Meditation ist das Herz der gesamten buddhistischen Praxis. Aber was ist Meditation? Es ist nicht einfach das Denken an etwas anderes. Vielmehr ist es etwas, das wir machen, aber nicht nur mit unserem Geist, sondern auch mit unserer Körperhaltung und unserem Atem. Im Allgemeinen ist unsere gewöhnliche Verfassung im täglichen Leben ein Zustand der Zerstreutheit. Die Praxis der Meditation befähigt uns, durch das Beseitigen dieser Ablenkungen, uns auf die unmittelbare Erfahrung des Hier und Jetzt auszurichten.
Was ist der Zweck des Meditierens? Einfach gesagt ist es zu entdecken, wer wir wirklich sind. Wir wissen dies im gegenwärtigen Moment nicht, weil wir abgelenkt sind und unser Geist wie der Himmel von Wolken verschleiert ist. Da dies der Fall ist, sehen wir das Antlitz der Sonne nicht. Dieses Wissen darüber, wer wir wirklich sind, wird auch Gnosis genannt. Es ist die Kenntnis, die uns bildet. Es ist das Wissen darüber, wer wir wirklich sind, wo wir wirklich herkommen und wo wir wirklich hingehen. Dieses Wissen zu erkennen, ist der Zweck der buddhistischen Praxis. Es ist die Selbstkenntnis, die uns befreit.
Aber um dieses Wissen zu erlangen, müssen wir es in uns selbst suchen. Wir werden es nicht in Bücher beschrieben finden. Daher beginnen wir mit dem Entdecken unserer wahren Situation und Bedingung in unserem Leben hier und jetzt. Wir beginnen nicht mit irgendeiner alten Geschichte über die Schöpfung der Welt vor langer Zeit oder mit einer Vorstellung von einem überweltlichen Gott außerhalb von uns. Solche Vorstellungen sind nur Ideen unseres Geistes, aber keine Erfahrung. Stattdessen fangen wir bei unserer unmittelbaren Erfahrung in diesem gegenwärtigen Leben an, wo wir uns hier und jetzt in diesem Moment jetzt befinden.
Meditation stellt uns eine Methode bereit, wodurch wir Zugang zu unserem unmittelbaren Erleben finden. Warum brauchen wir das? Weil wir uns derzeit unserer direkten Erfahrung nicht wirklich gewahr sind. Und wir sind uns dessen nicht gewahr, weil wir abgelenkt und in diesem Moment nicht gegenwärtig sind. Und da wir zerstreut sind, sind wir nicht zentriert und verwurzelt. Normalerweise leben wir nicht in unserem direkten Erleben, sondern sind in unseren Gedankenkonstruktionen über Erfahrung und Wirklichkeit. Wir legen beständig unsere Wünsche und Vorstellungen über das, was wir eigentlich wahrnehmen. Und diese Gedanken und Konstrukte brauchen Zeit um sich auszubilden. Daher leben wir in der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart unseres unmittelbaren Erlebens, egal ob äußerlich oder innerlich. Aber durch Meditation können wir diesen gegenwärtigen Moment entdecken und Zugang zu ihm finden. Wir können entdecken, was unser direktes Erleben ist und entdecken, was das Zentrum unseres Wesens ist. Wir können Zugang zur Grundlage oder zur ursprünglichen Ebene unserer bewussten Erfahrung erlangen. Somit repräsentiert Meditation einen entscheidenden Teil des spirituellen Pfades und unserer persönlichen Entwicklung. Jedoch ist in buddhistischen Begriffen das letztendliche Ziel dieses Pfades nicht einfach nur Glück und die Erfüllung unserer Wünsche in diesem gegenwärtigen Leben, sondern Befreiung und Erleuchtung.
Aber was bedeutet das? Befreiung von was? Erleuchtung bezogen auf was? Befreiung bedeutet Freiheit vom Leiden, das wir innerhalb der zyklischen Existenz oder Samsara erfahren, das durch unsere Unwissenheit oder unseren Mangel an Selbstkenntnis entsteht, was uns unter den Einfluss unserer negativen selbstsüchtigen Emotionen führen. Erleuchtung heißt entdecken, wer wir wirklich sind, unsere angeborene Buddha-Natur. Sie stellt die vollständige Erkenntnis unseres spirituellen Potentials dar.
© Lama Vajranatha (John M. Reynolds); deutsche Übersetzung: Ngak’chang Rangdrol Dorje (2014)
Lama Vajranatha gibt vom 2. – 4. Mai 2014 im Ngakpa-Zentrum Lhündrub Chödzong Belehrungen zu Meditation und zur Natur des Geistes. („Tsig sum nedeg – Drei Worte, die den entscheidenden Punkt treffen“). >read more