“Über Gerechtigkeit” – ein Kurzessay

„Er sah die Menschen und er sah, daß sie sich an Illusionen festklammerten, an die sie schon lange nicht mehr glaubten.“ (Wolfgang Koeppen. Das Treibhaus. Roman. 1953)

ÜBER GERECHTIGKEIT
Kurzessay von Richard Albrecht

UnGerechtigkeit
Den revolutionären Poeten Georg Herwegh variierend, könnte erinnert werden: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Wer wollte sie nicht nehmen! Dem bundesdeutschen justizkritischen Juristen Egon Schneider gilt die Gerechtigkeitsfrage als „das Kernproblem aller Rechtswissenschaft, die diesen Namen verdient.“ In eigenen Notizen steht der Aphorismus: Einer der wichtigsten menschlichen Sinne ist der Gerechtigkeitssinn.
Ähnlich mag es der marxistische Soziologe und Historiker Eric Hobsbawm gesehen haben. Er formulierte in seinem letzten großen Interview (2009) diese beiden „noch etwas“-Schlußsätze: „Soweit ich weiß, gibt es keine Gesellschaft ohne den Begriff der Ungerechtigkeit. Und daher soll es auch keine Gesellschaft geben, in der man sich nicht gegen sie auflehnt.“

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Foto: © Lupo / pixelio.de


Gerechtigkeit als Schlüsselbegriff

Gerechtigkeit hat(te) für mich als moralischer Grundsatz und, im sozialphilosophischen Sinn, ethisches Prinzip bisher immer auch eine soziale Komponente. Diese bezieht sich mit der Forderung nach Gleichheit sowohl der gesellschaftlicher Bedingungen und Verhältnisse als Handlungsrahmen für menschliche Handlungen und/als Handlungen von Menschen wie auch auf rechtliche Gleichstellung von in einer Gesellschaft lebende Menschen als Individuen. Dieses gewiß weite, gesellschaftlich bezogene Verständnis von Gerechtigkeit geht auch in seiner Vermittlung von „Individuum“ und „Gesellschaft“ übers allgemein-etymologische Verständnis von Gerechtigkeit etwa des Etymologischen Wörterbuchs von Wolfgang Pfeifer (dtv 1995) hinaus, das sich vor allem aufs Recht als „den geltenden Rechtsnormen entsprechendes Handeln und Urteilen, Rechtsprechung, mit der Rechtspflege beauftragte Institutionen“ bezieht. Die Bindung von Recht an Gerechtigkeit im Deutschen und in Deutschland ergibt sich auch aus dem Deutschen Richtergesetz (DRiG § 38): „Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen […].“


Soziologisches Desinteresse
Der Schlüsselbegriff Gerechtigkeit wird seit Jahrzehnten gerade dort nicht diskutiert, wo am ehesten Interesse an Gerechtigkeit zu erwarten wäre: im Soziologie genannten zentralen sozialwissenschaftlichen Feld. Das dort vorherrschende Schweigen wirkt beredt: Begriff und Konzept von Gerechtigkeit beschweigen gemeinsam Hand- und Wörterbücher sowie Einführungen wie René Königs weiverbreitetes Lexikon Soziologie (Neuausgabe ²1967, zuletzt 1979 im 401.-405. Tausend), Hans Paul Bahrdts Schlüsselbegriffe der Soziologie (61994), Bernhard Schäfers Grundbegriffe der Soziologie (82003), ein frühes marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Soziologie (1969) und das von neue Marx-Engels-Lexikon (2006; 22013). Diese selektive Ignoranz oder Nichtwahrnehmung erstaunt auch insofern, weil mit Ralf Dahrendorfs geisteswissenschaftlicher Arbeit vom Gerechten und von Gerechtigkeit bei Karl Marx (1953) seit nunmehr sechzig Jahren vorliegt. Heute ist Gerechtigkeit ein soziologisches Anathema.

Psychologie, Politik & Politische Bildung
Auch beim (sozial)wissenschaftlichen Wissen gibt es den Vakuumseffekt: wenn nicht soziologisch, so ist die Gerechtigkeitsfrage alternativdisziplinär, etwa psychologisch und politikwissenschaftlich, von Interesse. In der Neuausgabe des zuerst 1971 erschienenen Lexikon der Psychologie finden sich drei Abschnitte zur Gerechtigkeit. Diese läge „unter psychologischem Aspekt […] nicht in den Dingen, sondern im Kopf des Menschen“: „subjektiv-individuell“ als „persönliches Gerichtetsein des einzelnen Menschen auf das Recht, das er erkennen und verwirklichen möchte“, „subjektiv-generell“ als in „Gruppen ständig wiederholter Versuch, eine rechtliche Ordnung zu finden.“ Folgend wird der auch hier gesetzte Zusammenhang Recht-Gerechtigkeit weiter ausgeführt mit Blick auf Rechtsanwendung und Gleichheitsprinzip einerseits und Herstellung von „Harmonie in den zwischenmenschlichen Ordnungen und Beziehungen“ andererseits.

