Überstanden

Von Beautifulvenditti

Angedeutet hatte er es schon öfters, seit heute aber ist es offiziell: “Meiner” und ich sind unfair, haben ihn immer nur an der kurzen Leine gehalten, erlauben ihm nichts, aber auch wirklich gar nichts, die jüngeren Geschwister hingegen dürfen alles, sie können tun und lassen, was sie wollen. Keine zehn Schritte darf er aus dem Haus machen, es ist ein Wunder, dass wir ihn überhaupt in die Schule gehen lassen. Unsere Behauptung, wir hätten ihn immer mal wieder dazu ermutigt, grössere Schritte zu wagen, ist eine fette Lüge. Er hätte ja schon gewollt, aber wir haben immer alles zu verhindern gewusst. Okay, er weiss auch nicht so recht, was er denn überhaupt hätte machen wollen, aber hätte er eine Idee gehabt, hätten wir ganz bestimmt nein gesagt. Wie immer, wenn er etwas will. Wenn aber die anderen fragen, sagen wir immer ja. Immer… Er schäumte vor lauter Wut und auch mir fiel es alles andere als leicht, die Fassung zu bewahren, vor allem, als er… Nein, das schreibe ich hier nicht, das ist privat und ich hätte es auch nicht geschätzt, wenn meine Mutter so etwas breitgeschlagen hätte.

So schnell, wie der grosse Zorn aufgezogen war, war er auch wieder verflogen. Bald konnten wir wieder ganz vernünftig miteinander reden und inzwischen bin ich froh, dass wir endlich unsere erste halbwegs heftige pubertätsbedingte Auseinandersetzung hatten, denn je länger sie ausbleibt, umso mehr fürchtet man sich vor ihr. Mir kommt es vor, als hätten sich die Auseinandersetzungen in der Trotzphase nach einem ganz ähnlichen Muster abgespielt, wenn auch damals mit weniger direkten Angriffen auf “Meinen” und mich. Die Trotzphase haben wir auch irgendwie überstanden, also werden wir auch das mit den Teenagerjahren irgendwie packen. Auch wenn er uns natürlich in ein paar Jahren – teilweise zu Recht – vorwerfen wird, mit den kleinen Geschwistern seien wir viel weniger streng gewesen als mit ihm.