Überwachungsstaat und Willkürherrschaft: Ein Abgesang auf die Freiheit

Als ich jung war, zu Zeiten der Friedens- und der Anti-Atomkraft-Bewegung, waren wir alle recht stolz auf unser Grundgesetz. Wir, die politisch interessierte nächste Generation, standen auf und gingen voran, um die Grundrechte des Grundgesetzes mit Leben zu füllen. Wir sind aufgewachsen mit dem Wissen, dass wir gegenüber dem Staat Rechte haben, ganz im Gegensatz zu unseren Eltern und Großeltern in der Nazi-Zeit. Diese Rechte wollten wir einfordern, um ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. An vielen Orten der Welt musste man aufpassen, was man sagte, und in Orwells Buch 1984 musste man sogar aufpassen, was man dachte. Nicht so in der Bundesrepublik. Wenn dort der Staat seine Befugnisse überschritt, und das tat er mit Berufsverboten und Notstandsgesetzgebungen immer mal wieder, dann gab es legale Mittel, sich dagegen zu wehren, in den Zeitungen lieferten sich Befürworter und Gegner von Maßnahmen wahre Schlachten, und man konnte nicht im Vorhinein automatisch wissen, wie sie ausgingen. – Heute wissen wir, dass diese Freiheit, die wir spürten und von der wir träumten, keine Wirklichkeit war. Es gab Leute, die wussten, wie alles ausging, sie hatten alle relevanten Informationen, und sie setzten ihren Willen durch, ganz unabhängig von der Diskussion unter den Bürgern. Diese Freiheit, diese Offenheit, diese schwer erkämpften Rechte, sie sind verloren, und ich trauere um sie. Vor allem sind sie deshalb verloren, weil sich die jungen und älteren Menschen von heute nicht mehr für sie interessieren, nicht mehr für sie einsetzen. Die Maschine hat gewonnen, so scheint es, und das erschreckt mich. Und wenn ich auch heute noch meine Meinung sage, dann nur, weil meine Meinung nichts ändert, und weil ich weiß, dass ich dafür nicht ins Gefängnis gehe, nicht von der CIA gefoltert werde, vielleicht nicht einmal vom großen Bruder zur Kenntnis genommen werde. Drum kann ich weiter in meinem Sandkasten spielen und Freiheit simulieren. Das ist aber auch alles. Denn, so schrieb die FAZ: “Wer nicht mehr frei kommunizieren kann, der führt kein freies Leben.”

Ich weiß, was ihr jetzt sagt. Ich habe das alles schon hundert mal in den letzten Wochen gehört. Ihr sagt:

1. Die Schlapphüte erfassen doch nicht alles, da hätten sie ja viel zu tun!

In Deutschland werden alle Telefongespräche, alle Internetbewegungen, alle E-Mails mitgeschnitten und ausgelesen. Der Inhalt der Mails und Telefongespräche wird nach verdächtigen Worten und Zusammenhängen durchsiebt und danach gelöscht, die Verbindungsdaten, also wer mit wem wann wie lange und unter welchem Betreff kommunizierte, werden für mindestens ein halbes Jahr aufgehoben, auch bei unseren Postsendungen vermutlich, denn die deutsche Post AG skannt alles, was ihr unter die Finger kommt. Man verfolgt den Weg der Handys, man kann die Einkäufe mit der Bankkarte zuordnen, Onlinekäufe sind ebenso kein Geheimnis mehr. Und man liest private E-Mails, man kann Einzelheiten über Beziehungen, persönlicher wie geschäftlicher Art erfahren, kann auf politische wie soziale Einstellungen schließen. Das alles wird gewohnheitsmäßig, vollständig und systematisch betrieben. Der Staat weiß längst mehr über uns als wir glauben, zumal die Erkenntnisse zumindest zum Teil, dem Teil nämlich, der den amerikanischen Diensten opportun erscheint, den deutschen Geheimdiensten mitgeteilt werden. Die Geheimdienste sammeln seit Jahrzehnten ungeheure Datenmengen, und die Spitzelaktionen der Stasi sind dagegen das reinste Kinderspiel. Und das alles ist keine Verschwörungstheorie, sondern Aussage eines Mitarbeiters der NSA, der sie mit Dokumenten belegen konnte.

