Überleben, ohne zu ertrinken

Katharina Hartwell - Das Fremde Meer „Nachdem ich lange geschwommen und getaucht bin, kommt immer der Moment, in dem ich zurück an Land muss.“
Marie ist kein geduldiger Mensch. Jedes Warten wird ihr zu Qual. Sie zählt Stunden und Tage mit Strichen auf einer Wand und Kerben unter einem Stuhl. Marie ist ein Mädchen, das mit Brotmesser und Pfefferspray unter ihrem Bett schläft. Jemand, der mit Allem rechnet, nur nicht mit dem Besten. Und doch auch nicht mit dem Schlimmstes. Als Letzteres, das Unaussprechliche passiert, trifft es sie wie ein Schlag und als die Stille sie zu erdrücken scheint, beginnt sie zu erzählen. Sie füllt die Stille mit Geschichten.Sehr früh wird im Buch deutlich, dass es im Roman Das Fremde Meer aber nicht nur um Marie gehen soll, auch wenn Marie ganz bei sich selbst in ihrer Jugend, einer Zeit der Unbeschwertheit, beginnt. Die Autorin Katharina Hartwell lässt Marie die Geschichte einer großen Liebe erzählen, die Geschichte von Marie und Jan, die gleichzeitig die Geschichte einer großen Rettung ist. Eine Rettung durch das Erzählen.
Insgesamt schreibt die Erzählerin in zehn Heften zehn Kurzgeschichten, die zugleich unterschiedlicher und ähnlicher nicht sein könnten. Es beginnt mit einer Geschichte, in der aufgrund unerwarteter Nebenwirkungen der Teleportation vollständiger Quantenbilder aus der Nordstadt die Wechselstadt wird. Immobilien werden zu Mobilien, die ständig verschwinden und anderenorts wieder auftauchen. Eine unsichere Welt, in der morgen nichts mehr so ist wie heute. (Eine Assoziation am Rande: Die Nordstadt war bekannt für „ihre hohe Kriminalitätsrate und ein schal schmeckendes, dafür aber günstiges Bier (das Nordbier), welches heute nicht mehr gebraut wird.“ Wer im Nordosten Deutschlands lebt, denkt wohl möglich gleich an das Neubrandenburger Nordbräu.) Ein Science-Fiction-Geschichte, die von einem unbeteiligten Erzähler vermittelt wird.
Eine weitere Geschichte erzählt von der berühmten Salpêtriére, einer Heilanstalt für Hysterie-Kranke, in der Patientinnen in den Vorlesungen zu Lehrzwecken Demontrationsanfälle bekamen, die dann auch photographisch dokumentiert wurden und wo psychische Krankheiten mit Gürteln behandelt wurden, die ständigen Druck auf die inneren Organe ausübten, weil man dachte, so alles beisammen halten zu können. Eine historische Erzählung, in der quasi der flüchtenden Hauptfigur ihre eigene Geschichte angedichtet wird. „Alles was man weiß, ist, dass du nie wieder an diesem Ort zurückgekehrt bist.“
Die dritte Geschichte ist dann ein Märchen, das klassische Märchenelemente nutzt, aber auch mit ihnen spielt und sie durchaus sehr humorvoll bricht. Doch auch hier behält das Erzählen eine selbstverständliche Ernsthaftigkeit. Wer erzählt nicht in kühlen Zeiten gerne einen Witz, um das Eis zu brechen?
Das Märchenhafte ist ein Motiv, das sich durch sämtliche Erzählungen schleift. Bereits während ihres Studiums am Literaturinstitut in Leipzig musste sich Katharina Hartwell Kitschvorwürfe anhören, was vielleicht genau aus diesen Märchenelementen herrührt. Aber: Sind Märchen kitschig? Würde irgendjemand die Gebrüder Grimm als Kitschsammler bezeichnen?
Märchen sind deutlich und klar. Es gibt die Guten, die immer das Gute schlechthin sind, und es gibt immer die Bösen, die immer das Böse schlechthin sind.
Marie schreibt Geschichten, in denen sie das Böse immer nach außen verlagert. Geschichten, in den sie stets versucht zu verdrängen, dass das Böse in Jan selbst steckt.
Trotz der sehr unterschiedlichen Erzählweisen sind sich die Geschichten in ihrer groben Handlungskonstruktion sehr ähnlich und orientieren sich an der Geschichte von Marie und Jan. Wir haben, bis auf wenige Abweichungen, immer eine Protagonistin M(...), die tollkühn und mutig daherkommt und einen Protagonisten J(...), der zumeist kränklich und schwach auf seinen Untergang wartet. Dazu kommt P(...), der als helfende Hand bereit steht, um die Übergänge zu meistern, und natürlich das böse Wesen mit den dunklen tiefen Augen, gegen das es zu kämpfen gilt.
