Nach dem Abitur (1993) ging ich als Au Pair-Mädchen nach London und verlebte dort zehn anfangs anstrengende und fremdartige, später wunderschöne, glückliche Monate in einer tollen, unheimlich gastfreundlichen Familie, in denen ich erwachsen geworden bin. Ich habe mir in London unglaublich viel angeschaut und war oft am Wochenende unterwegs. Je nach finanzieller Lage bin ich auch in die Umgebung Londons gefahren und habe viele Städte Südenglands besucht. Wochenendtrips nach Edinburgh und nach Paris waren auch dabei, das meiste davon habe ich allein durchgezogen. Während die meisten anderen Au Pairs nur "Just-for-Fun"-Sprachkurse belegten, habe ich Kurse an einer renommierten Sprachschule absolviert und zwei Prüfungen abgelegt. Ich habe das Gefühl, dass ich diese Zeit wirklich in jeglicher Hinsicht intensiv genutzt habe und denke noch heute gern daran zurück.
Dann bin ich zum Studium zweier geisteswissenschaftlicher Fächer nach Berlin gegangen, dort mehrfach umgezogen, habe viel unternommen und an der Uni auch zusätzliche Kurse an fremden Instituten belegt. Auch in die zweite große Uni der Stadt habe ich reingeschnuppert. Ich habe ein Praktikum absolviert und bis über das Ende meines Studiums hinaus in einer Buchhandlung gearbeitet. Mein Studium hat zwar lange gedauert, aber ich habe immer gearbeitet und mich intensiv mit den Themen beschäftigt, die mich interessierten (davon ist leider nicht so viel übrig geblieben, aber es war mir ein Bedürfnis). Ich besuchte viele Museen und Ausstellungen, hörte Vorträge, ging ins Kino, entdeckte die Stadt und zog mich dann in mein kleines Refugium zurück. Im Jahr 1997 (mit 22) fuhr ich als Erfüllung eines Traums ganz allein für 2,5 Wochen nach Israel und streifte durch das Land. Eine aufregende, mit Kultur und Geschichte gespickte Zeit - und es ist alles gut gegangen. Liebend gern wäre ich später mal durch die anderen Länder des Nahen Ostens gereist, aber es hat sich leider nie ergeben, was ich jetzt sehr bedauere.
Ich war schon immer sehr reiselustig. Ein paar kleinere Reisen machte ich mit meinem damaligen Freund, der aber leider kein Reisefreund war. Auch mit meinen Eltern fuhr ich damals noch ab und zu weg. Im Jahr 1999 (ich war 25) bekniete ich meine Mutter, mit mir eine Reise durch's Baltikum bis nach Russland zu machen. Sie fuhr mit, wir machten das allerdings mit einer Reisegruppe. Es war eine superspannende Reise, auf der wir alle drei baltischen Staaten ausführlich besichtigten und am Ende in St. Petersburg ankamen, wo ich laut Familienüberlieferung entstanden bin;). Danach war ich aber immer wieder froh, allein in meiner Studentenbude zu sein und die viele Eindrücke zu verarbeiten.
Da ich in Litauen auf den Geschmack gekommen war und noch eine Feldforschung für mein Zweitfach Ethnologie absolvieren musste, entschied ich mich, über eine ethnische Minderheit Litauens zu forschen. Dafür verbrachte ich im Sommer 2000 (mit 26) fünf Wochen in Litauen, wohnte bei Freunden meiner Litauisch-Lehrerin aus Berlin, besuchte Bibliotheken und Archive und reiste in die Städte, wo noch Angehörige der Minderheit lebten. Danach erfolgte die Auswertung und das Verschriftlichen der Feldforschungsarbeit. Alles Erfahrungen, die nicht immer einfach waren, die ich aber keinesfalls missen möchte und mich sehr weitergebracht haben.
In der Zeit hatte ich auch meinen Mann kennengelernt, der ähnlich reisefreudig wie ich war und sogar schon Fernziele wie Australien und USA besucht hatte. Wir verreisten ab dann zusammen, besonders gern in den Mittelmeerraum, und machten jede Ausgrabungsstätte unsicher. Wir fuhren mit dem Auto 16 Stunden nach Italien und nach Südfrankreich, lebten im Urlaub so billig, wie es ging, und ich gönnte uns kaum einen Ruhetag. Ich weiß noch, wie wir völlig fertig aus einem zweiwöchigen Sizilien-Urlaub nach Hause kamen, weil wir jeden Tag Monsterausflüge gemacht hatten. Im Languedoc kraxelten wir auf drei Burgen am Tag hoch, was selbst meinem Mann zuviel war. Auf Rhodos, Kreta, Zypern, in der Südtürkei inspizierten wir bei Höllenhitze jede Ausgrabungsstätte. In Andalusien, auf Mallorca, Sardinien und Teneriffa saßen wir für lange Touren viel im Auto, sahen aber unglaublich viel. In Rom stiefelten wir durch jede Kirche und waren von früh bis spät unterwegs. Urlaube waren nicht zum Erholen, sondern zum Entdecken da, oft anstrengend, aber wir, zumindest ich, waren glücklich.
