1883) und der ‘späte’ Sigmund Freud (1856 bis 1939) sowohl im Ausgangspunkt Religionskritik als auch in der Methode der Entwicklung „religiöser Nebelbildungen” aus den „jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen” annähern (insofern läßt sich Freud auch als materialistischer Sozialwissenschaftler lesen, der Religion(en) nicht denunzieren, sondern funktional beschreiben und subjektwissenschaftlich erklären will), so bleiben doch wesentliche Unterschiede als differentia specifica: Marx etwa betont die (in seiner Kritik der politischen Ökonomie der sich entwickelnden kapitalistischen Warenwelt) entfaltete „materielle Basis”, Freud das menschliche Glücksstreben in der jeweiligen Bedeutsamkeit. Freud nähert sich subjektiven und Sinnstrukturen, Marx bezieht sich primär auf objektive ökonomische Prozesse und deutet subjektive Folgen wie Entfremdungsprozesse nur gelegentlich an. Schließlich bestehen wesentliche Unterschiede in beider Menschenbilder. Während Karl Marx über die empirischen Fesselungen durch historische Gesellschaftsformationen (wie zum Beispiel die damals entwickeltste warenökonomisch-kapitalistische) hinaus wirtschaftliche Produktivkräfte und kreative menschliche Gattungspotenzen freigesetzt wissen will und dazu politische Handlungserfordernisse durch produktive soziale Klassen sieht, bleibt Sigmund Freud gegenüber diesem historischen Optimismus skeptisch, sieht die Doppelnatur menschlicher Triebe und Strebungen – nämlich: Produktion und Destruktion, Liebe und Haß, Geburt und Tod, Aufbau und Vernichtung; von daher betont er die Erfordernis der (auch institutionellen Bändigung) beider polarer Grundformen elementarer menschlicher Handlungsantriebe fast so, als befände sich der nachgeborne Freud gegenüber Marx in einer Pose, die den Hexenmeisterlehrling verzweifeln läßt, kann er doch die einmal freigesetzten Kräfte nicht mehr bändigen, so dass er sie nur noch hilflos wie Geister magisch zu beschwören versucht: „Besen, Besen, seid´s gewesen / In die Ecke, Besen, Besen”.

„Handlungsdruck“ – „Entlastungstendenz“ – „Inflation der Liebe“
Ohne dass ich die für mich nach wie vor problematische Begründung oder Setzung aus anthropologischer Sicht hier vorstellen oder diskutieren will, sei doch erwähnt, dass der deutsche Sozialphilosoph Arnold Gehlen später einen wesentlichen Funktionsaspekt dieses Skeptizismus gegenüber dem Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts unter den Stichworten Handlungsdruck und Entlastungstendenz angesprochen hat. Aus der Grundthese nämlich, „daß der Mensch infolge seines Mangels an spezialisierten Organen und Instinkten in keine artbesondere, natürliche Umwelt eingepaßt und infolgedessen darauf angewiesen ist, beliebige vorgefundene Naturumstände intelligent zu verändern”, schlußfolgert Gehlen zum einen: „Sinnesarm, waffenlos, nackt, in seinem gesamten Habitus embryonisch, in seinen Instinkten verunsichert” ist der Mensch entsprechend seiner Gattungsspezifik „existentiell auf die Handlung angewiesen”. Dieses meint vor allem die „Veränderung der Außen-Welttatsachen”. Für Gehlen ergibt sich aber auch aus der (dynamischen) Handlungserfordernis die Notwendigkeit (stabilisierend wirkender und insofern auch statischer) gesellschaftlicher Regelungen und Einrichtungsformen, eben von Institutionen.7 Hier wirkt bei Gehlen zum zweiten das anthropologisch allgemein gültige Prinzip der Entlastungstendenz als „weitere fundamentale menschliche Gesetzlichkeit”. So verwandeln sich denn auch offensiv-unrealisierbare humane Glückswünsche in wirksame Formen menschlicher Leidverhütung. Diese Metamorphose ist das Generalthema von Sigmund Freuds Essay zum „Unbehagen i n der Kultur”:

„Es fragt sich [...], wie das größte Hindernis der Kultur, die konstitutionelle Neigung der Menschen zur Aggression gegeneinander, wegzuräumen ist, und gerade darum wird uns das wahrscheinlich jüngste der kulturellen Überich-Gebote besonders interessant, das Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst … (Es) ist die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression und ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ich Das Gebot ist undurchführbar: eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen.”

Soweit Sigmund Freuds funktionale Argumentation (105 f.), die einerseits empirische Religionskritik und andererseits Veranschaulichung der Alltagseinsicht, dass gut gemeint typischerweise wie das Gegenteil von gut wirkt, ist.