Marie kann gegen alles kämpfen – gegen Jäger, gegen wandelnde Häuser, gegen Lichtmangel, gegen böse Taucher. Aber doch nicht gegen ihren Jan. Ja, an manchen Stellen wirkt es ein wenig kitschig, aber es ist genau das, was Marie überleben lässt.
Im zehnten Abschnitt des Buches schafft es Marie schließlich, ohne Umschweife und Ausflüge in phantastische Welten das Unaussprechliche auf Papier zu bringen. Alle anderen Geschichten waren nur der befreiende und erkennende Weg, um die Wahrheit zu finden.
Die einzelnen Geschichten nur als Spiegelung der Rahmenerzählung zu verstehen, wäre aber auch eindeutig zu kurz gegriffen. Sie spiegeln sich alle ineinander. Marie schreibt, um sich anzunähern. Es wird eine Reihenfolge, eine Chronologie des Schreibens vermittelt, die eine Annäherung an das Unaussprechliche ist.
Zugegebenermaßen lädt der Roman eher dazu ein, die Parallelen zu Marie und Jan zu suchen, da ihre Geschichte als die zu erzählende Geschichte schon früh eingeführt wird. Aber die Parallelen, die Übergänge oder Veränderungen zwischen den Geschichten zu vergessen, bedeutete etwas Wichtiges zu übersehen. Rückblickend wird sehr deutlich, wie jeder Abschnitt neue Bilder für den überwältigenden Gefühlscocktail Maries malt.
Die Erzählperspektive wandelt sich von größtmöglicher Distanz zu größtmöglicher Nähe und mit ihr Maries Blick auf Jan. Zu Beginn zeichnet sie sich selbst als unruhige, aufgeregte, alles-kontrollieren-und-retten-wollende, junge Frau, um am Ende als ruhige, loslassende Erzählerin bei Jan anzukommen.
Zum Schluss wird eines ganz deutlich: Man kann sich auf so vieles vorbereiten, sich für alles wappnen, aber das Leben ist und bleibt ein unendlich fremdes Meer. Wir wissen, wie es auf dem Mond aussieht, aber nicht, wie in den Tiefen des Ozeans. „Und es ist eine Kunst, eine Herausforderung, eine unbedingte Notwendigkeit, jeden Tag und immer wieder aufs Neue nicht unterzugehen.“
Katharina Hartwell schreibt mit einer sehr klaren Sprache, die zwischendurch aber doch noch etwas holprig erscheint. Man wünscht sich oft einen Punkt an Stelle eines Kommas. An einigen Stellen bricht sie den Stil, unterbricht die Geschichte mit allgemeinen, reflektierenden Worten, deren Funktion unklar bleibt. Man wünscht ihr etwas mehr Vertrauen in ihre Geschichten. Man muss den LeserInnen nicht alles sagen, um sie alles wissen zu lassen. Die Geschichten und Bilder sind stärker, als die Autorin zu glauben scheint. Außerdem schleichen sich kleinere Unachtsamkeiten ein: Dann passiert es auch mal, dass eine Figur, die der Hintermann auf dem Fahrrad auf den Rücken geschnallt bekam, plötzlich zwischen ihnen hängt. Sitzt er jetzt plötzlich vorne? Nicht nur zentrales Motiv, sondern auch wichtiges Stilmittel in diesem Roman ist die Wiederholung. Sowohl auf der Ebene der Wortwahl, als auch in der Syntax finden sich zahlreiche Parallelkonstruktionen, die der Ernsthaftigkeit des Textes Nachdruck verleihen und geschickt die Aufmerksamkeit lenken.
Trotz der doch recht vielen kleinen Stolpereien lässt das Buch mich schwer beeindruckt zurück – beeindruckt von den kraftvollen Worten, mit denen Katharina Hartwell ihre LeserInnen mit ihren Figuren in ihren Geschichten ertrinken lässt, beeindruckt von der mutigen Konstruktion des Romans und der konsequenten und grandios ausgearbeiteten Verwebung dieses Textgeflechtes.
Für mich ein absolut überzeugendes Roman-Debüt, das noch viel erhoffen lässt. Eine Empfehlung für alle, denen der pure Realismus im Kampf mit der Wirklichkeit doch zu wenig ist.

Biographische Notiz:

Katharina Hartwell wurde 1984 in Köln geboren, studierte Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main und als interdisziplinäres Zusatzstudium Gender Studies. Anschließend absolvierte sie den Master am Literaturinstitut Leipzig.
2006 war sie Preisträgerin des Wettbewerbes Junges Literaturforum Hessen-Thüringen und 2009 Gewinnerin des MDR-Kurzgeschichtenpreises. Als Finalistin beim Open-Mike 2010 erhielt sie eine lobende Erwähnung.
2011 erschien ihr erster Kurzgeschichtenband „Im Eisluftballon“ im Poetenladen-Verlag.
2013 ist die Sylter Inselschreiberin.

Autor

Kristin Gora

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