Umsonst ist umsonst

Von Nadine M Helmer

Manchmal kanns auch politisch werden, hier im kuscheligen Kinderzimmer. Meistens dann, wenn ich morgens zwischen Käsebrot und Kaffee meine abonnierte Tageszeitung (jaaa, so alt bin ich) lese und zwischen "Hää?" und "Oh!" schwanke, gedanklich.

"Oh" hab ich gedacht, als ich vorgestern Statistiken gesehen habe, die den Unterschied zwischen fünfjährigen Kita-/Kindergartenkindern und Kindern, die keine Einrichtung vor Schulbeginn besucht haben, aufzeigen. Die gute Nachricht ist, dass der Kitabesuch eine Menge an Defiziten, die von zuhause mitgebracht werden, wieder ausgleichen kann. Das kommt den Kindern später in der Schule zugute.

Quelle: Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, Visualisierung: Tagesspiegel Data

Ganze 48 Prozentpunkte beträgt der Unterschied zwischen den Kindergartenkindern und den "Zuhausekindern" mit Sprachdefiziten (beispielsweise Schwierigkeiten, Sätze nachzusprechen, Worte zu ergänzen oder den Plural zu bilden). Kinder mit denen entweder wenig oder nachlässig gesprochen wird, holen durch den täglichen Umgang mit anderen Kindern und Erziehern mächtig auf und werden es später leichter haben, sich gut zu verständigen. Interessant ist dabei, dass Sprachdefizite nicht automatisch mit einem Migrationshintergrund in Verbindung stehen:

"Auch hier hat man es mit einem sozialen Phänomen zu tun, weshalb auch ein Bezirk mit einer geringen Migrationsquote von nur 16,5 Prozent wie Marzahn-Hellersdorf eine 30-Prozent-Quote bei den Sprachdefiziten hat. Zum Vergleich: Pankow hat fast die gleiche Migrantenquote wie Marzahn-Hellersdorf, aber nur zehn Prozent Kinder mit Sprachdefiziten."

(tagesspiegel.de)

Die folgende Grafik zeigt, dass immer mehr Kinder von Migranten eine Kita besuchen - und dass dieser Besuch mit einer Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse belohnt wird. Hier wird deutlich, wie wichtig es sein wird, auch die Kinder von Flüchtlingen schnell in Kitas und Kindergärten unterzubringen.

Quelle: Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, Visualisierung: Tagesspiegel Data

Trotz der an sich positiven Aussichten für Berliner Kitakinder gibt es auch Zahlen, vor denen es mir graust:

"Für die Kinder hat der soziale Status der Eltern schwerwiegende Folgen – nicht nur für den Schulerfolg, sondern auch für die Gesundheit: Je ärmer die Eltern, desto größer das Risiko für die Kinder, krankhaft dick – adipös – zu sein oder unter schlechten Zähnen zu leiden: Jedes achte Kind aus der unteren Schicht hat bereits Zähne wegen Karies verloren oder hat schon im Kindergartenalter abgefaulte Zähne. Einem rauchenden Elternteil ausgesetzt zu sein, passiert in der sozialen Oberschicht nur jedem achten Kind, aber fast jedem zweiten aus der unteren Sozialschicht." (tagesspiegel.de)

Waaas?!? Traurig zu sehen, dass Eltern mit der Verantwortung für ihre Kinder entweder überfordert sind oder ein so großes Desinteresse an den Tag legen, dass sie deren Gesundheit der Bequemlichkeit/Ignoranz(?) halber aufs Spiel setzen. Traurig, dass ein Kindergarten das kleine Einmaleins der guten Ernährung und Körperpflege gewährleisten muss. Traurig, dass manchen Eltern zum Thema "mein Kind sollte was zu Essen mit in die Schule nehmen" nur ein Päckchen trockene China-Nudeln einfällt. Sorry, aber was hat das mit Geld zu tun? Sind China-Nudeln billiger als ein Brot? Sind Zahnbürsten (fünfundsechzig Cent, zwei Stück)  und Zahnpasta (fünfundsechzig Cent) so viel teurer als eine Packung Zigaretten?

Also, ich nehme zur Kenntnis, das die Kita für einige Kinder wirklich eine Art "Rettung" ist, in gesundheitlicher, sozialer bildungs- und ernährungstechnischer Hinsicht.


Neue Schlagzeile:

"Kitabesuch in Berlin ab 2018 kostenlos"

(Da denk ich dann "Hää?!")