„Leidensschutz“
Freilich hat auch der altersreife Psychoanalytiker Sigmund Freud die Haeckel´schen Welträtsel nicht gelöst, auch wenn er uns durch seine Kulturtheorie an zumindest zwei Lebenstatbestände erinnert: einmal, dass alle menschliche Potenz begrenzt ist, und zum anderen und über diese humanökologische Grundeinsicht hinaus an die ‘soziale Tatsache’, dass jeder ganzjährige Karneval ein (auch contradictio in adjecto genannter) Widerspruch in sich sein muß. Insofern ist auch vielleicht gerade heute bei zunehmendem medienvermittelten Leben ‘aus zweiter Hand’ und mit Sigmund Freud daran zu erinnern, dass sowohl Glück immer Ausnahme bleiben muß als auch Leid die Regel. Es wäre, mit Sigmund Freud, angesichts noch immer zunehmender Medialkultur mit ihren wenn nicht in jedem Fall falschen so doch immer schon schiefen Lust- und Glücksversprechen an dieses Grundverhältnis zu erinnern: Denn nach wie vor verhalten sich menschliches Glück und menschliches Leid wie das Verhältnis von Ausnahme und Regel, nicht umgekehrt. Wer immer glaubt, zu dieser Regel gäbe es eine Ausnahme, verkennt die Grundbedingung menschlicher Existenz und scheitert, in welchen Formen auch immer.

„Die Religion”, resümiert Sigmund Freud im zweiten Abschnitt zu „Glückserwerb und Leidensschutz”, „drängt allen in gleicher Weise ihren Weg zum Glückserwerb und Leidensschutz auf. Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat. Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen. Aber kaum mehr… Auch die Religion kann ihr Versprechen nicht halten.” Wenn der Analytiker Freud in dieser Passage (51) jede Religion sowohl als ideologisches Glaubenssystem als auch als kollektive Neurose bewertet, so gibt ihm seine analytische Religionskritik zugleich die Möglichkeit, nach (medizinisch gesprochen) Substituten oder (sozialwissenschaftlich ausgedrückt) funktionalen Handlungsäquivalenten zu suchen. Denn Freud als Intellektuellen interessiert auch die sozialwissenschaftliche Anwendung psychoanalytischer Methoden auf kulturelle Probleme.

Über die inhaltliche Seite hinaus finde ich Sigmund Freuds methodisches Verfahren richtungsweisend. Wie in der praktischen Therapie des einzelnen dieser aus der Vereinzelung herausgenommen werden soll, um Voraussetzungen für neue Vergemeinschaftungsformen zu eröffnen, so löst Freud auch theoretisch angemessen das Verhältnis vom Besonderen zum Allgemeinen, indem er seine religionskritischen Hinweise generalisiert: Wenn denn Säkularisierung und Rationalisierung, Entbindung und Enttraditionalisierung, kurz der sogenannte Prozeß der Modernisierung, sozialen Differenzierung und Individualisierung empirisch wirksam wird, dann bietet als Endpunkt im Möglichkeitsspektrum in der Tat jede „Flucht in die neurotische Krankheit… wenigstens Ersatzbefriedigungen” (51). Hier argumentiert denn auch der Psychologe Sigmund Freud am Beispiel „Neurose” ähnlich wie sein französischer Generationsgenosse Emile Durkheim (1858-1917) als Soziologe am Beispiel des Suizids; beide verweisen auf das „emotioneile Vakuum” (Kurt Hiller) und differenzierte individuelle Möglichkeiten, diesen „Hohlraum der Gefühle” (Anna Seghers) handelnd und/oder duldend oder/und unterlassend zu besetzen, was sich hinsichtlich der gesellschaftlichen Verhältnisse (Werte und Normen) unterschiedlich darstellt und, je nach Lage und Form, auch zu anomischen Zuständen, also solchen mangelnder institutioneller Regelungen, führen kann.

„Leidverhütung“
Sigmund Freud verhandelt im II. Abschnitt (40-51) den ihm als „anspruchslosere Frage” erscheinenden Komplex „Methoden zur Leidverhütung” (44 ff.). Weil „alles Leid endlich nur Empfindung ist), es nur besteht, insofern wir es verspüren”, kann es ihm um nichts anderes gehen als um mentale oder psychische Formen von Leidverhütung und Leidverminderung. Von der rohesten und wirksamsten Methode, Freud spricht von stofflicher Intoxikation und Chemismus, also von wenn man so will giftigen chemischen Keulen stoffgebundener Rauschmittel (wie z.B. legalen Drogen Alkohol und Nikotin, illegalen Drogen wie Haschisch und Marihuana), war hier schon die Rede. Es sind die volkstümlichen ‘Sorgenbrecher’, die auch noch im Zeitalter des HIV-Positivismus, sowohl fürs Überleben der menschlichen Spezies als auch für die Vernichtung ihrer Teilelemente sorgen: „Man weiß doch”, so Freud, „daß man mit Hilfe des ‘Sorgenbrechers’ sich jederzeit dem Druck der Realität entziehen und in einer eigenen Welt mit besseren Empfindungen Zuflucht finden kann. Es ist bekannt, daß gerade diese Eigenschaft der Rauschmittel auch ihre Gefahr und Schädlichkeit bedingt” (45).

Neben dieser mehrheitlichen Form stofflicher Benebelung gestattet „der komplizierte Bau unseres seelischen Apparates aber auch eine ganze Reihe anderer Beeinflussungen” (45).