Nach Abschluss meines Studiums (2004) erfüllten mir meine Eltern einen großen Traum und ich konnte endlich die langersehnte Kaukasus-Reise antreten, die ich mir allein nicht hätte leisten können. So fuhren mein Mann und ich mit einer Reisegruppe für 2 Wochen durch Armenien und Georgien. Dem auf türkischem Gebiet befindlichen Berg Ararat von der armenischen Seite so nahe wie möglich zu kommen, durch den Hohen Kaukasus in Georgien zu fahren und die uralte, beeindruckende Kultur der Kaukasusvölker zu sehen, war eine unvergessliche Erfahrung. Das sind Erinnerungen, von denen ich noch heute zehre. Gern hätte ich auch noch eine Ostanatolien-Reise gemacht und an den Flanken des Berges Ararat gestanden. (Hätte ich das mal gemacht!)
Dazwischen machten wir viele kleinere Reisen, preiswerte Wochenendtrips und Pauschalreisen, wo wir meist nur am letzten Tag dem Strand einen obligatorischen Besuch abstatteten, weil es überall soviel zu sehen gab. Im Jahr 2007 reisten wir das erste Mal nach Gran Canaria, das wir beide lieben lernten, seitdem öfter besuchten und nach dem ich eigentlich - neben einer Kulturreise - die meiste Sehnsucht habe. Mit dem Großen waren wir einmal, Anfang 2013 (schwanger mit der Kleinen) auf Gran Canaria und das war wunderschön, wenn man vom Flug absieht. Natürlich konnten wir mit dem knapp 2-Jährigen kaum etwas von unseren früheren Ausflügen wiederholen. Ansonsten haben wir mit den Kindern keine weitere Flugreise gemacht, sondern uns nicht weiter als max. 2,5 Stunden im Auto von zuhause weg bewegen können.
Auch zuhause unternahmen wir vor den Kindern viel, machten oft Tagesausflüge in unsere Umgebung, Wochenendtrips, besuchten Eltern und Schwiegereltern. Wir waren aktiv und viel unterwegs. Schließlich konnten wir uns ja danach zuhause wieder ausruhen. Ich habe das wirklich genossen und hätte noch viele, sowohl nahe als auch ferne Reiseziele auf meiner Agenda gehabt. Das Reisen war ein Symbol meiner Interessen, die praktische Fortsetzung meines Studiums und damit ein Ausdruck meiner Persönlichkeit.
Vielleicht werden einige meiner Texte, die ja implizit immer wieder davon handeln, dass ich mein Leben vor den Kindern doch vermisse, durch diesen Bericht verständlicher. Dass es beileibe nicht nur ums Verreisen geht, sondern das nur ein, wenn auch charakteristischer Teil dessen ist, was mich ausgemacht hat (Kultur, Geschichte, Unternehmungen, Ruhe, Rückzug, Flexibilität etc.), wird sicher verständlich. Der Kontrast von so einem aktiven, interessierten Leben zu jetzt ist enorm. Ich merke leider auch, wie vieles in Vergessenheit gerät und das macht mich traurig. Ich weiß, dass das irgendwann wiederkommen kann. Aber ob ich dann noch derselbe Mensch bin und mich das alles noch berührt, ist die Frage. Jedenfalls habt ihr mich nun ein wenig näher kennengelernt und könnt vielleicht einiges besser nachempfinden.
Möglicherweise ist das Bloggen für mich der Versuch, meinen seit den Kindern ziemlich eingeschränkten Radius zu erweitern und nicht mehr körperlich, sondern vielmehr geistig zu reisen. Andere Auffassungen kennenzulernen, sich über Orte und Grenzen hinweg auszutauschen und dazuzulernen. Insofern hat das Reisen und Weltentdecken vielleicht mehr mit dem Blog und mir als Bloggerin zu tun, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Und deshalb habe ich es als Thema meines Beitrags zur Linkparty "Wer bin ich?" gewählt.
Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.Alexander von Humboldt