Ihr sagt:

2. Mit Hilfe der Geheimdienste wurden wir vor islamistischen Anschlägen geschützt!

Das erzählt man uns immer wieder von Seiten der Bundesregierung. Ohne die Hilfe der Geheimdienste sei die sogenannte Sauerlandgruppe nicht aufgeflogen. Also habe die Sammelwut der USA doch etwas gutes, wenn sie für die richtige Sache eingesetzt werde. Aber erstens schützt uns niemand davor, dass sie für die falsche Sache eingesetzt wird, zweitens gibt es trotz der gigantischen Spähaktionen keine absolute Sicherheit vor terroristischen Anschlägen, weil auch die Terroristen mit Hilfe unverdächtiger Worte, Codes eben, kommunizieren und durch die Maschen schlüpfen können, und drittens ist der Preis für ein wenig mehr trügerischer Sicherheit so hoch, dass zumindest ich nicht bereit bin, ihn zu zahlen. Es gibt für mich kein Supergrundrecht auf Sicherheit, schon gar keines, das höher steht als alle anderen Grundrechte. Es steht nicht im Grundgesetz, darum zählt es für mich nicht. Mein höchstes Grundrecht ist die Freiheit als Ausgestaltung der Menschenwürde. Sobald ich selbst Freunden gegenüber meine Meinung nicht mehr sagen kann, ohne dass es registriert werden könnte, nicht muss, aber könnte, sobald ich kein Recht mehr habe auf die Privatheit privater Worte, auf die Privatheit des anwaltlichen, ärztlichen, journalistischen oder beraterischen Gesprächs, habe ich die Freiheit des Kommunizierens, die Freiheit der Rede und der Meinung verloren. Sie aber ist Grundlage der Entwicklung einer freien Persönlichkeit. Wenn wir wissen, dass wir überwacht werden könnten, stellen wir uns darauf ein, denken weniger gefährlich, handeln weniger kantig, angepasster und weniger aufmüpfig. Es verändert die
Persönlichkeitsentwicklung, und wenn dieses Gift der Unfreiheit schleichend, sozusagen mit der immer noch üppigen Nahrung unseren Gehirnen und Körpern zugeführt wird, dann bemerken wir den Unterschied kaum. Deshalb nennt man die Leute, die wissen, was auf dem Spiel steht heute
Verschwörungstheoretiker. Sie stören das einigermaßen ruhige Leben mit den eigenen kleinen Sorgen. Aber die Sorgen sind nicht klein, wir werden unfrei! Wieder einmal! Wehret den Anfängen!

Ihr sagt:

3. Wir haben doch nichts zu verbergen, also haben wir auch nichts zu befürchten!

Das wird uns von den Politikern, die heute behaupten, sie hätten von den Ausmaßen der amerikanischen Spionagetätigkeit gegen alle Bürger der Welt nichts gewusst, immer wieder vorgebetet und vorgekaut. Aber wer fällt die Entscheidung darüber, ob etwas, was ich tue, etwas ist, was ich zu verbergen habe? Die Deutungshoheit liegt doch bei denen, die die Macht haben. Sie entscheiden, ob ein Besuch bei der Partei “die Linke” etwas ist, was ich zu verbergen habe, sie entscheiden, ob mich der Besuch im Sado-Maso-Club verdächtig und pervers macht, sie entscheiden, ob ich überwacht werde, weil ich schulden habe, eine Arbeit ablehne, die Regierung kritisiere. Was wir zu verbergen haben, entscheiden wir doch nicht selbst? Wir haben immer etwas zu befürchten, weil es keine festen Regeln gibt, die stehen im Grundgesetz, aber sie sind nichts mehr wert, an sie hält man sich ohnehin schon lange nicht mehr, sonst würde man uns nicht so ausspähen. Jeder hat etwas zu verbergen, zumindest in der Logik der Geheimdienste, die alles wissen wollen. Sie mögen keine vertraulichen Gespräche zwischen Psychologen und Patienten, zwischen Priestern und Gläubigen, zwischen Journalisten und Informanten. Edward Snowden selbst ist ein Informant, und es wird uns als großes Entgegenkommen der USA verkauft, dass er keine Folter zu befürchten hat, falls man ihn schnappt. Und das, obwohl die Folter verboten ist. Und wer zwingt die USA, sich an diese Aussage zu halten? Oh doch: Wir haben etwas zu befürchten, und wir haben etwas zu verbergen, jeder und jede von uns.

Wahre Macht ist die Macht über die Gedanken der Menschen. Wenn wir uns bemühen, nichts zu verbergen zu haben, dann haben sie diese Macht. Dann sind wir unfrei, schon in unseren Köpfen, in unseren eigenen Gedanken und Ideen. Wenn die Menschen aufhören, sich für ihre eigene Persönlichkeit, ihre Freiheit, ihre Möglichkeiten jenseits von Brot und Geld einzusetzen, dann haben sie uns gezähmt und zu willenlosen Schafen gemacht, die auf einer üppigen Weide stehen. Doch die geistige Nahrung steht unter einem Genehmigungsvorbehalt.