Eine dieser Techniken von „Leidabwehr” ist nach Freud Libidoverschiebung in vielfältigen Formen, „welche unser seelischen Apparat gestattet (und) durch dies eine Funktion so viel an Geschmeidigkeit gewinnt” (46). Auch in diesem spezifischen Feld unterscheidet Freud wieder zwischen besonderem und allgemeinem Leidensschutz. Beim Allgemeinen erwähnt er zum Ausgleich der Libidoökonomie „die gemeine, jedermann zugängliche Berufsarbeit” als einzigartige „Technik der Lebensführung”, die den Einzelnen „so fest an die Realität (bindet) als die Betonung der Arbeit, die ihn wenigstens in ein Stück der Realität, in die menschliche Gesellschaft sicher einfügt” (46). Diese natürlich angesichts der historischen Weltwirtschaftskrise nach jenem Black Friday des Jahres 1929
unerläßliche Bemerkung ergänzt Freud durch einen weiteren Hinweis zur besonderen Libidoökonomisierung beziehungsweise menschlicher Befriedigung: „Besondere Befriedigung vermittelt die Berufstätigkeit, wenn sie eine frei gewählte ist, also bestehende Neigungen, fortgeführte oder konstitutionell verstärkte Triebregungen durch Sublimierung nutzbar zu machen gestattet” (46).

Diese Tätigkeiten sind, vor allem und unter anderem, künstlerische und wissenschaftliche Arbeiten an Bild und Begriff. Auch in dieser Hinsicht sieht Freud dialektisch Chancen und Risiken, Möglichkeiten und Grenzen: „Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben. Die Befriedigung solcher Art, wie die Freude des Künstlers am Schaffen, an der Verkörperung seiner Phantasiegebilde, die des Forschers an der Lösung von Problemen und am Erkennen der Wahrheit, haben eine besondere Qualität … Die Schwäche dieser Methode liegt aber darin, daß sie nicht allgemein verwendbar, nur wenigen Menschen zugänglich ist. Sie setzt besondere, im wirksamen Ausmaß nicht gerade häufige Anlagen und Begabungen vorau Auch diesen wenigen kann (diese Methode) nicht vollkommenen Leidensschutz gewähren, sie schafft … keinen für die Pfeile des Schicksals undurchdringlichen Panzer, und sie pflegt zu versagen, wenn der eigne Leib die Quelle des Leidens wird” (46). Gleichwohl handelt es sich um den für Freud „interessanten Fall” ästhetischer Lebensführung der menschlichen Existenz fürs Schöne. Hier wird „das Lebensglück vorwiegend im Genüsse der Schönheit gesucht, wo immer sie sich unseren Sinnen und unserem Urteil zeigt, der Schönheit menschlicher Formen und Gesten, von Naturobjekten und Landschaften, künstlerischen und selbst wissenschaftlichen Schöpfungen. Diese ästhetische Einstellung zum Lebensziel”, so wertet Freud selbst abschließend, „bietet wenig Schutz gegen drohende Leiden, vermag aber für vieles zu entschädigen” (49).

Das klingt schlußakkordisch. Und doch sei abschließend die Ambivalenz auch dieses Freudschen Gedankens angesprochen. Zum einen halte ich Freuds Hinweis auf die Bedeutsamkeit etwa von kreativer künstlerischer Arbeit, und Kunst hat mit Können zu tun und nicht mit Wollen, für wichtig. Zum anderen weiß auch ich um die im Freudschen Plädoyer noch aufscheinenden Reste deutsch-österreichischen Geniekultes, etwa in Hinsicht auf die soziokulturellen funktionalen Begabungen „genialer Menschen” (Ernst Kretschmer) wie etwa Stefan George. Aber dies ist schon ein anderes Thema. Hier ging es allein um Sigmund Freuds historisch und aktuell wichtigen Text: um nicht mehr, aber auch um nicht weniger – ni más ni menos.

PSYCHOLOGISCHES GEDICHT

FREUD Euch des Lebens
Solange Ihr JUNG seid.
Wenn Ihr erst REICH seid
Werdet Ihr FROMM.
Ernst-Ullrich Pinkert (1982)

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Quellen – weiterführende Links

Zitat [1] Sigmund Freud, Das Unbehagen i n der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung Alfred Lorenzer & Bernard Görlich. Frankfurt/Main ²1996: Fischer-TB 10453: 31-108; alle Seitenangaben hiernach. – Das PSYCHOLOGISCHE GEDICHT veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors, Dr. E.-U. Pinkert, Aalborg/DK.
Foto: “Ich glaube an mich” ©  CFalk / pixelio.de

Richard Albrecht ist “gelernter” Journalist, Sozialwissenschaftler, seit 1989 Privatdozent 1989 als unabhängiger Wissenschaftsjournalist, Editor und Autor in Bad Münstereifel. 2011 erschien als bisher letzte Buchveröffentlichung HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren. Bio-Bibliographie -> http://wissenschaftsakademie.net e-Postadresse -> [email protected]


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