Da sprach der Ski-aficionado aus mir, als ich im letzten Beitrag das vorige Wochenende mit den Freuden eines langgezogenen Tiefschneeschwungs verglich. Es ist zugegebenermaßen ein Sakrileg, letzteres mit irgend etwas zu messen. Dennoch: es war einzigartig. Nun aber der Reihe nach.
Das russische Verständnis von Distanz ist schon einzigartig, dachte ich mir. Mitten unter geschätzten tausend anderen Reisenden stand ich in einer Halle des Irkutjaner Hauptbahnhofs. Bewegen konnte ich mich nicht. Dies tat meiner Freude über das bevorstehende Wochenende keinen Abbruch. Einerseits bin ich die „russische Nähe“ schon gewohnt (und wende sie, wie ich jüngst bemerkt habe, selbst schon aktiv an), andererseits (und Gott sei Dank) gehört Platzangst nicht zu meinem Urangst-Repertoire. Ich wartete also geduldig und einigermaßen entspannt auf die elektritschka (S-Bahn), die den Deutschen, die Österreicherin und den Österreicher, die Französin, mich (den Italiener) und Lena, die Russin, nach Sima bringen sollte (bei der Bezeichnung von Personen bleibe ich bei meinem schon bekannten Stil). Dort, in Sima, einer Stadt rund 260 Kilometer nordwestlich von Irkutsk sollten uns Lenas Vater und einer ihrer Bekannten mit zwei Autos abholen und in ihr Heimatdorf bringen.
Ich stand also mit meinen Reisegefährten in der Menschentraube vor der Anzeigetafel und wartete wie alle anderen auf die Bekanntgabe des Bahnsteigs, auf dem die elektritschka einfahren sollte. Unsere „Startposition“, um so schnell als möglich durch die Unterführung zu den Bahnsteigen zu gelangen, war günstig; wir heckten schon verschiedene Schlachtpläne aus. Und warteten gespannt auf die Lautsprecherdurchsage. Fünf Minuten vor Ankunft des Zuges schallte es durch die Halle: „Der Zug nach Sima fährt auf Gleis 1 ein!“
Augenblicklich setzte sich die Masse in Bewegung. Das Kollektiv drängte gleichzeitig in eine Richtung – und zwar in eine gänzlich andere, als erwartet. „Wir müssen raus, wir müssen raus!“, vernahm ich durch den Lärm. Ich wurde rückwärts in Richtung Ausgang gedrückt, spürte, wie sich anfühlt, wenn hunderte Menschen gegen den Brustkorb und denselben gegen den Türpfosten drücken. Ich nahm es mit Humor und schrie mit.
Gleis 1 lag direkt hinter dem Bahnhofsgebäude und war durch die Unterführung nicht zu erreichen. Wir strömten folglich zusammen mit all den anderen auf einen Sitzplatz Hoffenden von Bahnhofsvorplatz in Richtung Bahnsteig. Dort angekommen, durfte ich wieder meiner mittlerweile zur alltäglichen Beschäftigung aufgestiegenen Tätigkeit frönen: warten.
Als der Zug dann schließlich einfuhr, wiederholten sich die Szenen, die sich zehn Minuten zuvor abgespielt hatten: drücken und gedrückt werden, sich recken, schreien und lachen, um dann schließlich gezielt einen Fuß auf die erste Treppe des Waggons zu setzen und sich in denselben zu wuchten. Betagtere Damen legten dabei einen besonderen Willen zu Tage. Das jahrzehntelange Training bis 1990 war also doch nicht umsonst, dachte ich mir.
Einen Sitzplatz konnte ich trotz massiven Körpereinsatzes nicht ergattern. Die folgenden zwei Stunden verbrachte ich stehend. Und hatte Zeit, das Geschehen in meinem Waggon näher zu beobachten: von Verkäuferinnen, die neben Essen und Getränken auch Magazine mit einschlägigem Inhalt an den Mann zu bringen versuchten über schlafende noch komplett mit Pelzmantel und -mütze bekleidete babuschki bis hin zu sich betrinkenden Halbwüchsigen – zu sehen gab es viel.
Nach fünf Stunden Fahrt (die letzten drei Stunden glücklicherweise sitzend) kamen wir schließlich in Sima an. Die Stadt, deren Bezeichnung übrigens „Winter“ bedeutet, machte ihrem Namen alle Ehre und erwartete uns mit knackiger Kälte. Von Lenas Vater und ihrem Bekannten wurden wir aber mehr als herzlich in Empfang genommen. Wir teilten uns auf beide Autos, einem original-russischen Lada und einem importierten japanischen Toyota auf und machten uns auf den Weg nach Sulumaj, Lenas Heimatdorf. 80 Kilometer oder knapp zwei Stunden Fahrt auf teils großteils ungeteerten Straßen standen uns bevor. Ich hatte das Glück, mich in den Lada zwängen zu dürfen und amüsierte mich großartig. Wirklich. Abgesehen davon, dass ich vom Fahrkomfort und der Motorleistung des als Schrottkiste abgestempelten Ladas positiv überrascht war, unterhielt mich die Eloquenz von Lenas Vater Tolja und dessen Begleiterin Walja, einer guten Freundin von Lenas Mutter Irina (ich entschuldige mich für die vielen Namen).
In Sulumaj angekommen, erwartete uns Lenas Mutter mit einem „pir goroj“, einem Festmahl, das man – so glaube ich – als Fremder nur in Sibirien vor die Nase gesetzt bekommt. Wir aßen und aßen, unterhielten uns, lachten und scherzten. Der „samogon“ (selbst gebrannter Schnaps), den Lenas Vater unaufhaltsam in sämtliche leeren Gläser füllte, war der guten Stimmung auch nicht abträglich. Am frühen Morgen und nach etlichen Saunagängen in einer echten russischen banja (mit dem obligatorischen Birkenruten-Auspeitschen) fanden wir den Weg ins Bett.
Viele Stunden Schlaf waren uns nicht vergönnt. Nach einem Frühstück mit selbstgemachten „wareniki“ (Teigtaschen mit Kartoffel- oder Quarkfüllung) und einem kurzen Zwischenstop in der Dorfschule, wo Lenas Mutter Irina als Lehrerin arbeitet, machten wir uns zusammen mit Tolja und Schenja, Lenas Bekanntem, auf dem Weg in die Taiga. Die ersten paar Kilometer sollten wir dabei mit dem Auto zurücklegen; wobei die Bezeichnung „Auto“ für das Gefährt, mit dem wir unterwegs waren, nicht gänzlich zutrifft. „tscheburaschka“ wird dieser grüne, ur-russische Jeep mit abnehmbarem Verdeck liebevoll genannt: sind die beiden Türen geöffnet, ähnelt das Vehikel nämlich der russischen Märchenfigur mit den überdimensionalen Ohren. Wir zwängten uns also zu acht (!) in die „tscheburaschka“ und fuhren los. Unser Ziel: eine Hütte mitten im Wald, in der wir übernachten wollten. (Teil 2 folgt)