Das olle Argument, Kitagebühren seien eine Hürde für arme und/oder bildungsferne Familien, zieht in Berlin nicht. Denn schon seit einigen Jahren fallen für Kinder ab drei Jahren keine Zuzahlungen an, außer der Essenspauschale von 23 euro monatlich.

Ein nun kostenloser Krippenbesuch bedeutet 56 Millionen Euro Mehrkosten für Berlin. 56 Millionen, die nicht etwa in mehr Erzieher, deren bessere Bezahlung, mehr Qualität, mehr Ausstattung fließen. 56 Millionen, die keinen Deut zur Verbesserung der jetzigen Situation der Kitas beitragen können. 56 Millionen, die überspitzt gesagt, die alleinerziehende und vollzeitarbeitende Mutter über ihre Steuern zahlt, damit das Baby des doppelverdienenden Chefarztehepaar keine Krippengebühren zahlen muss. Wie doof ist das denn?

Kein Kind aus unteren sozialen Schichten wird nun eher in eine Einrichtung gehen - weil es bisher auch so geregelt war, dass derjenige, der wenig bis nichts verdient, auch nur wenig bis nichts zahlen muss. Warum befreit man alle Eltern? Auch die, die Geld erübrigen können und auch Willens sind, dies zu investieren? Warum will der Senat alles allein finanzieren, wenn er doch auf finanzielle Unterstützung besser gestellter Familien zählen könnte? Für mich klingt das nach blöder (Wahl-)Propaganda, deren Folgen absehbar sind. Dazu muss man nur mal einen Blick auf die Schulen werfen, die chronisch unterfinanziert sind und unter einem massiven Investitionsstau leiden. Daniela von Treuenfels schreibt auf ihrer Webseite Einstürzende Schulbauten seit einem Jahr gegen den Verfall der städtischen Schulen an. In diesem Jahr hat sie einen Adventskalender veröffentlicht, der einen Einblick in die marode Berliner Schulwelt gewährt. Am 8. Dezember zum Beispiel schreibt sie:

Schimmel an den Wänden, Regen in den Klassenzimmern, herunterfallende Deckenplatten, bröckelnder Putz, ein immer wieder zusammenbrechendes Stromnetz, zu kleine Mensa mit zuwenig Essensausgabestellen, ausfallende Heizungen – so beschreiben Eltern der Anna-Lindh-Grundschule in Mitte das Gebäude, in dem ihre Kinder täglich lernen.

Schaut auch mal bitte diese Bilder an. Das ist nicht Wladiwostok. Sondern eine Schule in Zehlendorf, wo Wasser aus der Steckdose (!!) kommt und aus dem Hahn nur braune Brühe fließt. Eine von Hunderten von Schulen, die allein aus dem Berliner Haushalt finanziert werden.

Zusammengefasst: es ist immer wieder deutlich, wie wichtig gute Kindergärten sind. Gerade angesichts der vielen Kinder, die nun aus Syrien, Afghanistan oder sonstwoher kommen und die ihren Platz in Deutschland finden müssen, sprachlich, sozial und kulturell. Und, siehe oben, auch für "alteingesessene" Berliner Kinder spielen Kitas eine fundamentale Rolle, um einen einigermaßen guten Start ins Schulleben hinzubekommen.

Wir sollten aufhören zu denken, dass gute Betreuung und gute Bildung elterliches Engagement und den elterlichen Geldbeutel nicht braucht. Beides gibt es nicht umsonst. Ich persönlich befürchte, dass in 10 oder 15 Jahren städtische Kitas ebenso schlimm beisammen sind wie die Schulen heute. Und dass wir dann den Kindern, die am meisten von ihnen profitieren, marode Baracken anbieten zum Spielen und Lernen. 

  Ich hätte die 56 Millionen gerne gut investiert in bestehende Strukturen gesehen, in die Schaffung zusätzlicher Stellen für Erzieher und Sozialarbeiter, in Schwimmunterricht, in Sanierung und Renovierung alter Gebäude.

Und ich würde mir wünschen, dass jeder analog zu seinem Einkommen etwas dazugibt, das wäre dann den Kindern vorgelebte Solidarität. Denn umsonst ist nie was.

Bitte unterstützt Einrichtungen, die die Kinder auffangen und ihnen ein zweites Zuhause bieten können - beispielweise der Arche, oder dem Mehrgenerationenhaus in der Wassertorstraße, das Kindern ein warmes Mittagessen anbietet:

Spenden für die Arche Wassertorstr. 48