Über eine Reise in das unverfälschte Sibirien (2/2)

„tscheburaschka“, die Arme,  knatterte und schnaufte. Im Lauftempo stoben wir über die mit Schnee und Eis bedeckte Schotterpiste. Tolja grinste. Wir lachten.

Eineinhalb Stunden später. Wir waren schon eine Zeit lang durch die russische Taiga gestapft; Bäume über Bäume sah ich – und Kahlschlag. Holzfällertrupps schlachten den sibirischen Urwald aus, Tag für Tag, Monat für Monat. Und verhökern das wertvolle Gut für wenige Kopeken nach China. Ihr blute das Herz wenn sie das sehe, sagte mir Lenas Mutter Irina.

Gegen Abend erreichten wir schließlich unser Ziel: eine Holzhütte, im Russischen „simow’je“ (Winterhütte) genannt. Tolja, der mit der „tscheburaschka“ unser Gepäck und den Proviant zur Hütte transportiert hatte, war schon dabei, ein Feuer an der Kochstelle zu entfachen. Bis heute ist es mir unklar, wie er es schaffte, den grünen Jeep über die metertief zerfurchten Waldwege und über kaputte Brücken bis zur Hütte zu bringen. Chapeau.

Das zweite Mal den Hut zog ich vor den Kochkünsten, die Tolja, Schenja und Lena an den sibirischen Abend legten. Über einem offenen Feuer vor der Hütte bereiteten sie die traditionelle russische Rote-Beete-Suppe mit Fleischeinlage zu: „borschtsch“. Sie schmeckte vorzüglich. Der Wodka übrigens auch.

Und so neigte sich der Tag seinem Ende zu. Eine Weile stand ich draußen auf der Lichtung und schaute in den sibirischen Nachthimmel. Der Halbmond und die Sterne schimmerten schüchtern durch die flachen Wolken. Es war nichts zu hören, gar nichts. Kein Zwitschern, kein Rascheln. Stille. Nur die Bäume knarrten monoton im leichten Wind.

Nach einer recht zugigen Nacht auf einem Mantel aus Pelzimitat als Matratze und einem – so wie ich es nenne – sibirischen Holzfällerfrühstück (woraus es bestand, ist einigermaßen einfach zu erraten) trotteten wir im Gänsemarsch los. Toljas Kalaschnikow und Schenjas Schrotflinte schwankten im Gleichschritt. Ich wähnte mich in Schutz vor jeglichen Raubtieren. Dass ich jedoch mit anderen vermeintlich harmlosen Naturerscheinungen und mit dem, was mich eigentlich beschützen sollte, noch in Konflikt geraten würde, ahnte ich nicht.

Wir gelangten schließlich auf eine weite, baumlose Ebene. Das Heu, das im Sommer geerntet wurde, wartete zu meterhohen Büscheln gebunden darauf, von den Bauern abgeholt zu werden. „Das dort ist unser Heu“, sagte Tolja und zeigte mit einer Kopfbewegung auf einen Höcker links von uns. Einige hundert Meter weiter erreichten wir eine kleine Holzhütte am Ufer eines kleinen zugefrorenen Flusses. „Hält das Eis?“, fragte ich. „Ich glaube schon“, antwortete mir Schenja. Einen Augenblick später standen schon die Ersten auf dem Eis. Es hielt. Es hielt auch mich. Und Schenja. Nicht wirklich einverstanden war es aber mit der Spitzhacke, die letzterer in das Eis rammte, um die Festigkeit zu überprüfen.

Ein dumpfes Geräusch berstenden Eises war zu hören. Durch die Mitte des Flusses zog sich ein Riss, der sich mit Wasser füllte. Einige schrien, ich schlitterte gen Ufer und versuchte, mich an den Grasbüscheln den Hang hochzuziehen – rutschte aber immer wieder aus. Beim dritten Versuch vernahm ich ein schon vertrautes Geräusch. Und stand bis zum linken Knie im eiskalten Wasser.

Einige Minuten später, das linke Hosenbein und der linke Schuh frisch gefroren, stand ich grinsend 60 Meter von der Hütte entfernt und sah zu, wie Tolja seine selbst gebastelte Zielscheibe neben der Hüttentür durch das Zielfernrohr seiner Kalaschnikow anvisierte, tief einatmete und abdrückte. Er traf. „So Fritz, dawaj, du bist dran!“, sagte er auffordernd und hielt mir die Waffe entgegen.

Ich kniete nieder, stützte meinen linken Unterarm auf einen Holzscheit ab, peilte durch das Fadenkreuz die Zielscheibe an, atmete tief ein und drückte ab. „Peng!“. Mit einem triumphierenden Lächeln und männlichem Stolz erhob ich mich. Ich spürte einen schwachen Schmerz auf der Stirn. „Fritz, was hast du da?“, sagte die Österreicherin und zeigte auf meine Stirn. „Was“?, fragte ich und wischte mit der Hand über mein Gesicht. Sie war rot. Dass der Rückstoß einer Kalaschnikow bei Weitem mehr beträgt, als die paar Zentimeter zwischen meinem Gesicht und dem Zielfernrohr, das hatte ich nicht bedacht. Getroffen habe ich übrigens in die Mitte. Die Narbe wird mich noch lange daran erinnern.

Einige Stunden später beugte ich mich über einen dampfenden Teller mit selbstgemachten „pel’meny“ (russische Tortelloni) und stürzte den von Irina als „Medizin“ bezeichneten „samogon“ um der Völkerfreundschaft willen mit zugekniffenen Augen herunter. Anschließend wartete noch ein ganzer Berg an „bliny“ (russische Pfannkuchen) darauf, verspeist zu werden.

Kurz darauf ließen wir Sulumaj hinter uns. Zugegebenermaßen mit Wehmut. Es waren einmalige 48 Stunden und – das wage ich zu behaupten – die besten seit meiner Ankunft in Irkutsk. Dass es auf der Welt nur mehr wenige Orte gibt, an denen man mit einer solchen Herzlichkeit und Neugier aufgenommen wird, zu dieser Erkenntnis bin ich während meines Aufenthaltes in Sibirien schon gekommen. Das erfreut mich; gleichzeitig regt es zum Nachdenken an. Stimmt’s?



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