Der Kurzeintrag im Politiklexikon (Dietz 2003) beginnt mit der als allgemeine Tugend angesehenen Gerechtigkeit, konkretisiert diese im speziellen als „zentralen Grundwert und oberstes Ziel des Rechtsstaates, das als Ordnungs- und Verteilungsprinzip immer wieder neu bestätigt und angewandt werden muss“, erwähnt Tauschgerechtigkeit und austeilende Gerechtigkeit und betont so herrschaftsbezogen wie begrifflich unscharf: „Traditionell gehört die Aufrechterhaltung einer gerechten Ordnung zu den Pflichten der Herrschenden bzw. kommt den Beherrschten bei Unrecht ein Widerstandsrecht zu.“

Die Bundeszentrale für Politische Bildung schließlich erklärt an zentraler Stelle nicht nur die nachhaltige Politisierung der Gerechtigkeitsfrage und daß „jede neue Regierung mit dem Versprechen antritt, für mehr ´soziale Gerechtigkeit´ zu sorgen“; sondern auch ihre eigene Hilflosigkeit im Gerechtigkeitsfeld: „Gerechtigkeit ist keine objektive, messbare Größe. Was gerecht ist und was nicht, liegt im Auge des Betrachters bzw. an Maßstäben, die er oder sie anlegt […] So haben auch die politischen Parteien divergierende Konzepte vom sozialer Gerechtigkeit und führen den Terminus zuweilen als ´Kampfbegriff´ ins Feld. Es ist kaum möglich, mit einer derart aufgeladenen Vokabel Politik sachlich zu bewerten.“ (Aus Politik und Zeitgeschichte 6.11.2009)

Theorien der Gerechtigkeit: Marx, Bloch & Rawls
Die gegenwärtig verbreitetste Gerechtigkeitstheorie dürfte die des US-amerikanischen politischen Philosophen John Rawls (1921-2002) sein. Rawls „egalitären Liberalismus“ verpflichtete Theory of Justice erschien 1971. Es präsentiert Gerechtigkeit als Tugend (virtue) und kritisiert den utilitaristischen Nützlichkeitsansatz, um diesen dann hütchenspielerhaft um eine aparte antiegalitäre Facette von Verteilungsgerechtigkeit zu bereichern. Ungleichverteilungen von Reichtum und Macht hält er dann für gerechtfertigt, wenn sie für allen Gesellschaftsmitgliedern nützten: „alle sozialen Werte […] sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht. Ungerechtigkeit besteht […] in Ungleichheiten, die nicht jedermann Nutzen bringen.“
Aus illusionärer Chancengleichheit wird nicht weniger illusionäre Chancengerechtigkeit.
Auch wenn es keine anerkannte marxistische Theorie der Gerechtigkeit gibt – einige ihrer Grundzüge sind unverkennbar: Ausgangspunkt ist der 1842 formulierte kategorische Imperativ des „frühen“ Marx („Von einem Rheinländer“). Das historische Ereignis: Versagung des bisherigen Gewohnheitsrechts der Armen, (Feuer-) Holz in den Wäldern schlagen zu dürfen, veranlaßte Marx sowohl zur Betonung dieses garantierten Rechts „der Armut in allen Ländern“, das „seiner Natur nach nur das Recht dieser untersten besitzlosen und elementarischen Masse sein kann“, als auch zur Rechtfertigung des Handlungsgrundsatzes, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ An diese naturrechtlich-klassenbezogene Sicht schloß Ernst Bloch an, indem er nicht nur jede herrschende Gerechtigkeit von oben kritisierte, sondern dieser kataskopischen Sicht seine anaskopische Perspektive einer alternativen Gerechtigkeit von unten entgegensetzte.

