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Von Lyrikzeitung

ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 492

Um 1900 galt Leo (Lev) Tolstoi als Weltguru des gewaltlosen Widerstands, eines urchristlich inspirierten Sozialismus, einer alternativen Pädagogik. Er war so gesehen die Inkarnation eines ökologischen Grolls gegen die alles überschwemmende industrielle Welt mit ihren auswuchernden Krebsgeschwüren. Damals bestaunte man diesen bärtigen Gesellen als radikalen Aussteiger mit Rauschebart und Bauernkluft »wie einen Sonnenaufgang aus dem Fenster eines Alpenhotels« (Victor Schklowski in seiner 1963 erschienenen Tolstoi-Biographie). Allerdings: Tolstoi war, bei aller Bewunderung, kein Bewunderungsgrund per se. »Ein höchst sittliches und zugleich unsympathisches Wesen, … eine Mischung aus Poet, Kalvinist, Fanatiker, Junker« ließ sich schon sein Schriftstellerkollege Iwan Turgenjew (1818 – 1883) vernehmen.

Aus Tolstois Lebensweg, der mit durchaus befremdlichen Widersprüchen gepflastert war, konnte schlussendlich kaum einer schlau werden. Aus seinen Büchern schon. Die sind in der Mehrzahl (ich verweise auf »Anna Karenina« und »Krieg und Frieden«) zweifellos große Weltliteratur und wir Leser schöpfen aus ihnen wie aus nie versiegenden Jungbrunnen. Sätze wie die folgenden sind mir bis heute wichtig geblieben: »Wer keine Liebe zu seinen Mitmenschen empfindet, … der soll sich zurückhalten; er mag sich mit seiner eigenen Person und allen möglichen Dingen beschäftigen, nur nicht mit anderen Menschen.« (aus Auferstehung)

Seine Tagebücher warten mit ganzen Lichterketten der Erhellung auf: »Nirgends ist Konservatismus so schädlich wie in der Kunst.« (1896)

»Dass die Regierung das Volk vertrete, ist eine Fiktion, eine Lüge.« (1898)

»Wie viel Mühe kostet die Niederschlagung und Verhütung von Aufständen: Geheimpolizei, andere Polizei, Spitzel, Gefängnisse, Verbannungen, Militär! Und wie leicht sind die Ursachen für Aufstände zu beseitigen.« (1901)

»Man sollte doch glauben, dass die Berührung mit der Natur, diesem unmittelbaren Ausdruck der Schönheit und Güte, alles Böse im menschlichen Herzen verschwinden lassen müsse.« (aus Krieg und Frieden)

In meiner Bücher-Sammlung finden sich die vier Bände »Krieg und Frieden« in der etwas nobleren, so genannten »Bonzenausgabe« in Halbleder mit echtem Goldschnitt, die der MALIK-Verlag 1928 in insgesamt 14 Einzelbänden herausgab.

Von der Kritik mit Recht in höchsten Tönen gelobt wurde allerdings die Gestaltung der Ausgabe in blauen Leinenbänden, die in den Händen des genialen Fotomonteurs John Heartfield lag. Er machte die »Normal-Ausgabe« zu einem bis heute faszinierenden Gesamtkunstwerk.

Übrigens ganz im Sinne Tolstois: »Wo Inhalt ist, fügen sich die Formen von selbst.“ (aus: Tagebücher 1896)

ARTus

Am 20. November 1910 starb Leo Tolstoi. Zeichnung: ARTus