Unbedingt lesen: Das eingeschossige Amerika

Vor einigen Tagen geriet mir “Das eingeschossige Amerika” von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow in die Hände. Was für ein wunderbarer, überaus glücklicher Zufall! Die beiden Bände, in denen die zu ihrer Zeit in der Sowjetunion sehr bekannten Autoren ihre eigenwilligen Beobachtungen des US-amerikanischen Alltags beschreiben, verschlang ich in wenigen, für Schlaf zu kurzen, Nächten. Ich reiste mit Ilf und Petrow 16.000 Meilen durch die USA, vom Atlantik über die Rocky Mountains zum Pazifik und wieder zurück – ebenso hingerissen, überwältigt und erstaunt über die vielfältigen Entdeckungen wie die Autoren selbst. Die angesichts der Überwältigungen, die die sich rasant entwickelnde Supermacht des Westens für sie bereit hielt, einen sehr wachen, freundlich-distanzierten Blick behielten und ihre Erlebnisse in einem rasant zu lesenden, witzig-intelligenten Reportagestil zu Papier brachten.

Unglaublich, aber wahr: 1935 bereisten Ilja Ilf und Jewgeni Petrow als Korrespondenten im Auftrag der Prawda drei Monate lang das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie fanden mit einem lange in den USA lebenden litauischen Ingenieur und seiner äußerst fahrtüchtigen amerikanischen Ehefrau ideale Reisebegleiter, die ihnen in einem eigens dafür angeschafften mausgrauen Ford auch das ländliche, das “eingeschossige” Amerika jenseits der Straßenschluchten von News York oder Chicago erschlossen. Dabei stolpern sie über etliche Kuriositäten, etwa über ein Schild mit der Aufschrift: “Revolution ist eine Herrschaftsform fürs Ausland”.

Das eingeschossige Amerika; Foto von der Rückseite des Schubers

Das eingeschossige Amerika; Foto von der Rückseite des Schubers

Der Reisebericht der beiden Prawda-Korrespondenten ist erstaunlich unideologisch – sie loben, was ihnen in den USA gefällt – etwa den Sinn fürs Praktische, den die Amerikaner überall demonstrieren, ihre unaufgeregte Hilfsbereitschaft und immer wieder den erstklassigen Service, der auch in den entlegensten Gegenden selbstverständlich ist. Aber sie kritisieren auch, was ihnen missfällt – die unübersehbare Armut so vieler Menschen direkt neben ungeheurem, ja vulgärem Reichtum, die unglaubliche Naivität der Menschen, die ständig darauf hoffen, entgegen aller Logik und Lebenserfahrung doch irgendwie ihr Glück zu machen, und sich, wenn sie angesichts widriger Umstände scheitern, immer selbst die Schuld geben, und nicht dem herrschenden System, das doch so viele Verlierer produziert. Oder die fehlende Wissbegier – die Autoren stellen fest, dass die Amerikaner so mit Geld verdienen beschäftigt sind, dass ihnen jedes Interesse für echte Bildung abgeht – Amerikaner lesen nicht, sondern gehen ins Kino. Das tun auch Ilf und Petrow – allerdings kommen da nicht die erwarteten anspruchsvollen Kunstfilme, sondern für die beiden Russen kaum erträglicher Hollywood-Schrott. Am Ende stellen sie fest: Die USA könnten das Paradies auf Erden sein, wenn sie denn nur sowjetisch wären.

“Die Triebkraft des amerikanischen Lebens ist und bleibt das Geld. Die moderne amerikanische Technik wurde erfunden und entwickelt, um so rasch wie möglich Geld zu machen. Alles, was Geld bringt, entwickelt sich, alles was kein Geld bringt degeneriert und stirbt ab. Die Konzerne der Gas-, Elektrik-, Bau und Autoindustrie haben auf der Jagd nach dem Geld einen sehr hohen Lebensstandard geschaffen. Amerika ist zu einem beträchtlichen Wohlstand aufgestiegen und hat Europa weit hinter sich gelassen. Hier zeigt sich nun, dass es schwer krank ist. Das Land führt sich selbst da absurdum. Es wäre in der Lage, auf der Stelle eine Milliarde Menschen zu ernähren, bringt es aber nicht fertig, seine eigenen 120 Millionen satt zu machen. Es hat alles, um den Menschen ein ruhiges Leben zu gewährleisten, stattdessen hat es erreicht, dass die gesamte Bevölkerung in ständiger Unruhe lebt: Der Arbeitslose fürchtet, nie wieder einen Job zu finden, der Arbeiter fürchtet, seine Arbeit zu verlieren, der Farmer fürchtet eine Missernte, weil dann die Preise in die Höhe schießen und er selbst Getreide für viel Geld kaufen muss, er fürchtet aber auch eine gute Ernte, weil dann die Preise fallen und er sein Getreide nur für ein Butterbrot losbekommt, die Reichen fürchten, dass Gangster ihre Kinder entführen, die Gangster, dass sie auf dem elektrischen Stuhl landen, die Neger fürchten, gelyncht zu werden, Politiker fürchten die Wahlen, Menschen mit mittlerem Einkommen fürchten, krank zu werden, weil die Ärzte ihnen dann ihr gesamtes Vermögen abnehmen, der Händler fürchtet, dass Schutzgelderpresser kommen und seinen Laden mit Maschinenpistolen zusammenschießen.”

Dieses Fazit gegen Ende ihrer Reise kann man auch heute, fast 80 Jahre später, noch so stehen lassen. Nur dass es jetzt in so ziemlich allen Ländern gilt.



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