Wer die Macht besitzt, braucht kein Wertesystem. Er kann schalten und walten. Wenn wir zulassen, dass jemand die ungeheure Macht hat, mit irgendwelchen Algorithmen unser Verhalten zu berechnen, weil er vorher genug Daten über uns gesammelt hat, hören wir auf, ernstzunehmende Individuen zu sein, wir werden zu gut programmierten fiktiven Personen in einem Computerrollenspiel, die eine begrenzte Menge an Handlungsoptionen haben und auf Eingaben des Nutzers reagieren können. Die Voraussage darüber, wie wir handeln könnten, wird zur Grundlage unserer Behandlung durch den Staat. Wir müssen beweisen, dass wir ein Vergehen oder Verbrechen, dass man voraussagt, weil einige Daten das nahelegen könnten, nicht planen, dass wir uns nicht abweichlerisch verhalten, dass wir nicht pervers, nicht betriebsschädigend und nicht zu dick für die Krankenkasse sind. Die Beweislast läge bei uns, und in politischen Fragen liegt sie schon bei uns. Die Häftlinge in Guantanamo hat man nie einer Tat überführt, aber man foltert sie und hält sie seit 12 Jahren gefangen, weil sie Islamisten sind und extrem kritisch gegen die USA eingestellt. Die Datensammelwut führt schon jetzt dazu, dass uns der Staat nur noch als potentielles Sicherheitsrisiko betrachtet, dabei gibt es den Staat nur, um uns als Einzelpersonen recht hilflose Individuen vor Gefahren zu schützen und unser Zusammenleben zu regeln. Sind wir nicht der Souverän, das Volk? Haben wir das nicht einst gelernt?

Warum bitte sind dann nicht am Protesttag gegen den Spähskandal 60 Millionen Menschen bundesweit auf der Straße gewesen?

Weil wir unsere Freiheit schon aufgegeben haben. Weil wir das Gerede vom Supergrundrecht Sicherheit glauben, weil wir uns machtlos wähnen. Das alles haben sie schon erreicht. Und weil es keinen Widerspruch mehr gibt, leben wir jetzt in einem Überwachungsstaat und unter einer Willkürherrschaft. Denn das Wesen der Willkür ist, dass die Herrschenden tun können, was sie wollen, weil man ihnen nicht widerspricht. Sie müssen nicht gegen die eigenen Regeln verstoßen, aber sie können es, weil die kritische Öffentlichkeit sich nur noch auf wenige Individuen beschränkt, die man als Spinner und Verschwörungstheoretiker abtun kann, oder die keine Macht haben, sich Gehör zu verschaffen. Wir leben in einem totalen Überwachungsstaat unter einer Willkürherrschaft. Das ist die ungeschminkte Wahrheit, und wir haben die Freiheit verloren, weil wir sie selbst aufgegeben haben, aus Angst vor Repressalien, vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, vor der Kürzung der Sozialbezüge, vor dem Besuch der Polizei oder des Staatsschutzes, vor der gesellschaftlichen Ächtung als Verschwörungstheoretiker.

Die Freiheit, die ich meine, und die ich brauche wie die Luft zum Atmen, das ist die Freiheit der Worte, der Meinung, des Widerspruchs, der schöpferischen Mitgestaltung des zwischenmenschlichen Zusammenlebens. Diese Freiheit brauche und erstrebe ich. Aber sie ist ein Werk, an dem täglich wieder gebaut werden muss, und zwar durch Mut, Widerspruch und den Kampf gegen ihre Vernichtung.

Deshalb erschüttert mich dieser Skandal. Nicht die Tatsache der Spionagetätigkeit an sich, das haben wir alle wissen können. Sondern dass sie so allumfassend ist, dass sie das Potential hat, ein
Steuerungsmechanismus zu sein, ein Steuerungsmechanismus, der bis in unsere Gedanken hinein wirkt. Eine Voraussetzung für eine perfekte, lückenlose, gewaltarme Willkürherrschaft.

Übrigens: Wie wenig wir uns um unsere eigenen Rechte kümmern, werden wir am Wahlabend sehen.

Hier noch ein paar Links:
Prism, Tempora und der Wert der Freiheit von Katharina Nocun im European
Ranga Yogeshwar in der FAZ: Rechnen Sie damit, lebenslang ein Verdächtiger zu sein
Sascha Lobo im Spiegel: Mein Weg zum Ekel
Ohnmacht gegen Allmacht – Sind wir wirklich machtlos gegen die Macht der Geheimdienste? Von Franz-Josef Hanke
De r alte Phönix: Alles nicht so schlimm


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