Lohngerechtigkeit
Wie bekannt, forderte die alte Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert gerechten Lohn. Und offensichtlich, so eine Zeitungsüberschrift aus Kiel zum 1. Mai 2013, nicht nur diese: Tausende bei Demo für gerechten Lohn. Gerechter Lohn (Denglish equal pay) ist auch in der neuen Bundesrepublik Deutschland heute eine Forderung, die sowohl von linken Gewerkschaftern als auch von progressiven Sozialwissenschaftlern wie Christoph Butterwege vertreten wird.
Die auf Vorstellungen vom „unverkürzten Arbeitsertrag“ (Ferdinand Lassalle) zurückgehende Forderung, die sich in der faschistischen Ideologie und Propaganda der Deutschen Arbeitsfront Mitte der 1930er Jahre wiederfand, ist nicht nur wirtschaftlich und politisch falsch. Sondern auch ideologisch und fiktiv: Friedrich Engels betonte schon zu Marx´ Lebezeiten in seiner Glosse Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk (1881), daß dieser „altehrwürdige“ Wahlspruch „fehl am Platze“ wäre und empfahl: „Begrabt darum den alten Wahlspruch für immer, und ersetzt ihn durch einen anderen: Besitzer der Arbeitsmittel – der Rohstoffe, Fabriken und Maschinen – soll das arbeitende Volk selbst sein.“
So gesehen, kann nicht oft genug im speziellen Zusammenhang mit der Gerechtigkeitsfrage auf Marx´ Kritik des „Gothaer“ Programm(entwurf)s (1875) verwiesen wie allgemein an Grundlagen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses erinnert werden: an den auch in jeder noch so sozialen Marktwirtschaft aus Mehrarbeit und Mehrwert geschaffenen Profit, aus dem Kapital als „sich selbst verwertender Wert, Wert, der Wert gebiert“ (Marx), entsteht.

Die Illusion vom Äquivalententausch
Was die Gerechtigkeitsfrage in der Gegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrifft, so geht es entsprechend des weltweiten Status in dieser finanzkapitalistisch bestimmten Neuen Einen Welt zwischen nicht mehr als „Sozialismus“ ohne eigenes Rechtssystem existierender und noch nicht als „Islamismus“ mit eigenem Rechtssystemgeschaffener globaler Bipolarität vor allem um eine formationsspezifische Gerechtigkeit oder Gerechtigkeit im Kapitalismus als kapitalistische Gerechtigkeit auf Grundlage des Scheins von Gleichheit in den (Austausch) Beziehungen zwischen Menschen und sozialen Gruppen.

Methodisch bedeutet Formationsspezifik immer Abwendung vom übergeschichtlich Allgemeinen als (in der Gerechtigkeitsfrage seit Aristoteles) überzeitlich-universell Geltendem und anthropologisch Behauptetem zugunsten systematisch-kritischer Analyse historisch-konkreter Besonderheiten. Auch im entwickelten, finanzökonomisch bestimmten, Spätkapitalismus („Banksterismus“) gilt die abstrakt gesetzte Austauschgleichheit der kapitalistisch bestimmten bürgerlichen Gesellschaft. Auf Grundlage materieller Ungleichheiten der Menschen(gruppen) werden, um Vertragsfreiheit und Austauschgerechtigkeit als gesellschaftliches Leitphänomen zu behaupten, empirisch Ungleiche unter der Hand zu formell Gleichen erklärt. Ungerechtigkeiten kann es dieser Systematik zufolge nur noch in formellen Verstößen gegen die aus der bürgerlich-kapitalistischen Gerechtigkeit folgende Rechtsordnung geben: etwa als Gewaltakte, Raub, Betrug, Schwindel, Sklaverei und sonstige (so Marx) „verunreinigte“ Momente entwickelter kapitalistischer Produktionsweise.
Die ungleiche Verteilung der Arbeitsmittel im Kapitalismus: Rohstoffe, Fabriken und Maschinen hingegen gilt als grundlegend gerecht und rechtens. Daraus folgt die der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsform eigene und besondere strukturelle Ungleichheit und ihre Rechtfertigung. Die Illusion von Freiheit und Gerechtigkeit gründet in der vom Äquivalententausch als einer der zentralen Lebenslügen jeder bürgerlichen Gesellschaft, genauer: der „Pseudo-Äquivalenz im Tauschverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital“ (Hartmut Krauss).

Umfairteilen
Die aktuell-griffige Politlosung Umfairteilen transportiert nichts Anderes als menschlich-verständliche wie abstrakt-allgemeine (fälschlich Kultur des Teilens genannte) Appelle an freiwillige Sachabgaben nach dem Muster des Heiligen Martin, der seinen Mantel teilt, von Besitzenden an Nichtbesitzende, Habende an Nichthabende. Diese der deutschen Ideologie entsprechende Haltung nannte Marx moralisierende Kritik und kritisierende Moral.

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Lesen Sie auch:

Bewegungen für mehr Gerechtigkeit gab es bereits im Mittelalter:
Vor 500 Jahren – Die Bundschuh-Bewegung

..und vor 300 Jahren: Rousseau – Die Idee einer transparenten Demokratie

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Quellen – weiterführende Links

Foto: © Lupo / pixelio.de
Dr. Richard Albrecht lebt als freier Sozialwissenschaftsjournalist in Bad Münstereifel. Letzte Buchveröffentlichung HELDENTOD. Kurze Texte aus langen Jahren (Aachen: Shaker, 2011). Bio-Bibliographie 


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